Kapitel 53

Freitag, 22. November

Kristin lag auf der Seite und musterte Tony Isdahls nackten Körper. Seine Augen waren geschlossen, doch die Hand, mit der er ihren Oberschenkel streichelte, verriet, dass er nicht schlief.

Obwohl kein Risiko bestand, dass ihr Lebensgefährte jetzt nach Hause kam, stellte Kristin sich genau dies vor. Was würde er wohl sagen oder eventuell tun? Ein solcher Moment wäre vermutlich der beste, um das Ganze zu beenden. Das wäre sicher brutal und hässlich, aber sie wollte lieber das Pflaster mit einem Ruck abreißen, anstatt sich hinzusetzen und ein Gespräch zu führen, das vermutlich mehrere Tage dauern würde. Denn als sie am Morgen im Quality Hotel wach geworden war, hatte sie beschlossen, ihn zu verlassen. Nicht weil sie sich Hals über Kopf in den Mann verliebt hatte, der neben ihr lag, sondern weil es da draußen tatsächlich solche Männer wie ihn gab. Das war es, was sie brauchte. Was er ihr zweimal am Abend zuvor gegeben hatte, einmal am Morgen und dann eben hier in ihrem eigenen Bett noch ein weiteres Mal.

»Du bist so still«, sagte Tony, ohne die Augen zu öffnen. »War ich zu brutal?«

»Nein …« Sie fuhr mit einem Finger über seine muskulöse Brust. »Du warst gut.«

»Und woran denkst du?«

»An nichts Besonderes.«

»Schlechtes Gewissen?«

»Nein. Oder … Vielleicht habe ich ein etwas schlechtes Gewissen, weil ich kein schlechtes Gewissen habe … falls das jetzt irgendwie Sinn ergibt. Und außerdem muss ich genau überlegen, bevor ich etwas sage.«

»Wieso das?«

»Damit ich kein dummes Zeug von mir gebe.« Sie zwickte ihn leicht in die Brustwarze. »Ich will ja nicht, dass du gleich den Stecker ziehst.«

Er lachte trocken. Kristins Handy klingelte auf dem Fußboden. Sie streckte sich danach und hob es auf. Die Nummer war nicht gespeichert, und Kristin musste ein paar Sekunden nachdenken, bis ihr einfiel, zu wem sie gehörte. Sie griff nach dem Handy und stieg aus dem Bett.

»Ich muss da rangehen.«

Sie griff nach ihrem T-Shirt auf dem Boden.

»Nicht«, sagte er.

»Nicht was?«

»Wenn du mich schon verlässt, will ich, dass du nackt bist.«

Kristin lächelte verlegen, warf ihm das T-Shirt ins Gesicht und sagte: »Jetzt siehst du gar nichts mehr.«

Sie machte einen Quantensprung aus dem Zimmer, nahm den Anruf entgegen und trat ins Wohnzimmer. Sie konnte den Widerschein ihres Spiegelbilds im Fenster erahnen, während sie der bassähnlichen Stimme lauschte. Die Stadt unter ihr steuerte auf den Feierabend zu. Sie sah Autos und Lastwagen auf dem Weg in den weit geöffneten Schlund der Bastø-Fosen-Fähre unten am Kai. Das Licht aus unzähligen Fenstern und die Straßenbeleuchtung unten in der Stadt verschwammen hinter dem Fensterglas, während Kristin zuhörte und ihren Gedanken freien Lauf ließ. Eine halbe Minute nachdem Lars Weberg zu Ende geredet hatte, stand sie immer noch da und hielt sich das Handy ans Ohr.

»Wer war das?«

Kristin zuckte zusammen und drehte sich um. Tony stand nackt an der Tür zum Wohnzimmer und lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand. Das Licht aus dem Flur erhellte sein halbes Gesicht. Da war er wieder, dieser Mitten-beim-dritten-Schnaps-und-ich-will-dich-Blick, den er ihr schon über die Fischtheke hinweg zugeworfen hatte. Das war verflucht noch mal kaum mehr als sechzig Stunden her, dachte Kristin, und jetzt stand er da. In ihrer Wohnung. Der Wohnung, die sie mit ihrem Freund teilte. Sie musste vollkommen verrückt sein.

Die Bastø-Fosen-Fähre hatte vom Kai abgelegt und befand sich auf dem Weg in die Dunkelheit über dem Fjord.

»Was Vertrauliches, vielleicht?«

»Nein, das war ein Kollege.«

Er stellte sich hinter sie, legte das Kinn auf ihre Schulter, die Arme um den Leib und zog sie fest an sich. Sie spürte seinen schlaffen Schwanz an ihrem Hintern, während er ihren Hals küsste.

»Du wirkst so abwesend …« Er drehte sie herum, legte ihr die Hände auf die Wangen und starrte sie an, als ob er zu lesen versuchte, was in ihrem Kopf vorging. »Waren das schlechte Nachrichten?«

»Ich fürchte es, leider.«

»Aha?« Er legte den Kopf schräg. »Was denn für welche?«

»Ich kann nicht darüber reden, Tony.«

»Du …« Er blickte sie betörend an. »Aber wem sollte ich das schon weitererzählen?« Er nahm seine Hände von ihrem Körper.

»Möchtest du, dass ich gehe?«, fragte er nach einer Weile.

»Nein, ich will, dass du bleibst.« Sie zwang sich zu einem Lächeln und ergriff seine Hand. »Aber ich muss morgen früh um sieben in der Polizeistation Grålum sein.«

»Du weißt, dass morgen Samstag ist?«

»Ja«, erwiderte Kristin. »Aber das wird alles andere als ein normaler Samstag.«