Samstag, 23. November
Hewar blickte in den Himmel, der bald die Farbe wechseln würde. Er ließ das Taxifenster zwei Zentimeter herunter, spürte die kühle Morgenluft und lauschte der wahrscheinlich schweigsamsten Hauptstadt der Welt. Nichts anderes als die ferne Sirene eines Einsatzfahrzeugs war zu hören. Er schaltete das Radio ein. Werbung. Er reduzierte die Lautstärke und sah auf die Uhr am Armaturenbrett. 08:47. Noch dreizehn Minuten, dann war die Stunde zwischen acht und neun vorüber. An Wochentagen war dies die geschäftigste Stunde. An den Wochenenden: tote Hose. Die meisten Partys waren vorbei, und Herr und Frau Durchschnittsmensch waren kaum aus dem Bett gekommen. Weil Herr und Frau Durchschnittsmensch samstags nicht zur Arbeit gingen. So viel hatte er nach fast vierzig Jahren in diesem Land begriffen. Letzte Woche hatte er in einer Zeitung gelesen, dass Herr und Frau Durchschnittsmensch am liebsten auch freitags zu Hause bleiben würden.
Hewar spähte in den Seitenspiegel. Er konnte sehen, wie der Kollege hinter ihm aus seinem Taxi stieg und sich eine Zigarette anzündete. 08:48. In genau zwei Minuten würde er das kreischende Geräusch eines bremsenden Zuges von einem der Gleise am Osloer Hauptbahnhof hören. Er hoffte auf eine weite Fahrt. Eine weite Fahrt mit einer so netten Unterhaltung, dass der Fahrgast ihm ein ordentliches Trinkgeld geben würde. Vielleicht fände der Fahrgast die Unterhaltung sogar so angenehm, dass er Hewar bitten würde, einen kleinen Umweg zu machen, um sie fortsetzen zu können. Das hatte er schon erlebt. Nicht oft, aber es war vorgekommen. Hewar hatte so viel Spaß daran, sich zu unterhalten, dass manche seiner Fahrgäste meinten, er habe zu viel Spaß daran.
Von den Gleisen drüben heulte es. Er sah wieder in den Spiegel. Der Kollege trat die Kippe aus und setzte sich zurück in den Wagen. Hewar ließ das Fenster hochfahren. Es dauerte nicht lange, bis er eine Gestalt näher kommen sah. Er richtete sich in seinem Sitz auf und beobachtete die Person im Spiegel. Doch, ja. Der Mann bewegte sich auf das erste Taxi in der Warteschlange zu. Hewar drehte den Zündschlüssel um. Endlich. Die erste Fahrt seit einer Stunde.
Die hintere Tür wurde geöffnet. Hewar drehte sich um und sah den Fahrgast an. Die Augen wirkten glanzlos, aber nicht so, als käme er direkt aus dem Schlafwagen. Der ist auf Drogen, dachte Hewar. Er war nicht der erste. Der erste heute, aber der vierte in dieser Woche.
Sobald die hintere Tür geschlossen wurde, nahm Hewar einen prüfenden tiefen Atemzug durch die Nase. Solche Typen rochen in der Regel nicht gerade nach Mandeln und Honig, sondern eher nach dicken Schichten von altem Schweiß, die von einer neuen Schicht zum Leben erweckt wurden und somit einen Geruch freisetzten, der sich kaum mit etwas anderem vergleichen ließ. Aber davon merkte Hewar bei diesem Typen überhaupt nichts. Alles war ganz natürlich. Jedenfalls überdeckte ganz natürlich anscheinend das meiste, was seit einer Weile nicht mit Wasser und Seife in Berührung gekommen war. Dieser Typ roch nach nichts. Oder doch. Er roch wie frisch gewaschen, und jetzt sah Hewar, dass auch seine Sachen völlig sauber waren.
Kein Grund also, eine Vorauszahlung einzufordern oder ihn zu fragen, ob er für die Fahrt auch aufkommen könnte.
»Guten Morgen«, sagte Hewar in einem so flüssigen und guten Norwegisch, dass er, wenn nicht sein Name und die Hautfarbe gewesen wären, wie jemand gewirkt hätte, der in Norwegen gezeugt und geboren worden war.
»Wohin möchten Sie?«
»Vinderen.«
Die Stimme des Fahrgasts klang rau, als ob er heute zum ersten Mal den Mund aufmachte. Hewar legte einen Gang ein und gab Gas. Er wendete, fuhr vom Taxistand los und hielt auf die Operagate zu. Im Rückspiegel sah er, dass der Fahrgast den Kopf zurücklegte und den Autohimmel anstarrte, ehe er die Augen schloss.
»Alles in Ordnung?«, fragte Hewar.
Der Fahrgast nickte.
»Wohnen Sie da oben in Vinderen, oder …?«
»Nein.«
Okay, okay, dachte Hewar. Der Typ war anscheinend nicht besonders redselig. In Ordnung. Er würde die Worte nicht aus ihm herauszwingen. Wenn er nicht mit dem Zug gekommen wäre, hätte Hewar vermutet, dass er letzte Nacht zu lange Party gemacht und womöglich etwas getan hatte, was er nicht hätte tun sollen. Dass er deshalb mit zurückgelegtem Kopf und geschlossenen Augen auf der Rückbank saß und darüber nachgrübelte, was er, wenn er morgens um neun auf der Türschwelle stand, zu seiner Frau sagen sollte. Hewar hatte das schon viele Male erlebt. Männer und Frauen, die er nach Hause gefahren hatte. Und Ehefrauen oder Ehemänner, die ausrasteten, bis ihre einstmals bessere Hälfte endlich dazu kam, ihn zu bezahlen. Hewar sah wieder in den Rückspiegel. Nein, dachte er, wenn der Typ nach Hause zu seiner Frau wollte, dann würde er hier oben wohnen.
»Wenn wir näher kommen, sagen Sie mir Bescheid, wohin ich fahren soll?«
Im Radio wurde ein Stück gespielt, das er mochte, und eigentlich kannte er den Namen der Band und des Stücks, aber in seinem Kopf stand gerade alles still. Alles stand um diese Tageszeit still. Er drehte die Lautstärke höher, trommelte den Takt mit den Fingern auf seine Hose und vergewisserte sich, dass im Spiegel kein protestierender Blick auftauchte. Nichts, der Fahrgast schien die Musik überhaupt nicht mitzubekommen. Hewar wagte es, den Lautstärkeregler noch ein bisschen weiter nach rechts zu drehen. Er warf einen erneuten Blick in den Spiegel. Noch immer keine Reaktion. Aber weiter wollte er sein Glück nicht auf die Probe stellen.
Sie fuhren durchs Stadtzentrum. Das Taxi rollte am Bislett-Stadion vorbei, entlang der altehrwürdigen Mietshäuser in Fagerborg und weiter durch Marienlyst. Durch das Fenster konnte er die Wärme der Sonne spüren, die sich tief am Horizont über dem Hauptsitz des NRK erhob. Die Musik ging in Werbung über, und Hewar stellte den Ton ab.
»Jetzt kriecht sie langsam hoch«, sagte er. »Die Sonne. Das wird heute ein schöner Tag.«
Sie blickten gleichzeitig in den Rückspiegel. Erst in diesem Moment, als die Sonne den Mann direkt erfasste, fielen Hewar die dunklen Ringe um seine müden Augen auf. Und im Blick des Mannes lag die Antwort: Es würde kein schöner Tag werden.