Volda, 1999, Tag 75
Als sie gemeinsam zur Heimvolkshochschule Møre gekommen waren, hatte er sich ganz selbstverständlich neben Trine an den Tisch gesetzt. Die Gruppenleiterin hatte das Treffen schon vor einer Weile eröffnet und gesagt, dass auch an diesem Tag alle wieder zu Wort kommen könnten, doch daran zweifelte er. Aud hatte nämlich schon vor fast einer halben Stunde das Wort ergriffen und redete über ihren Sohn Levi. Die anderen schienen es nicht zum ersten Mal zu hören. Sie lauschten zwar, wirkten aber nicht sonderlich interessiert.
Er hatte den Bus nach Ørsta gerade noch erwischt, hatte von seiner Arbeitsstelle sogar rennen müssen, nachdem er seinem Chef gesagt hatte, dass er sich nicht wohlfühle und fürchte, sich einen Magen-Darm-Virus eingefangen zu haben. Unmittelbar danach hatte man ihn nach Hause geschickt. Die Scheißeritis war ein aus der Not geborener Freund und die einfachste Weise, sich mit augenblicklicher Wirkung von der Arbeit abmelden zu können. Man hatte ihm sogar eingeschärft, erst dann zurückzukommen, wenn er mit Sicherheit wieder gesund war, denn einen größeren Krankheitsausbruch könnten sie nicht riskieren.
Diskret stupste er Trines Oberschenkel an. Sie drehte sich zu ihm. Er blickte auf den Teller mit dem Gebäck. Sie schob den Teller zu ihm hinüber und hörte Aud weiter zu. Während die Kekse zwischen seinen Zähnen knirschten, beobachtete er Trine aus dem Augenwinkel. Tja, anscheinend war sie nicht genauso wie Rebekka, hübscher zwar, aber nicht genauso . Rebekka hätte nämlich, allein indem sie etwas sagte, einen verdunkelten Raum voller Menschen bezaubern können. Mit Trine mochte man vielleicht das Licht einschalten, aber was dann? Er war sicher gewesen, dass er ein Mädchen wie Rebekka haben wollte. Natürlich war er in sie verliebt gewesen, allerdings hatte er sich in eine Illusion verliebt. Was, wenn er ihr Flehen erhört und ihr vergeben hätte, als sie in Elvadalen auf dem Boden gelegen und Blut gespuckt hatte? Nicht eine einzige Sekunde hatte er das erwogen. Stattdessen hatte er ihre Haare gepackt, den Kopf vom Boden gehoben und ihr ins Ohr geflüstert: »Gott vergibt. Ich tue es nicht.« Vielleicht etwas theatralisch, aber in diesem Moment hatte es gut gepasst.
Er hatte Trine angesehen, ohne zu registrieren, dass sie sich zu ihm gedreht hatte. Mit einem schiefen Grinsen blickte er sie an. Dann wurde ihm plötzlich bewusst, dass nicht nur Trine ihn anstarrte, sondern alle.
»Hm?«, fragte er und legte den angebissenen Keks auf den Tisch.
»Ich habe bloß gefragt, wie es dir in der letzten Woche ergangen ist«, sagte die Gruppenleiterin.
»Gut, danke. Doch, es geht mir gut.«
»Möchtest du uns heute an irgendetwas teilhaben lassen?«
»Ich bin eigentlich nur froh, hier zu sein. Am Dienstag und auch gestern war es leichter aus dem Bett zu kommen als am Montag.«
»Das ist schön. Oft braucht man ja gar nicht viel mehr als die Möglichkeit, mit jemandem reden zu können, und dann darfst du uns gern auch mehr teilhaben lassen, wenn sich das für dich in Ordnung anfühlt.«
Sie blickte ihn abwartend an, als ob sie wünschte, er möge jetzt schon etwas mehr sagen, doch er begnügte sich mit einem zustimmenden Kopfnicken, ehe er wieder nach dem Keks griff.
»Was ist mit dir, Trine?«, fuhr die Gruppenleiterin fort. »Wie ist es in den letzten Tagen gelaufen?«
»Ich weiß nicht so recht. Aber wenigstens ist meine Wohnung sauber.«
»Letzte Woche hast du erzählt, dass dir der Studentenverband eine neue Wohnung besorgen wollte. Hat sich da was getan?«
»Nein, noch nicht. Aber da jetzt Ferien sind, wird vor nächster Woche auch nichts passieren. Ich dachte auch mehr daran, dass ich geputzt habe. Montag und gestern. Und heute Abend mache ich das bestimmt noch mal.«
»Hach«, seufzte eine Frau in den siebzigern. Ihre Haare waren lang und dunkel, mit kräftigen grauen Strähnen. »Ich kann mich total gut in dir wiedererkennen.«
»Weil es sich leichter anfühlt, wenn du putzt oder andere Dinge tust?«, hakte die Gruppenleiterin nach.
»Ja, in dem Moment, in dem ich das tue, ist das so«, erwiderte Trine. »Aber es reicht schon, wenn zum Beispiel ein Musikstück im Radio läuft, das Rebekka und ich uns öfter zusammen angehört haben … Da fange ich dann manchmal wieder an zu weinen, und es dauert dann lange, bis ich damit aufhören kann. Falls ich es überhaupt schaffe.«
Trine blickte auf ihren Schoß. Ihre Augen waren feucht geworden. Unter dem Tisch legte er eine Hand auf ihre, streichelte sie mit dem Daumen. Sie schenkte ihm ein trauriges Lächeln und sagte etwas so leise, dass es fast nicht zu hören war. Fast. Sie sagte Danke. Aud reichte ihr ein Kleenex.
»Und dann war ich heute Vormittag bei der Polizei.« Sie schniefte. »Die wollten, dass ich vorbeikomme.«
»Ach, du Ärmste«, ließ sich Aud vernehmen. »Bist du nicht schon zweimal da gewesen?«
»Doch, und ich habe deswegen auch mit Papa gesprochen, bevor ich dahingefahren bin, und er meinte, dass die Polizei eben so arbeitet. Sie bestellen die Leute mehrmals zur Befragung ein, um zu überprüfen, ob man jedes Mal das Gleiche sagt.«
Sie zog ihre Hand zurück, drückte sich das Papiertaschentuch an die Nase und schnäuzte sich vorsichtig. Dann blinzelte sie rasch zur Deckenlampe hinauf, zerknüllte das Papier und legte die Hand zurück auf ihren Oberschenkel. Er legte seine obenauf.
»Ich war gestern in Volda und habe eine Freundin besucht«, sagte die Gruppenleiterin. »Als ich spät abends wieder nach Hause gefahren bin, herrschte reger Betrieb im Büro des Lensmanns. Ich konnte Flutlicht und viele Autos draußen erkennen, und es war ganz deutlich, dass sie rund um die Uhr arbeiten.«
»Ist ja wohl das Mindeste.« Aud wieder.
Wie lange hatte sie jetzt den Mund gehalten? Zehn Sekunden? Fünfzehn? Er spähte zu ihr hinüber, aber sie war zu sehr damit beschäftigt, etwas Milch in ihre Kaffeetasse zu geben, als dass sie es mitbekommen hätte.
»Außerdem habe ich den Eindruck, dass die Zeitungen seit vierzehn Tagen immer dasselbe schreiben«, fuhr Aud fort. »Was hier bei uns in Møre-Nytt geschrieben wird, das kriegen ja nur wir mit, aber seht euch mal die überregionalen Zeitungen an. Da wird jeden Tag ihr Foto auf der Titelseite abgedruckt. Denken die gar nicht an die armen Eltern?«
»Aud …« Die Gruppenleiterin sah sie mit sanftem Blick an. »Aber, Trine, ist es denn gut gelaufen?« Sie versetzte ihre Tasse ein Stück. »Das Gespräch mit der Polizei?«
»Ja …«, erwiderte Trine mit heiserer Stimme. »Die wollten mich gar nicht weiter befragen, aber da in letzter Zeit nicht viel passiert ist, hatten sie das Gefühl, sie müssten mich auf den aktuellen Stand der Dinge bringen. Es gibt nämlich was Neues.«
Sein Daumen hörte auf zu streicheln.