Samstag, 23. November
Die wenigen Schneereste, die nach dem nächtlichen Regen in den Villengärten von Vinderen noch übrig waren, kapitulierten gerade vor der Sonne.
Während das Taxi die Straße hinunter verschwand, öffnete er das schmiedeeiserne Tor. Durch das Fenster konnte er das nicht mehr ganz junge Ehepaar, das unter dieser Adresse wohnte, einander gegenüber am Küchentisch sitzen sehen. Beide blickten nach unten, als ob sie in ihre jeweilige Zeitung vertieft wären, und registrierten nicht die Gestalt, die draußen vorbeiging und auf die Außentreppe zusteuerte. Aus dem Hausinneren war eine Klingel zu hören, als sein Finger auf den Knopf drückte. Einen Augenblick später hörte er Schritte. Die Tür wurde geöffnet, und plötzlich wurde ihm bewusst, dass er den anderen zum ersten Mal ohne seine Brille sah.
»Anton?«, fragte Mogens Poulsen erstaunt.
»Tut mir leid, dass ich so früh vorbeikomme. Und noch dazu unangemeldet.«
»Das macht doch nichts, ich bin nur überrascht.« Er blickte über Antons Schulter und über die Einfahrt hinweg zur Straße, die unten am Zaun vorbeiführte. »Bist du mit der Bahn gekommen?«
»Hab mich von einem Araber fahren lassen, der ein ebenso großer Fan von a-ha ist wie du von deiner dänischen Rockband, wie hieß die noch, Gasolin’?«
Der Däne grinste.
»Du hast dir ja ’nen ganz schönen Bart wachsen lassen. Siehst jetzt aus, als wärst du in meinem Alter.«
Er trat einen Schritt zurück und winkte Anton herein. Anton zog seine Jacke aus, steckte den Kopf zur Küche hinein und begrüßte die Gattin, während Mogens Poulsen eine saubere Tasse aus dem Schrank nahm und Kaffee einschenkte. Dann nahm er seine eigene vom Küchentisch und deutete in Richtung Wohnzimmer. Anton folgte ihm und sank dem Dänen gegenüber auf das Sofa.
»Schön, dich wiederzusehen«, sagte der Rechtsmediziner. »Ich habe ein paarmal versucht anzurufen, aber dann habe ich im Sommer von Torp gehört, dass … Ja, dass du zeitweilig nicht so gut zu erreichen warst.«
»Auch das tut mir leid.«
»Wie geht es dir denn?«
»Es geht mir gut«, sagte Anton und erzählte, dass er den Umweg über einen Kindergarten gemacht hatte, bevor er in der psychiatrischen Notaufnahme des Krankenhauses Kalnes gelandet war.
»Du sagst, es geht dir gut«, sagte der Däne ruhig, ohne den Blick von Anton abzuwenden, »aber ich kann sehen, dass das nicht der Fall ist.« Er lehnte sich zurück und schloss die Hände um die Kaffeetasse. »Und natürlich habe ich mich gefragt, was eigentlich passiert ist. Torp schien nicht so viel sagen zu wollen, als ich ihn gefragt habe. Und dann bin ich vor ein paar Wochen seinem Vorgesetzten begegnet. Rein zufällig. Bin da draußen vor dem Ullevål direkt in ihn hineingelaufen.« Er deutete durch das Fenster in Richtung Stadion. »Er meinte, er sei nicht sicher, aber du würdest den Eindruck machen, als seist du alles leid. Als seist du bedient.«
Anton berichtete.
»Ich wünschte, du hättest das alles mit mir besprochen, ehe du es getan hast«, sagte der Däne. »Ich hätte dir nämlich erzählen können, wie so was endet.« Er tippte mit dem Mittelfinger gegen die Tasse. »Aber gut, mein lieber alter Freund, du bist natürlich nicht hergekommen, um einen Schluck Kaffee serviert zu bekommen. Also, was kann ich für dich tun?«
»Nora Meisler. Hast du den Namen schon mal gehört?«
»Ja«, sagte der Däne, führte seine Kaffeetasse zum Mund und nahm einen Schluck. »Das Mädchen unten in Fredrikstad.« Er stellte die Tasse auf den Tisch. »Kanntest du sie?«
»Ja.«
»Ach ja, natürlich. Sie war Patientin in Kalnes.«
»Hast du sie obduziert?«
»Nein, das war Tormod. Woran denkst du?«
»Ich … Ja, wie soll ich mich jetzt ausdrücken, damit du nicht denkst, ich bin irre geworden?«
»Kannst du nicht bitte das tun, was du immer getan hast?«
»Und das wäre?«
»Die Dinge direkt aussprechen.«
»Kann sie ermordet worden sein?«
»Falls Tormod in diese Richtung gedacht hätte, wäre das sicher in seinem vorläufigen Bericht aufgetaucht. Ich habe ihn zwar nicht gelesen, aber wenn auch nur der geringste Verdacht aufgekommen wäre, dann hätte er mit mir darüber gesprochen. Das kann ich dir garantieren, Anton. Du weißt es auch selbst, aber Mord durch Erhängen kommt ungeheuer selten vor.«
»Ja, es kommt aber auch vor, dass ein Mord vertuscht wird.«
»Wie gut kanntest du sie?«
»Gut kannte ich sie überhaupt nicht. Sie war eine Patientin, und wir haben auch gar nicht viele gemeinsame Stunden verbracht. Ich bekomme es bloß nicht in den Kopf. Es ergibt irgendwie keinen Sinn.«
»Nein, für dich und mich nicht. Aber für sie war es vielleicht das Einzige, das Sinn ergab. Weshalb ist sie eingewiesen worden?«
»Sie ist zu uns gekommen, nachdem sie am Dienstagvormittag versucht hatte, sich das Leben zu nehmen.«
»Und du vermutest also einen Mord …« Der Däne lächelte mitfühlend. »Anton.«
»Ich weiß …«, seufzte Anton. »Ich weiß … Ich höre mich verrückt an, aber meine Sensoren haben angeschlagen, als ich mit dem Kollegen in Kalnes gesprochen habe, der für sie verantwortlich war.«
»Und wieso haben die angeschlagen?«
»Ich glaube, das lag an der ganzen Situation, an der Art, wie er sich aufgeführt hat. Als wir uns getrennt haben, hat er mir so einen Blick zugeworfen, einen Blick, den ich schon hundertmal zuvor gesehen habe, Mogens. Bei Leuten, die zum ersten Mal vernommen werden, und die nicht so sehr daran gewöhnt sind, den Anschein der Unschuld zu wahren. Bei denen man einfach weiß , dass sie nicht die ganze Wahrheit sagen, und die so nervös sind, dass man es nicht übersehen kann.«
»Du meinst nicht, dass du da vielleicht etwas hineininterpretierst?«
»Nein, und wenn das eine Vernehmung gewesen wäre, hätte ich ihn niemals gehen lassen, ohne vorher alles zu erfahren.«
»Verstehe. Weißt du etwas über ihren Hintergrund?«
»Der absolute Klassiker. Sie ist bei der Mutter groß geworden, und als sie fünf Jahre alt war, begegnete ihre Mutter der Wurzel allen Übels.«
»Sexueller Übergriff?«
»Elf Jahre lang. Bis dieses Schwein, übrigens ein Aufzugmonteur, auf der Arbeit einen falschen Schritt tat. Der Sturz hat diesem Teufel zum Glück das Genick gebrochen.«
»Und die Mutter?«
»Mit der war auch ständig was. Pillen und Alkohol.«
»War? Sie lebt also nicht mehr?«
»Nein, nur Wochen nach dem Wunder im Aufzugsschacht hat sie sich einen etwas zu kräftigen Cocktail zusammengemischt. Erst da, Mogens, ist der leibliche Vater aufgetaucht und hat Verantwortung für das Kind übernommen. Zehn oder zwölf Jahre zu spät. Was sind das für Menschen, die nicht kapieren, was mit ihren Kindern geschieht? Noras Oberarme waren übersät von kleinen Schnittwunden. Warum, verdammt, wurde da kein Alarm geschlagen? Ist doch klar, dass die was gewusst haben müssen.«
»Nicht unbedingt. Es ist ziemlich einfach, Narben zu verdecken, indem man beispielsweise nur langärmelige T-Shirts trägt. Ich glaube, du weißt einfach nicht genug, um mit den Fingern auf die Eltern zu zeigen, besonders auf den Vater – es sei denn, du hast noch mehr Informationen.«
»Ich behaupte ja nicht, dass die Eltern etwas von dem Missbrauch wussten, aber sie müssen doch verdammt noch mal kapiert haben, dass es ihr nicht gut ging.«
»Und am Dienstag hat sie dann zum ersten Mal versucht, sich umzubringen?«
»Das zweite Mal, soweit ich weiß. Beim ersten Mal ist sie in der Jugendpsychiatrie gelandet.«
»Sie war jetzt also volljährig, da sie in die psychiatrische Notaufnahme kam?«
»Nein, in der Jugendpsychiatrie war alles voll. Sie war siebzehn.«
»Als ich in den Siebzigerjahren studierte, habe ich eine Zeit lang in der Psychiatrie des Rigshospital in Kopenhagen gearbeitet. Nicht als Arzt, aber ich habe in etwa das Gleiche getan, was du jetzt da machst. Eines Tages kam eine junge Frau zu uns. Gry. Gleiche Vorgeschichte wie bei Nora. Sie war etwas älter, neunzehn oder zwanzig. In diesem Fall waren ihr Vater und ihre Onkel die Verursacher des Leids, zwischendurch auch mal ein paar von deren Kumpeln. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals nicht missbraucht worden zu sein. Da versteht man dann, wie alt sie gewesen sein muss, als das Ganze anfing.«
»Ich glaube, ich ertrage es gar nicht, mehr darüber zu hören«, sagte Anton.
»Wie lange warst du eigentlich bei der Polizei?«, fragte ihn der Pathologe.
»Siebenundzwanzig Jahre.«
»Und bei der Kripo hast du angefangen … 2001?«
»2002.«
»Du hast also fast zwanzig Jahre mit Mordfällen zu tun gehabt, plus sieben Jahre … was war das noch mal? Streifendienst?«
»Ja, das und Drogenfahndung.«
»Eine Tragödie nach der anderen. Man könnte sagen, dass das auch für mich gilt, aber dennoch ist es bei mir etwas anderes. Ich schneide in totem Fleisch herum und erspare mir alles andere. Du hingegen wirst mit dem ganzen Ausmaß dieser Tragödien konfrontiert. Es ist ganz normal, dass die Angehörigen eines Menschen, der den Freitod wählt, gerne glauben möchten, dass jemand anderes die Schuld daran trägt – so wird die Bürde etwas leichter. Aber du warst ja keiner ihrer Angehörigen, Anton. Du hast eben gesagt, dass du nur ein paar Stunden mit ihr verbracht hast. Hat das Ganze etwas damit zu tun, dass du kein Polizist mehr bist? Drückt da der Schuh? Wünschst du dir deshalb, beweisen zu können, dass sie ermordet wurde, um das Gefühl zu haben, wieder der zu sein, der du eigentlich bist?«
»Damals hat auch niemand geglaubt, dass Harald Uteng ermordet wurde. Einschließlich deines Instituts. Und wenn ich mich nicht irre, hast du ihn obduziert. Und dann zeigte sich, dass es doch Mord war.«
Die Augen des Dänen wurden schmaler.
»Das soll keine Kritik sein«, sagte Anton. »Du hast getan, was du tun musstest, und du hattest alle Fakten auf deiner Seite. Ich ärgere mich mehr über diese tumben Amateure, die der Polizeidistrikt Øst zu seinen Hausjuristen zählt. Was ich sagen will, ist, dass Fehler eben begangen werden. Aber jetzt wollen wir nicht weiter an alten Wunden rühren. Hat denn die Geschichte von Gry ein glückliches Ende?«
Der Däne blickte auf seinen Kaffee.
»Gry und ich haben uns bestens verstanden. Sie war ungeheuer gut verdrahtet und scharfsinnig. Wach. Witzig. Auch hübsch, obwohl sie alle erdenklichen Drogen genommen hatte, seit sie zwölf oder dreizehn gewesen war. Ich weiß noch, damals dachte ich, dass sie sich jedes Ziel setzen könnte und es auch erreichen würde, wenn sie bloß in der Lage wäre, die Last der Vergangenheit abzustreifen. Sogar als Drogenabhängige hat sie in der Schule Leistung erbracht. Allein, dass sie überhaupt noch zur Schule ging , war schon bemerkenswert. Bestnoten in allen Fächern, und es hat sie nichts gekostet. Ich selbst bin zwar Arzt geworden, aber mich hat es verdammt viel gekostet. Die Dinge sind mir nicht leichtgefallen, Anton. Alle glauben das Gegenteil, weil ich in neunundneunzig von hundert Fällen eine Antwort auf die medizinischen Fragen habe, die man mir stellt, aber der Weg dahin war, und ist immer noch, lang und steil. Wo andere etwas ein- oder zweimal lesen mussten, brauchte ich sieben oder acht Versuche. Gry gehörte zu der Sorte, die am Tag vor dem Examen nur schnell einen Text zu überfliegen brauchte und dann mit Bravour bestanden hat. Meine Kollegen und ich haben versucht, sie dazu zu bringen, nach vorn zu sehen. Auf das, was noch auf sie wartete. Auf das Leben, das sie haben könnte, wenn sie nur die Vergangenheit auslöschte. Aber wer zum Teufel schafft das schon? Hättest du es gekonnt?«
»Vermutlich nicht.«
»Gry hat es auch nicht geschafft. Eines Morgens bin ich in ihr Zimmer gegangen, und sie lag da, mit der Decke bis zum Kinn hochgezogen. Kalt und steif.«
Anton seufzte.
»Wir konnten nie herausfinden, woher sie sie hatte«, fuhr der Däne fort, »aber sie hat so lange mit einer Nagelschere in der Leiste herumgeschnitten und herumgegraben, bis sie die Hauptschlagader fand. Die Matratze war von Blut durchtränkt. Vielleicht hat es mir so zugesetzt, weil ich sie in den drei Monaten bei uns relativ gut kennengelernt hatte. Denn die Gry, die zu uns gekommen war, war eine andere als die, die uns verlassen hat. Wir haben ihre Drogensucht besiegt, und manchmal konnte ich es sehen.« Er zeigte auf seine Augen. »Den Funken hier drinnen. Er war da, Anton. Schwach, aber er war da. Der war nicht erloschen.«
So war auch Nora gewesen, dachte Anton. Als er mit ihr unten im Eingangsbereich gesessen hatte. Als sie später aus ihm herausgeleiert hatte, wieso er kein Polizist mehr war.
»Sie hat also auch gelacht?«, fragte er.
»Und nicht nur einmal. Ich habe gesehen, dass es noch Hoffnung gab, aber Gry selbst hat es nicht gesehen. Ich war vier oder fünf Jahre älter als sie«, der Däne setzte ein schiefes Lächeln auf, »und ich weiß noch, dass ich dachte – das alles ist passiert, bevor ich meiner Frau begegnet bin – also ich dachte, dass, wenn ich sie irgendwo in der Stadt kennengelernt hätte … Ich hätte mich auf der Stelle in sie verliebt.« Er schnipste mit den Fingern. »Das Leben ist brutal, Anton. Das Leben ist hässlich. Und das Leben kann verdammt bösartig sein. Oder nein. Nicht das Leben kann bösartig sein, sondern wir Menschen können es sein. Und was Einzelne unserer beschissenen Art zu tun in der Lage sind … Wir beide haben genug davon gesehen …, aber dass Nora Meislers Selbstmord inszeniert gewesen ist?« Er schüttelte den Kopf. »Sorry, Anton.«
»Ausgeschlossen, dass dein Kollege Tormod vielleicht in Eile war? Es kann nicht vielleicht eine Rolle gespielt haben, dass sie aus einer geschlossenen psychiatrischen Station kam?«
»Es hätte auch keine Rolle gespielt, wenn sie schwer heroinabhängig gewesen wäre oder aus dem Königshaus gestammt hätte. Unsere Obduktionstische sind vielleicht der einzige Ort in Norwegen, wo kein Unterschied zwischen den Menschen gemacht wird. Niemals.«
»In Ordnung.« Anton nickte. »Aber ich gehe nach meinem Bauchgefühl. Das habe ich mein ganzes Leben lang getan. Völlig egal, ob ich an einem Pokertisch gesessen, mich an einem Tatort über eine Leiche gebeugt oder einem des Mordes Verdächtigen in einem Vernehmungsraum gegenübergesessen habe. Ein paarmal habe ich mich geirrt, aber ich finde nicht eher Ruhe, ehe ich weiß , dass ich mich geirrt habe.«
Der Däne ließ den Kopf Richtung Brust sinken, und sein magerer Hals legte sich in Falten.
»Könnest du dich von deiner Vorstellung verabschieden, wenn du sie sehen darfst?«
»Wie meinst du das?«
»Ich frage dich, ob du sie sehen willst. Nora. Und Tormods Bericht lesen. Wir können sofort zum Krankenhaus fahren, aber nur, wenn du mir dein Wort gibst, dass du es danach ruhen lässt. Wenn du noch bei der Kripo arbeiten würdest, wäre das der Fall, den du vermeiden würdest, weil er dich sonst nicht mehr loslässt. Der Fall, der dich langsam, aber sicher in den Wahnsinn treibt. Denn du jagst etwas nach, was nicht da ist, Anton. Du musst damit aufhören, ansonsten wird es dich umbringen – und wie es gerade aussieht, fehlt dafür nicht mehr viel.«
»Nein …« Anton schüttelte den Kopf. »Ich möchte keinesfalls, dass du dieses Risiko auf dich nimmst, Mogens. Aber danke.«
»Das ist kein Risiko.«
»Doch, das ist es. Sollte jemals herauskommen, dass du einen Zivilisten mitgenommen hast, um ihm eine Leiche und einen Obduktionsbericht zu zeigen, dann verschwindest du genauso schnell von der Bühne wie ich.«
Der Däne tat Antons Einwand mit einer Handbewegung ab und stand auf.
»Im schlimmsten Fall gibt es eine Strafpredigt. Die überstehe ich.« Er klopfte Anton auf die Schulter, während er an ihm vorbeiging. »Jetzt komm schon, wir klären das ein für alle Mal.«