Volda, 1999, Tag 75
»Der Lensmann hat nicht erwähnt, ob das geheim ist oder so«, sagte Trine, »aber er hat es mir unter vier Augen erzählt, und jetzt bin ich unsicher, ob ich überhaupt was darüber sagen darf.«
»Hier drinnen müssen wir uns sowieso alle an die Schweigepflicht halten«, warf Aud ein. »Erzähl es einfach.«
»Das liegt in deinem Ermessen, Trine«, sagte die Gruppenleiterin. »Aber wie du weißt, bleibt alles, was hier geäußert wird, in der Gruppe. Wenn es wichtig für dich ist, oder wenn du glaubst, dass es dir helfen kann, etwas mit anderen zu teilen, dann erzählst du es. Niemand als du selbst entscheidet das.«
Trine überlegte und schüttelte schwach den Kopf.
»Alles in Ordnung.« Die Gruppenleiterin sah auf die Uhr. »Dann machen wir hier jetzt eine kleine Pause.«
Stuhlbeine schabten über den Fußboden. Zwei der ältesten Teilnehmerinnen blieben sitzen. Mit zitternden Händen griffen sie nach Obst und Gebäck. Die Gruppenleiterin schenkte ihnen Kaffee ein. Nach einer Weile stand Trine auf. Sein Blick folgte ihr, während sie den Raum verließ. Kurz danach war die Eingangstür zu hören.
Er fand Trine direkt vor dem Gebäude. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und lehnte an der Wand. Ihre Wangen sahen feucht aus. Er zog sie an sich, streichelte ihr den Rücken und flüsterte, wie mutig und stark sie sei. Er spürte wieder ihre Tränen kommen. Sie schob ihn von sich, blickte ihn an und brachte ein scheues Lächeln zustande.
»Entschuldige«, sagte sie.
»Das ist das Letzte, was du jetzt sagen solltest.« Er stellte sich neben sie und sah hinauf in den sternenklaren Himmel. »Ich verstehe gut, dass du dort drinnen nicht darüber sprechen wolltest, aber du sollst wissen, dass du jederzeit mit mir sprechen kannst.«
»Über das mit der Polizei?«
»Ja.«
»Da war eigentlich nichts Besonderes.«
»Nicht? Ich dachte, die hätten vielleicht einen Verdächtigen.«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Die wollten wissen, ob mir sein Name eingefallen ist.«
»Wessen Name?«
»Das ist es ja.« Sie lächelte leicht resigniert. »Ich glaube nicht, dass sie einen Freund hatte, aber … Als ich eines Abends nach Hause kam, standen ein paar Blumen auf dem Tisch. Ich fragte, ob sie die gekauft hätte. Darauf hat sie nicht geantwortet, und da habe ich sie gefragt, ob sie die von einem heimlichen Verehrer bekommen hätte.«
»Von einem heimlichen Verehrer?«
»Ja, jedenfalls von einem, der mir unbekannt war. Rebekka und ich haben immer über alles gesprochen, auch über Jungs, aber … Nachdem wir zu Hause in Mandal auf dem Gymnasium angefangen hatten, da … Ich weiß, dass sie damals einen Freund hatte.«
Zwei, dachte er. Rebekka hatte zwei Liebhaber in Mandal gehabt. Und jetzt hätte es ihn auch nicht verwundert, wenn sie mit beiden gleichzeitig zusammen gewesen wäre.
»Hast du ihn mal kennengelernt?«
»Nein, ich glaube nicht, dass die überhaupt länger zusammen waren. Aber im letzten Schuljahr hat sie auf einem Fest im Gemeindehaus mit jemandem aus der Parallelklasse rumgeknutscht. Ich war so blöd und habe es meinen Eltern erzählt. Nicht weil ich tratschen wollte oder so, aber ich hatte mich mit meiner Mutter gestritten, und sie sagte so was wie glaubst du etwa, dass Rebekka sich so benehmen würde?, und da ist es mir einfach rausgerutscht. Dass Rebekka mit Jungs rummachte. Und dass ich jedenfalls das nicht täte.«
»Das ist doch wohl ganz natürlich?«
»Meine Eltern sind ja auch strenggläubige Christen, aber Rebekkas … Die sind, also, die sind extrem streng. Ich würde nicht so weit gehen, sie als Fanatiker zu bezeichnen, aber … Auf alle Fälle gab es Krach. Seit damals hat Rebekka mir nie wieder irgendwas erzählt, das mit Jungs zu tun hatte. Sie hat nie erwähnt, dass ich es zu Hause erzählt habe. Sie war auch nicht sauer oder so, aber ich weiß, dass sie mir deshalb nichts mehr erzählt hat.«
»Dann hatte sie also einen Freund? Hier in Volda?«
»Ich weiß nicht. Die Polizei weiß auch nichts. Niemand weiß was – das ist ja das Problem. Der Lensmann meinte, es wäre seltsam, dass sie so etwas ganz für sich behalten hat. Da habe ich gesagt Sie haben Rebekka nicht gekannt, denn sie war wirklich sehr geheimnisvoll. Aus Angst davor, dass ihre Eltern was erfahren könnten, hat sie niemandem irgendwas erzählt. Und da ich so schnell keinen Namen aus dem Hut zaubern konnte, hat der Lensmann mir erzählt, dass sie jetzt von einer anderen Theorie ausgingen.«
»Von welcher Theorie denn?«
»Dass der oder die Täter bloß auf der Durchfahrt in Volda waren. Weil es nämlich zwei Wochen nach Rebekkas Ermordung einen brutalen Überfall auf eine alte Frau außerhalb von Florø gegeben hat.«
»Das hab ich in den Nachrichten gehört.«
»Papa meinte, die hätten die beiden Fälle viel früher in Verbindung bringen müssen, weil nämlich Rebekkas Handtasche auch verschwunden ist.«
»Ja«, sagte er nachdenklich, »kann sein, dass da was dran ist. Außerdem kann es sein, dass die das schon intern erörtert haben, kurz bevor sie mit dir in Kontakt getreten sind. Die wissen ja immer mehr, als sie erzählen.« Er sah auf die Uhr. »Wollen wir wieder reingehen?«
»Gleich … Ich würde dich erst noch gern etwas fragen.«
»Was denn?«
»Hast du Lust, an diesem Wochenende was zu unternehmen?«
»Was unternehmen?«, erwiderte er erstaunt. Denn das war er. »Du meinst also was unternehmen, wie in ›du und ich lassen uns was Gemeinsames einfallen‹?«
»Ja, wäre doch nett, mal was anderes zu tun, als bloß rumzusitzen.«
»Bloß rumzusitzen …?«
»Ja. Entweder wir sitzen im Bus, oder wir sitzen da drinnen. Ich dachte, wir beide könnten vielleicht mehr davon haben, mal was anderes zu tun – gemeinsam.« Trine wandte verlegen den Blick ab, ehe sie ihn wieder ansah. »Findest du, das ist eine blöde Idee?«
»Ganz und gar nicht.« Er lächelte und fuhr mit der Hand über ihren Arm. »Und ich weiß auch schon genau, was wir tun werden.«