Volda, 1999, Tag 77
Er sah den grün gekleideten Körper mit der orangenen Zipfelmütze, der sich die letzten Meter des gewundenen Wegs an der Felsseite des Rotsethorn hinaufkämpfte. Er sog den Duft von Seife und Parfüm ein, der ihr folgte. Ihre Haare ragten unter der Mütze hervor und fielen ihr auf die Schultern.
Seit sie sich am Fuß des Berges getroffen hatten, war er zwei Meter hinter ihr hergegangen, hatte ihr schweres Atmen und Keuchen an den steilsten Stellen gehört. Er war bereit gewesen, sie aufzufangen, als sie nach knapp über der Hälfte der Strecke das Gleichgewicht zu verlieren schien.
Er musste zugeben, dass er für einen Moment lang gehofft hatte, sie würde fallen. Nicht tief, und auch nicht so, dass sie sich verletzt hätte, aber dennoch so, dass sie aufgrund ihrer Ungeschicklichkeit in seinen Armen landen würde.
Sie blickte ihn über die Schulter hinweg an, als wollte sie sich davon überzeugen, dass er immer noch da war. Dann schenkte sie ihm ein breites Lächeln.
Er erreichte den Gipfel nur wenige Sekunden nach ihr.
Eine Steinpyramide markierte den höchsten Punkt. Der Berg auf der anderen Seite des Fjords war in Nebel gehüllt, und es wehte ein steifer Wind, aber nicht so scharf, wie er erwartet hatte. Über ihnen war der Himmel grau. Am Horizont im Norden konnte man schwach etwas Blaues erkennen. Sie gingen zu der Steinpyramide, wo er seinen Rucksack abnahm. Trine warf lange Blicke auf die weißen Berggipfel, die in allen Richtungen aufragten, und trat dann an den Rand der Steinpyramide. Er folgte ihr. Volda entfaltete sich unter ihnen.
Er starrte auf den Fjord hinunter, auf die Fähre, die nach Folkestad unterwegs war. Plötzlich wurde ihm klar, dass er genau dort unten Rebekka den Ring gegeben hatte. 649 Meter unter ihnen. Auf der Ja-Bank. Er sollte auch mit Trine dort hingehen. Nicht, um ihr einen Ring zu geben, dafür war es viel zu früh, aber um dort den Augenblick mit ihr einzufangen.
»Sieh nur!«, sagte sie fröhlich und zeigte auf das Studentenwohnheim. »Da wohne ich! Und da liegt die Hochschule!«
Er stellte sich neben sie und sah zu, wie sie die Aussicht betrachtete. Es war das erste Mal, dass er sie lächeln sah, ohne dass er etwas Lustiges gesagt hatte. Er wollte es gern kommentieren, verzichtete dann aber darauf.
»Wo wohnst du?«, fragte sie.
»Siehst du das Krankenhaus?«
Er stellte sich hinter sie, beugte sich ein wenig nach vorn, sodass sein Kinn fast ihre Schulter berührte, und zeigte auf das Krankenhaus, das von dort oben nicht größer aussah als ein Stecknadelkopf. Langsam ließ er seine Hand zu ihrer herabsinken. Er erwartete, dass sie sie zurückzog, stattdessen ließ sie zu, dass er ihre Hand in seine legte. Mit zwei Fingern drückte er die Wurzel ihres Zeigefingers.
»Da ist das Krankenhaus«, sagte er und lenkte ihren Finger in die entsprechende Richtung. »Siehst du das graue Haus mit dem schwarzen Dach da drüben?«
»Ja.«
»Da wohne ich. Im Souterrain.«
Sie legte ihre Wange an seine. Ihre Haare kitzelten sein Gesicht.
»Danke«, sagte sie leise.
»Wofür?«
»Dass du aufgetaucht bist.«
»Hast du geglaubt, dass ich heute nicht kommen würde?«
»Ich rede nicht von heute.« Sie wich einen Schritt zurück, ließ seine Hand aber nicht los. Sie drehte der Klippe den Rücken zu. »Ich meinte eher … Dass du plötzlich da warst. Also, in meinem Leben.«
Er lächelte sie zärtlich an und sagte: »Du bist so lieb.«
Der Nebel wurde dichter und schien aus dem Westen direkt auf sie zuzutreiben.
»Scheint hier rüberzukommen«, sagte sie.
»Ja, aber wollen wir nicht einen Schluck Kakao nehmen, ehe wir uns auf den Rückweg begeben?«
»Hast du Kakao dabei?«
»Hallo?« Er grinste. »Wir sind auf einer Klettertour. Natürlich habe ich Kakao dabei.«
Sie strahlte, ließ seine Hand los, strich sich ein paar Haare aus dem Gesicht und richtete ihre Mütze. Sie gingen zurück zu der Steinpyramide und setzten sich auf den Boden. Sie sah zu, wie er den Rucksack öffnete und eine Thermoskanne, zwei Becher, ein Päckchen Sahne und einen Löffel herausnahm.
Er warf ihr einen schnellen Blick zu und spürte sein eigenes Lächeln, das sich unkontrolliert auf seinem Gesicht ausbreitete. Da war nämlich etwas an der Art, wie sie ihn ansah. So hatte auch Rebekka ihn angesehen. Am Anfang, als alles gut gewesen war.