Kapitel 62

Samstag, 23. November

»Im Herbst 1999 wohnte Fredrik Olin in Oslo«, sagte Lars Weberg. »Er war dort sein ganzes Leben lang gemeldet, bis er mit Cecilie nach Fredrikstad gezogen ist. Nach dem Gymnasium hatte er verschiedene Aushilfsjobs und hat dann angefangen Taxi zu fahren.«

Mit dem Handy am Ohr stand Magnus in Antons Küche.

Er konnte hören, dass im Badezimmer die Dusche abgestellt wurde. Das Quecksilber im Thermometer vor dem Fenster zeigte vier Grad plus. Regen lag in der Luft. Ein paar Männer in Anzügen standen mit Getränken in der Hand auf dem roten Teppich vor den Phønix Veranstaltungsräumen auf der anderen Straßenseite und unterhielten sich.

»Woher hast du die Information?«

»Ich habe eben mit ihm telefoniert.«

»Das Einwohnermeldeamt bestätigt seine Adresse in Oslo?«

»Ja. Bis vor anderthalb Jahren.«

Ein Taxi tauchte vor dem Phønix auf. Zwei weitere Anzüge stiegen aus und schlossen sich denen auf der Treppe an.

»Was ist mit Bjørn Farsund?«

»Feldlager Rena.«

»Er war beim Militär?«

»Ja. Also wenn unser Fall mit Volda zusammenhängt, dann sind wir vermutlich am völlig falschen Ort.«

»Klär das mal mit Rena, ob er nicht dennoch in Volda gewesen sein kann.«

»Ja, kann ich machen, aber wie sicher bist du eigentlich, dass da irgendwas dran ist? Hast du was aus den Fallunterlagen herausbekommen?«

Magnus starrte auf die Pappkartons hinter dem Sofa im Wohnzimmer.

»Ich bin überhaupt nicht sicher, aber ich muss mich auf jeden Fall durch die vorhandenen Akten arbeiten.«

»Geht das schneller, wenn wir das zu zweit machen?«

»Ich habe für morgen was mit Kristin Mayer ausgemacht«, sagte Magnus. »Sie meinte, sie hätte keine Kinder, auf die sie Rücksicht nehmen müsste. Daher schlage ich vor, dass du dir das Wochenende freinimmst.«

Das Gespräch wurde beendet. Magnus setzte sich auf den Fußboden und machte da weiter, wo der Anruf ihn unterbrochen hatte. Nach ein paar Minuten kam Anton in Jogginghose und T-Shirt aus dem Badezimmer.

»Du hast vergessen, deinen Bart zu stutzen«, sagte Magnus.

Anton gab ein Grunzen zur Antwort, schaltete den Fernseher ein und legte sich aufs Sofa.

»Wollen wir was zu essen bestellen?«, fragte Magnus nach einer Weile.

»Ich krieg nichts runter«, antwortete Anton.

»Aber du musst doch was essen. Hast du überhaupt irgendwas zu dir genommen, seit wir in Volda waren?«

Die Antwort blieb aus. Magnus seufzte resigniert und fuhr mit der Lektüre fort, während der Fernseher im Hintergrund schwach vor sich hin brummte. Er arbeitete sich durch Einzelseiten, Formulare und Aufzeichnungen aus dem Karton, der mit Nulldokumente gekennzeichnet war. Die nächste Stunde verging, ohne dass er von etwas anderem als lauten Stimmen von der Party auf der anderen Straßenseite gestört wurde. Magnus stand auf, streckte Hals und Rücken und ging in die Küche. Dort warf er einen Blick in den fast leeren Kühlschrank, ehe er sich wieder hinter das Sofa setzte und in den Karton spähte. Er hatte gerade mal die Hälfte geschafft. Die Papiere, die er schon gelesen hatte, legte er zu einem geraden Stapel zusammen, schob ihn zur Seite und griff zu dem nächsten Karton, der, wie er wusste, schon x-mal zuvor durchgesehen worden war. Es war der Chaoskarton. Ein paar Minuten lang sah er nichts anderes als dicht beschriebene Seiten durch. Er griff nach der zusammengerollten Karte, die aus dem Karton herausragte, streifte das Gummiband ab und rollte sie auf dem Fußboden auseinander. Der Ausschnitt zeigte Volda. Der Fundort in Elvadalen war mit einem fetten roten Punkt markiert. Rebekka Vehlers Wohnung, der Grüne Baum und das Haus von Sverre Roer waren mit blauen Sternen gekennzeichnet. Unzählige kleine schwarze Kreuze standen für die Wohnungen rund um Elvadalen sowie für das Studentenwohnheim. Der Lensmann hatte erzählt, dass John-Einar Gjelsvik und die anderen Ermittler seinerzeit massenhaft Haus-zu-Haus-Befragungen vorgenommen hatten. Jedes Kreuz musste also bedeuten, dass die Polizei dort an die Tür geklopft hatte. Magnus rollte die Karte wieder zusammen, stopfte sie zurück in den Karton und nahm stattdessen eine Zeitleiste heraus. Diese zeigte punktgenau, welche geprüften Fakten die Ermittler über Rebekkas Aktivitäten am 22. September 1999 zusammengetragen hatten. Von dem Moment an, als sie kurz nach vier Uhr nachmittags ihre Wohnung verlassen hatte, dann den anderen im Grünen Baum begegnet war und sich den ganzen Abend dort aufgehalten hatte, bis das Quartett gemeinsam das Lokal verlassen und sich an der Ecke Holmen und Industrigate voneinander getrennt hatte.

»Ich habe in Göteborg in Führung gelegen«, sagte Anton unvermittelt. »Bei dem Pokerturnier. Alles hat gestimmt, Torp, der Flow war wieder da. Fünfundzwanzig verdammte Jahre lang ist da nirgendwo ’n Flow gewesen, aber dann war er plötzlich da.« Er wechselte den Kanal.

»Klingt gut, echt …«

»Glaubst du, es ist so gewollt, dass es manchen Menschen niemals richtig gut geht?« Anton zappte so schnell durch die Kanäle, dass er unmöglich mitbekommen konnte, was die einzelnen Sender zeigten. »Dass da immer irgendwas sein muss, das einen in den Dreck zieht? Falls ich heute Abend zehn Millionen im Lotto gewinnen würde, kannst du davon ausgehen, dass mich nächste Woche mein Hausarzt anruft, um mir mitzuteilen, dass ich einen unheilbaren Gehirntumor habe.«

»Dann würde ich an deiner Stelle kein Lotto spielen.«

»Ach, jetzt hör doch mal«, seufzte Anton. »Du verstehst nicht, was ich meine.«

»Ich verstehe sehr gut, was du meinst, Anton, aber ich arbeite.«

»Hier rumzuhängen, hast du dir selbst ausgesucht.«

»Freust du dich nicht über etwas Gesellschaft?«

»Ehrliche Antwort?«

»Nee, weißt du was?«, fauchte Magnus und sah von seiner Zeitleiste auf. »Sei ausnahmsweise mal unehrlich.«

»Okay. Dann also: Ich freue mich über die Gesellschaft.« Anton stellte den Ton leiser. »Kann ich dich um einen Gefallen bitten?«

»Was denn?«

»Noras Selbstmord. Ich f…«

»Nein«, fiel ihm Magnus ins Wort. »Hör bloß auf. Sei so gut und hör sofort damit auf.«

»Das habe ich ja versucht, aber ich bin nun mal nicht sicher, ob die Erklärung richtig ist, die Didrik Ryde gegenüber der Polizei abgegeben hat. Da stimmt einfach was nicht.«

»Dann rede mit dem Krankenhaus.«

»Das Krankenhaus weiß nichts davon. Die Polizei aber schon. Diese Ermittlerin in Sarpsborg, Gro oder Guro … Falls du weißt, wer das ist, dachte ich, du könntest dich mal etwas umhören.«

Magnus ignorierte ihn.

»Du kannst dich einloggen und nachsehen, was in dem Fall unternommen wurde«, fuhr Anton fort. »Didrik Rydes Aussage ist bestimmt im System hinterlegt.«

»Das kann ich nicht. Das hinterlässt Spuren, und das weißt du ganz genau. Wenn ich das mache, werde ich am Montagmorgen einbestellt und muss mich rechtfertigen, wieso ich in einem Fall herumschnüffele, mit dem ich nichts zu schaffen habe. Und wenn ich dann kein gutes Argument habe, dann … tja.«

»Du ermittelst in einem Mordfall. Sogar in zweien, wenn diese Frau aus Moss nicht lebend wieder auftaucht. Das verschafft dir das Recht, in der Datenbank des Polizeidistrikt Øst nach allem zu suchen, wonach dir der Sinn steht. Sag einfach, du hättest einen anonymen Hinweis bekommen.«

»Ich soll also diesen Didrik Ryde in den Fall Cecilie Olin reinmischen, weil er als Letzter mit Nora zusammen war, kurz bevor sie sich umgebracht hat?« Magnus beugte sich über den Karton und spähte hinein. Er nahm einen Stapel Zeitungen heraus und legte ihn zur Seite. Ganz unten lag ein rosa Post-it-Zettel mit der Klebeseite nach oben. »Hättest du mir diese Schwachsinnsgeschichte abgekauft?«

»Ist ja gar nicht sicher, dass es eine Schwachsinnsgeschichte ist.«

»Herrgott, Anton. Hörst du dir eigentlich selbst zu?«

»Schon gut! Vergiss, dass ich gefragt habe.«

»Ist bereits vergessen.«

Magnus nahm den Klebezettel aus dem Karton und drehte ihn um. Wer ist der Elefantenmann? stand darauf. Jemand hatte mit Kugelschreiber einen Kreis um die Frage gezogen.

Magnus hielt den Zettel in der Hand und dachte angestrengt nach. Er glaubte nicht, dass der Lensmann oder Sverre Roer etwas Derartiges erwähnt hatten. Er sah auf die Uhr, es war kurz vor acht. Dann erhob er sich vom Fußboden. Anton sah sich beleidigt eine Waschmittelreklame auf TV 2 an. Magnus suchte die Nummer des Lensmanns in Volda heraus und rief ihn an. Schon nach dem dritten Klingeln meldete der Kollege sich. Es dauerte ein paar Sekunden, bis die obligatorischen Höflichkeitsphrasen ausgetauscht waren, dann fragte Magnus nach dem Klebezettel.

»Das ist wohl bloß so eine Notiz, die während einer Besprechung nach Trine Vehlers Vernehmung gemacht wurde.«

Der Name war neu für Magnus.

»Wer ist Trine Vehler?«

»Rebekkas Cousine und Mitbewohnerin.«

»Okay. Aber was ist das mit diesem Elefantenmann?«

»In einem der Kartons liegt ein Aktenordner mit der Überschrift Vernehmung – drei. Da findest du die Aussage, in der Trine Vehler ihn erwähnt.«

Magnus schaltete den Handy-Lautsprecher ein, legte das Telefon auf den Sofarücken und begann nach dem Ordner zu suchen, während er dem Lensmann gleichzeitig zuhörte: »Wie schon erwähnt, war John-Einar sehr daran interessiert, herauszufinden, mit wem Rebekka sich umgab. Und die ganze Zeit meinte er, dass irgendwas fehlt.«

»Ich erinnere mich, dass du das gesagt hast.«

»Trine Vehler hat ausgesagt, dass Rebekka an mehreren Abenden nicht zu Hause war. Und da war sie auch nicht mit Leuten zusammen, die sie von der Hochschule her kannte. Als Trine ihre Cousine gefragt hat, wo sie gewesen sei, hat Rebekka ausweichend geantwortet. So ausweichend, dass klar war, sie wollte nicht antworten.«

»Also hat sie jemanden getroffen.«

»Alles deutet darauf hin.«

»Besonders die Tatsache, dass sie ihrer Cousine nichts erzählen wollte, findest du nicht?«

»Ja, aber so war sie anscheinend.«

Der Aktenordner lag nicht in dem ersten Karton. Magnus schob ihn weg und machte sich über den zweiten her.

»Die Cousine hat erzählt, dass eines Abends bei ihrer Rückkehr Rosen auf dem Tisch gestanden hätten«, fuhr der Lensmann fort, »und dass sie neugierig war, zu erfahren, woher die kamen. Sie ist davon ausgegangen, dass Rebekka sie nicht selbst gekauft hatte, und fragte daher, ob die von einem heimlichen Verehrer stammten. Rebekka hat nur schelmisch gegrinst, was die Cousine natürlich noch neugieriger machte. Und da hat Rebekka schließlich gesagt, sie hätte sie von dem Elefantenmann bekommen. Mehr als das hat sie aber nicht verraten wollen.«

Magnus fand den Ordner fast ganz unten und nahm ihn heraus. Er war so dünn, dass der Inhalt auch in eine einfache Dokumentenmappe gepasst hätte. Er setzte sich aufs Sofa und legte sich den Ordner auf den Schoß. Ganz oben lag die erste Aussage von Sverre Roer.

»Aber«, führte der Lensmann weiter aus, »laut Aussage der Cousine hätte Rebekka auch genauso gut sagen können, dass sie die Rosen vom Weihnachtsmann bekommen hätte. Sie hat Trine nämlich nur allzu gern neugierig gemacht.«

»Elefantenmann ist ja schon ein besonderer Spitzname, eben nicht der Osterhase, oder wie du selbst sagst: der Weihnachtsmann.«

»Nein, wir haben viele Stunden darüber nachgegrübelt. Das war ja sozusagen der Anlass dafür, dass John-Einar meinte, sie würde ein Doppelleben führen. Ein Leben, in dem die Cousine und die Freundinnen vorkamen, und ein anderes nebenher. Bedauerlicherweise sind wir mit diesem Elefantenmann nie weiter als bis zu den Blumen gekommen.«

Magnus hatte die Aussage von Trine Vehler gefunden. Er überflog sie. Da stand nur das, was der Lensmann ihm gerade erzählt hatte.

»Jetzt sind zwar schon zwanzig Jahre vergangen, aber es wäre sicher interessant, sich mal mit dieser Cousine zu unterhalten. Weißt du, wo die zu finden ist?«