Volda, 1999, Tag 77
Er öffnete das Sahnepäckchen und kippte die Hälfte auf den Boden.
»Was machst du da?«, fragte sie.
»Ich dachte, du hättest vielleicht gern Schlagsahne im Kakao?«
»Ja schon, aber …« Sie grinste. »Hä?«
Er schloss die Verpackung und begann sie zu schütteln. Ein glucksendes Geräusch war zu hören.
»Wenn man Sahne schlägt«, sagte er, »dann nimmt das Volumen zu, nicht? Wenn der Karton hier«, er wechselte die Hand und schüttelte weiter, »voll wäre, dann gäbe es nicht genug Platz, und die Sahne könnte nicht steif werden.«
»Darüber habe ich nie zuvor nachgedacht«, sagte sie und nickte anerkennend. »Ganz schön clever! Da habe ich heute wohl etwas dazugelernt.«
»Ja«, sagte er und wechselte erneut die Hand. »Alte Bergsteiger-Tricks.«
Das Glucksen nahm nach und nach ab. Er schüttelte das Päckchen neben ihrem Ohr und sagte: »Hörst du?«
»Nein. Was denn?«
»Es hat aufgehört zu glucksen. Das bedeutet was?«
»Dass die Sahne steif geworden ist«, sagte sie lächelnd.
Er gab Kakao in die Becher und riss das Sahnepäckchen ganz auf. Dann schob er den Löffel hinein und krönte die Kakaobecher mit Schlagsahne. Sie tranken und spähten dabei zu den Berggipfeln im Norden und Osten hinüber sowie zu dem Fjordarm, der die Landschaft etwa fünfhundert Meter weiter unten in zwei Teile teilte. Nebel zog herein. Schon bald würde der Fjord nicht mehr zu sehen sein. Er ließ sie von ihrer Jugend in Mandal berichten, ohne sie auch nur ein einziges Mal zu unterbrechen. Sowohl sie als auch Rebekka waren Einzelkinder. Daher waren sie fast wie Schwestern. Sie hatten alles gemeinsam gemacht, und der Plan für die Zeit nach dem Studium lautete, nach Oslo zu ziehen, sich einen Job an einer Schule beziehungsweise in der Jugendfürsorge zu suchen und dann eine Familie zu gründen.
»Ich werde unseren Traum trotz allem weiterverfolgen«, sagte sie. »Ohne sie wird es in Mandal ziemlich seltsam sein.«
Er sah, dass ihr Becher leer war.
»Mehr?«
»Ein bisschen, vielleicht.«
Er füllte den Becher zur Hälfte wieder auf und gab einen ordentlichen Klecks Schlagsahne hinzu. Sie krümmte die Finger um den Becher und trank. Dabei rückte sie ein Stück näher an ihn heran. Sie stellte den Becher auf den Boden, und er sah, dass ihre Hand die seine suchte, sie jedoch verfehlte. Er wollte abwarten, ob sie ganz allein die Initiative ergriff, so wie Rebekka es bei ihrem zweiten Rendezvous getan hatte.
Sie tat es, ließ den Kopf an seiner Schulter ruhen.
»Danke. Noch mal.«
»Du sollst mir nicht danken«, sagte er.
»Letzte Nacht habe ich zum ersten Mal, seit es passiert ist, in einem Stück durchgeschlafen. Ich möchte, dass du weißt, wie viel du mir schon nach diesen paar Tagen bedeutest.«
»Du mir auch.«
Sie strich mit dem Daumen über seine Finger.
»Ist das dein Ernst?«
»Ja«, sagte er. »Ich werde Silje niemals vergessen, und das möchte ich auch gar nicht, aber ich weiß es einfach. Sie hätte sich gewünscht, dass ich weitergehe, mein Leben weiterlebe, dass ich mal eine Familie gründe, wie wir es uns erträumt haben. Aber ohne sie weiterzugehen, kam mir immer unmöglich vor. Bis jetzt.«
Er spürte, wie sie seine Hand drückte.
»War sie die einzige Freundin, die du hattest?«
»Ja. Und bei dir?«
»Einer. Pelle aus der grünen Zone.«
»Grüne Zone?«
»Ja.« Sie blickte ihn an und lächelte. »Das war im Kindergarten.«
Er gluckste. »Wer von euch hat Schluss gemacht?«
»Er. Hat mich ganz brutal für Elise fallen gelassen. Ich habe geweint, bis meine Nase zu bluten anfing.«
»Oje«, sagte er. »Böse Elise. Aber ist das wahr? Hattest du niemals einen richtigen Freund?«
»Nein …« Sie schüttelte den Kopf. »Nie.«
Sie lehnte den Kopf dicht an seinen, und dieses Mal kam er ihr entgegen. Sie schloss die Augen. Er tat es ihr nach, spürte, wie ihre Lippen auf seine trafen. Sie drückte seine Hand ganz fest.
Er wollte sie noch einmal küssen, den Augenblick ausdehnen. Nachher, dachte er, bevor sie hinuntergehen würden. Und bevor sie sich später trennen würden.
Die Nebelwand war ein Stück weitergezogen. Sie hatte die Westseite des Rotsethorn schon zum Teil verschlungen und trieb jetzt hinüber zur Nordseite. Volda war nicht mehr zu erkennen. Aus dem Osten näherten sich dunkle, kriegerische Wolken. Bald würden auch die nicht mehr zu sehen sein, aber er hatte es schon bemerkt und musste lächeln, als er die Erregung und die Freude in seiner Brust spürte. Denn was er da sah, konnte nichts anderes als ein Zeichen dafür sein, dass es sich um sie handelte. Sie. Die eine, nach der er auf der Suche war, schon seit er angefangen hatte, sich für das andere Geschlecht zu interessieren. Sie, die jetzt dicht neben ihm saß und seine Hand so fest umklammerte, dass es sich anfühlte, als würde sie nie wieder loslassen. Natürlich war er in Rebekka verliebt gewesen, aber das hier war etwas anderes. Das hier war Magie und gleichzeitig etwas Echtes.
»Guck mal«, sagte er und zeigte auf die Wolken im Osten. »Siehst du, wie die aussieht?«
»Nein?«
»Guck genau hin«, sagte er. Es war eine hellgraue Wolke, die an einen Kopf erinnerte. An der Vorderseite konnte man drei Felder in einer dunkleren Farbnuance erkennen. Zwei kleine Punkte für die Augen, und dazwischen ein längerer Streifen, der wie eine lange Nase aussah. Auf jeder Seite des wattigen Kopfes schwebte eine größere Wolke, die zwei riesigen Ohren ähnlich sahen. »Findest du nicht, dass die einem Elefanten ähnelt?«
Er merkte, wie der Griff ihrer Hand unmittelbar nachließ. Sie sah ihn mit seltsamem Blick an, als hätte er etwas gesagt, das überhaupt nichts mit der Realität zu tun hatte. Er blickte erneut nach oben. War die Ähnlichkeit wirklich so schwer zu erkennen? Nein. Fast hätte er gefragt, ob sie schlechte Augen hätte, war aber nicht sicher, ob sie den Scherz verstehen würde.
»Wusstest du übrigens, dass Elefanten aus zwanzig Kilometer Entfernung eine Wasserquelle riechen können?« Das eine Ohr am Himmel löste sich ab, und der Elefant war verschwunden. »Und da behaupten die Menschen immer, dass Hunde so einen guten Geruchssinn haben?«
Er grinste. Ihr Körper war völlig erstarrt, die Augen offen und wie gelähmt vor Angst. Sie erinnerte wieder an ihre Cousine. Genau so hatte Rebekka ihn nämlich angesehen. Nicht am Anfang, als alles gut gewesen war, sondern unten in Elvadalen. In dem Augenblick, als ihr klar geworden war, dass sie sterben würde.