Kapitel 64

Samstag, 23. November

»Die Eltern konnten sie an jenem Wochenende nicht erreichen«, sagte der Lensmann. »Und als sie am Montag nicht in der Hochschule erschien, hat man sie als vermisst gemeldet. Eineinhalb Tage später wurde sie am Rotsethorn von einem Hubschrauber gefunden.«

»Wie waren die Umstände?«

»Die Sache wurde eingestellt. Es lag keine strafbare Handlung vor.«

»Keine strafbare Handlung … Davon scheinst du aber nicht überzeugt zu sein?«

»Doch, aber John-Einar hatte auch erwogen, dass es Selbstmord gewesen sein kann. Trine war furchtbar niedergeschlagen, nachdem sie ihre Cousine verloren hatte. Da es aber nie mehr als eine Theorie war, beschloss John-Einar es als Unfall einzustufen. Ohne zitiert werden zu wollen: Es kann aber gut sein, dass er das wegen der Angehörigen gemacht hat. Es ist einfacher, mit dem Gedanken zu leben, dass ein Kind an den Folgen eines Unfalls gestorben ist, als sich einzugestehen, dass es sich das Leben genommen hat.«

»Es gab nie einen Mordverdacht?«

»Nein.«

»Aber es wurde als verdächtiger Todesfall untersucht?«

»Natürlich.«

»Und ihre Cousine wurde ein paar Wochen zuvor ermordet …«

»Nichts im Zusammenhang mit Trine Vehlers Tod deutete darauf hin, dass es sich um Mord handelte. Ein Bauer hatte gesehen, dass eine junge Frau früh morgens am letzten Hof vor dem Rotsethorn vorbeikam. Die Beschreibung, die er abgab, passte zu ihr: Grüne Allwetterjacke, orange Zipfelmütze. Das Gleiche, was Trine Vehler trug, als sie gefunden wurde. Der Mann hatte an diesem Freitag niemand anderen auf den Berg zugehen sehen. Was daran liegen könnte, dass für den Vormittag etwas Regen gemeldet worden war.«

»Trotzdem hat sie sich für die Tour entschieden.«

»Ja, und das ist der Grund, warum John-Einar unsicher war, ob es sich um Selbstmord oder einen Unfall gehandelt hat. Den Rotsethorn zu besteigen, stellt kein großes Risiko dar. Es gibt gute Sicherheitsvorkehrungen mit Stahltreppen an den steilsten Stellen. Was man nur beachten muss, ist der Nebel, der manchmal ganz plötzlich aufzieht. Wenn das passiert, muss man wissen, wo man entlanggehen kann, um nicht vom Weg abzukommen, sonst kann es nämlich tödlich enden. Und genau das ist Trine passiert. Sie wurde zweihundert Meter unterhalb des markierten Wegs gefunden.«

»Ist es möglich, dass der Sache vielleicht geringere Priorität eingeräumt wurde, weil die Untersuchung des Mordes an Rebekka noch immer in vollem Gange war?«

»Wenn John-Einar gedacht hätte, dass Trine Vehler getötet worden sein könnte, dann hätte er natürlich um Unterstützung durch weitere Ermittler gebeten, aber es gab keinen Anhaltspunkt in diese Richtung. Gar nichts.«

Magnus bedankte sich für die Information und beendete das Gespräch.

»Hast du das mitbekommen?«, fragte er an Anton gewandt und sah auf Trine Vehlers Aussage. »Diese Sache mit den Blumen und diesem Elefantenmenschen …?«

»Ja.«

»Hast du dir mal Gedanken darüber gemacht?«

»Ja.«

Anton ließ den Fernseher nicht aus dem Blick. Seine Lider hingen herab und hatten die Augen zu schmalen Schlitzen verengt.

»Und möchtest du die vielleicht teilen?«

»Nein.«

»Könntest du jetzt bitte mal aufhören, dich wie ein Dreijähriger zu benehmen?«

Anton drehte den Kopf zur Seite, blickte schläfrig zu Magnus hinüber und sagte: »Nein.«

»Du bist ein tragischer Fall.« Magnus schob den Ordner zur Seite, stand vom Sofa auf und ging in Richtung Küche. »Wirklich ein verdammt tragischer Fall.«

Er drehte den Wasserhahn auf, nahm ein Glas aus dem Schrank, hielt zwei Finger unter den Strahl und spürte, wie das Wasser allmählich kälter wurde. Er füllte das Glas und kippte den Inhalt in sich hinein. Dann hielt er es noch einmal unter den Wasserhahn, stellte es auf die Arbeitsplatte und starrte auf das Wasser, das im Abfluss verschwand, während er darüber nachdachte, ob er sich mit Volda genauso irrte wie mit dem Auto, das Cecilie Olin nach Hause gefahren hatte. Im Zusammenhang mit dem Schwarztaxi, das sie benutzt hatte, war sogleich ein Automatismus angesprungen: Sie mussten das Auto und den Fahrer identifizieren. Das war immer noch nicht erledigt, doch inzwischen genoss diese Frage auch keine Priorität mehr. Was hingegen Volda anging, war es ein Bauchgefühl. Das gleiche Bauchgefühl, das Ermittler zu Legenden gemacht hatte. Ermittler wie Harald Uteng und sogar wie der, der im Wohnzimmer auf dem Sofa lag.

Magnus drehte den Wasserhahn zu und trank.

»Ich verstehe, dass du es nicht tun kannst.«

Es war Anton. Er hatte am Küchentisch Platz genommen und starrte aus dem Fenster hinüber zu den Phønix Veranstaltungsräumen.

»Wovon redest du?«

Magnus setzte sich Anton gegenüber.

»Im Fall Nora rumschnüffeln. Ich hätte dich nicht fragen sollen. Tut mir leid.«

»Ist schon gut, Anton.«

»Gibt’s da drüben ’ne Hochzeit?«

»Ich glaub schon. Sollen wir uns ein paar Bier reinzischen und da vorbeischauen?« Magnus glaubte, ein kleines Lächeln hinter dem Bart sehen zu können.

»Ich hab nichts zu trinken da.« Anton schaute auf die Uhr des Handys. »Und der Laden ist schon geschlossen.«

»Ich habe was zu Hause, ich kann losfahren und es holen. Die Braut hat garantiert ein paar Single-Freundinnen«, grinste Magnus. »Vielleicht haben wir heute Abend beide Glück.«

»Und du meinst, wir sollen da einfach reingehen?«

»Wenn wir noch zwei Stunden warten, ist die ganze Truppe sternhagelvoll. Ich bringe auch noch eine Flasche Wein von zu Hause mit, wir wickeln ’ne Schleife drum, und dann reden wir nur noch Nordland-Dialekt. Niemand verweigert zwei fröhlichen Nordländern den Zutritt.«

»Hast du nicht einen Fall zu lösen?«

»Doch, aber ich würde dich heute Abend lieber etwas ausführen, falls du Lust dazu hast. Soll ich nach Hause fahren und die Getränke holen?«

»Nein«, flüsterte Anton und blickte auf den Tisch. »Ich habe doch diesen Didrik Ryde erwähnt.«

»Oh, mein Gott«, seufzte Magnus. »Ja?«

»Er hat an mehreren Orten gearbeitet. Anscheinend sogar an vielen. Aus irgendeinem Grund hält er sich nie längere Zeit an ein und demselben Ort auf. Wie lange er schon in Kalnes arbeitet, ist eigentlich nicht so interessant. Das finde ich sowieso selbst heraus. Ich weiß, dass er im St. Olavs in Trondheim und im Krankenhaus in Tromsø gearbeitet hat. Was ich wissen möchte, und wobei du mir hoffentlich weiterhelfen kannst, ist, herauszufinden, ob etwas an diesen Orten passiert ist, das ihn veranlasst hat, dort aufzuhören.«

»Wenn es da Probleme gegeben hätte, wäre er gefeuert worden«, sagte Magnus. »Dann wäre es wahrscheinlich schwierig für ihn gewesen, einen neuen Job im Gesundheitswesen zu finden, meinst du nicht?«

»Nicht, wenn er es so wie ich gemacht hat: Kündigen, bevor ihn irgendjemand feuern konnte. Wie auch immer: Ich kann nicht anrufen und Fragen stellen. Oder ich kann es schon, aber dann müsste ich so tun, als wäre ich bei der Polizei, und dazu habe ich keine Lust. Sollte nämlich herauskommen, dass ich so etwas getan habe, ist da mit Sicherheit jemand, der meint, ich sei nicht geeignet, in der psychiatrischen Notaufnahme zu arbeiten.«

»Du willst also, dass ich das mache.«

»Du riskierst nichts, und das ist nicht nur etwas, das ich leichtfertig behaupte. Du steckst mitten in einer Mordermittlung – das gibt dir das Recht, fast alles zu tun, was du willst. Und ein bisschen herumzutelefonieren und nach einem ehemaligen Angestellten zu fragen, sollte wohl möglich sein. Denn egal, wie man es dreht und wendet, Tatsache ist, dass er den gleichen Arbeitgeber hat wie Cecilie Olin. Und wenn du ihn treffen würdest, ihn reden hören und ihn reden sehen würdest, dann wäre es dir auch klar.«

»Was wäre mir klar, Anton?« Magnus sah Anton unverwandt an. »Hm? Was würde mir auffallen?«

»Dass etwas mit ihm nicht stimmt. Du brauchst mir jetzt gar keine Antwort zu geben. Ich möchte dich nur wissen lassen, dass es diese Information ist, die ich brauche. Falls weder Trondheim noch Tromsø etwas an ihm auszusetzen haben …«, Anton hielt Magnus die Handflächen entgegen. »… dann ist ja alles gut. Dann lasse ich auch die Finger davon.« Er blickte erneut aus dem Fenster. Im Licht der Straßenlaternen ähnelte der Regen Essstäbchen. »Du hast mich vorhin gefragt, ob ich mir ein paar Gedanken gemacht habe, nachdem du mit dem Lensmann in Volda gesprochen hattest.«

»Ja?«

»Willst du die immer noch hören?«

»Ja.«

»Was den Mord an Rebekka Vehler betrifft, wirst du wahrscheinlich nichts Neues finden können.«

»Warum glaubst du das?«

»John-Einar Gjelsvik, der ehemalige Lensmann da oben, das war einer von der alten Schule, Torp. Polizisten wie er werden heute nicht mehr gemacht. Er war damals einer der Giganten in der Abteilung, in der du jetzt bist und die früher Mordkommission genannt wurde.«

»Ich weiß, aber er war auch nur ein Mensch, und somit kann er auch etwas übersehen haben.«

»Grundsätzlich: Natürlich kann er etwas übersehen haben. Aber vergiss nicht, dass der neue Lensmann sich den Fall auch angesehen hat. In den meisten Mordfällen sind es oft mehrere Dinge, die auf einen Täter hinweisen. Deshalb werden die meisten Morde in Norwegen aufgeklärt. Fakten und Logik, oder? Darüber haben wir beide schon oft gesprochen. Dann gibt es natürlich einige Fälle, bei denen die Polizei nicht weiterkommt. Das kommt zwar immer seltener vor, aber es passiert. In den Neunzigerjahren trat das noch in größerem Umfang auf als heute. Die Technologie entwickelt sich immer weiter. DNA -Analysen und die Auswertung elektronischer Spuren haben in den letzten fünfzehn bis zwanzig Jahren mehr Morde aufgeklärt als Ermittler in den letzten zweihundert. Im Fall Rebekka Vehler gibt es wohl keine unbekannte DNA

»Nein. Kennst du den Fall von früher?«

»Ich habe 1999 bei der Drogenfahndung gearbeitet, deshalb weiß ich nicht mehr als das, was in der Presse stand. Mein Punkt ist, dass du nicht an dem zweifeln darfst, was Gjelsvik und sein Team seinerzeit unternommen haben. Verschwende nicht deine Zeit damit. Du kannst völlig sicher sein, dass das wenige, das sie hatten, hundertmal hinterfragt wurde – allein von Gjelsvik. Und dann gibt es noch das, was der jetzige Lensmann getan hat. Dass er an derselben Stelle wie Gjelsvik steht und nicht weiterkommt, liegt nicht daran, dass sie schlechte Ermittler sind, sondern daran, dass es nichts mehr gibt, mit dem man arbeiten kann.«

»Mein Bauchgefühl sagt, dass ich Volda nicht ignorieren sollte. Auch wenn mir der gesunde Menschenverstand sagt, dass es sich um einen Fehlschuss handelt. Hast du so etwas auch manchmal erlebt?«

»Oft. Wenn Fakten und Logik versagen, musst du deinem Bauchgefühl folgen.« Anton sah ihn mit trüben Augen an. »Das nennt man ›einen Riecher haben‹, und das ist es, was die guten Ermittler von den gewöhnlichen unterscheidet. Darf ich dir einen kleinen Schubs in die richtige Richtung geben?«

»Gerne.«

»Die Cousine.«

»Trine Vehler? Basierend auf dem Telefongespräch, das du eben mitgehört hast, glaubst du nicht, dass es ein Unfall war?«

»Was, wenn da oben auf dem Rotsethorn noch ein anderer gewesen wäre, Torp? Einer, der nicht an diesem Bauern vorbeigelaufen war, der behauptete, sie allein gesehen zu haben. Einer, der eine andere Route gewählt hat. Denn es gibt doch sicherlich nicht nur einen Weg dort hinauf. Möglicherweise hat sie sich auch mit jemandem am Fuß des Berges verabredet. Einer, der vielleicht an dem Hof vorbeigegangen ist, als der Bauer in der Scheune saß und sich um seine Kühe kümmerte. Es gibt unzählige Möglichkeiten.«

»Du meinst also, wer Rebekka Vehler getötet hat, steckt auch hinter dem Tod der Cousine?«

»Ich sage nur, dass du einer Lösung wahrscheinlich nicht näher kommen wirst, indem du weiter im Fall Rebekka Vehler herumgräbst. Was den Tod der Cousine betrifft, kann es hingegen einiges geben, was nicht gut genug untersucht wurde – gerade weil es ein Fall ist, der nie als Mordfall untersucht worden ist.«

»Dann hätten wir es mit einem Serienmörder zu tun«, sagte Magnus. »Ein Serienmörder, der ein Experte darin ist, Mord wie Selbstmord aussehen zu lassen, und der zufällig Didrik Ryde heißt. Deshalb meinst du also, ich sollte mir die Cousine genauer anschauen, nicht wahr? Weil du denkst, dass ihr Tod ebenfalls ein als Selbstmord getarnter Mord gewesen sein könnte?«

Anton gab keine Antwort.

»Genau«, sagte Magnus. »Jetzt habe ich dich endlich durchschaut. Hat zwar zehn Jahre gedauert, aber immerhin.«

Magnus stand auf und steuerte auf das Wohnzimmer zu. Anton drehte sich auf seinem Stuhl zu ihm um.

»Also, was wirst du tun?«

»Ich werde weitersuchen.« Magnus sank zu Boden und zog den Karton zu sich heran, den er erst zur Hälfte durchforstet hatte. »Bis ich die Verbindung finde, die bestätigt, was mein Bauchgefühl sagt.«

»Und was genau sagt dein Bauchgefühl, Torp?«

»Dass wir den Elefantenmann finden müssen.«