Kapitel 66

Sonntag, 24. November

Die Adolph Tidemands gate lag nur ein paar Minuten vom Zentrum Mandals entfernt. Anton bewegte sich zwischen alten weißen Holzhäusern, die dicht gedrängt auf beiden Seiten der schmalen Straße standen, und hielt Ausschau nach der Hausnummer, die ihm am Telefon genannt worden war.

Das Haus lag fast am Ende der Straße. Ein E-Auto glitt lautlos vorbei, als er die steinernen Stufen zur Tür hinaufstieg. Noch ehe Anton klingeln konnte, hörte er das Schloss klicken, und die Tür wurde geöffnet. Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee schlug ihm entgegen. Trine Vehlers Mutter war eine zierliche Frau Mitte sechzig. Sie bedachte Anton mit einem Lächeln, ehe sie seine Hand ergriff und sich vorstellte.

»Leif ist gleich zurück«, sagte Unni Vehler, nachdem sie Anton ins Wohnzimmer geführt hatte. »Ich habe ihn zu Edgars geschickt.«

»Edgars?«

»Die Bäckerei.« Sie ging in die Küche. Porzellan klapperte. »Sie sind ja schon viele Stunden unterwegs, und es ist noch nicht einmal zehn.« Sie brachte eine Kanne Kaffee, ging zurück in die Küche und erschien mit drei Tassen und Tellern wieder im Wohnzimmer. »Wir dachten, dass Sie bestimmt hungrig sind.«

Anton hatte nichts mehr gegessen, seit er und Magnus vor ziemlich genau achtundvierzig Stunden in dem Café in Volda gewesen waren. Er hatte keinen Hunger, wusste aber, dass es besser wäre, etwas zu sich zu nehmen.

»Das wäre doch nicht nötig gewesen«, sagte er und richtete den Blick auf ein gerahmtes Foto auf dem Fernsehtisch. Es zeigte eine Jugendliche im Trachtenkleid vor einer hölzernen Kirche. »Sie hatte Ähnlichkeit mit ihrer Cousine.«

»Die beiden sind ständig für Schwestern gehalten worden.«

Die Haustür wurde geöffnet. Ein groß gewachsener, robuster Mann mit einer Einkaufstüte kam herein. Sein Bart war lang und grau, ein Haarkranz in derselben Farbe zierte seinen Kopf. Er zog Jacke und Schuhe aus, trat ins Wohnzimmer, reichte Anton die Hand und sagte: »Leif Vehler. Sie müssen der Polizist sein?«

»Nun … jedenfalls früher einmal. Anton Brekke.«

»Hm.« Leif Vehler musterte Anton, nickte dann zustimmend in sich hinein und setzte sich etwa einen halben Meter von seiner Frau entfernt auf das Sofa. »Ich habe nicht ganz verstanden, was Unni gesagt hat.«

»Nein?« Anton sank auf den Sessel gegenüber dem Ehepaar.

»Sind neue Erkenntnisse bezüglich Rebekka aufgetaucht?«

»Leif.« Unni tätschelte mit ihrer kleinen Hand die kräftige Pranke ihres Ehemanns. »Lass uns erst mal was essen. Holst du uns einen großen Teller?«

Leif warf einen Blick auf den Tisch, um sich davon zu überzeugen, dass darauf kein großer Teller stand, und erhob sich dann vom Sofa. Unni blickte ihm nach, bis er in der Küche verschwunden war.

»Haben Sie irgendwas mit Henriette und Petter ausgemacht?«, fragte sie.

Henriette und Petter. Rebekkas Eltern. Anton erinnerte sich, ihre Namen in der Nacht gelesen zu haben.

»Nein.«

Leif Vehler kam zurück. Seine Frau schenkte Kaffee ein.

»Wieso nicht?«, fragte der Ehemann, während er die frischen Backwaren auf dem großen Teller anrichtete.

Anton nahm einen Zimtkringel und legte ihn auf seinen Teller. Er blies vorsichtig auf seinen Kaffee und trank etwas, während er das Ehepaar betrachtete, das ihn fragend ansah. Ein Viereck aus Sonnenlicht hatte sich über ein Kreuz gelegt, das an der Wand zwischen den beiden hing. Jesus starrte auf ihn herunter. Anton war schwindelig. Er hätte früher etwas essen sollen. Genauso wie er hätte schlafen sollen; in der Stunde, die er in Gardermoen gewartet hatte, in der Dreiviertelstunde auf dem Flug nach Kristiansand sowie während der Busfahrt nach Mandal.

»Ich …«

Die Worte versiegten, und er holte tief Luft.

»Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte Unni.

»Ja …«, erwiderte er mit geschlossenen Augen. »Kein Problem.«

Anton brach ein Stück von dem Zimtkringel ab und steckte es in den Mund. Er spürte, wie sein Kopf unmittelbar auf den Zucker reagierte, nahm noch ein Stück, kaute und schluckte. Er trank mehr Kaffee und räusperte sich dann. »Sie fragen, warum ich nicht geplant habe, mit Rebekkas Eltern zu sprechen, und d…«

»Verzeihung, dass ich Sie unterbreche«, sagte Leif, »aber welche Rolle spielen Sie in dem Ganzen? Also, weil Sie sagen, dass Sie gar nicht mehr bei der Polizei sind. Sind Sie Privatdetektiv?«

»Das könnte man sagen.«

»Und wer hat Sie angeheuert?«

»Ich mich selbst. Ich habe siebzehn Jahre als Mordermittler hinter mir, und es gibt da ein paar Dinge bei der Untersuchung des Mordes an Rebekka, die meiner Meinung nach noch einmal genauer angeschaut werden sollten.«

»Wie etwa?«

»Die Kripo und der Polizeidistrikt Øst vermuten, dass es einen Zusammenhang mit der Ermordung von Cecilie Olin gibt.« Er ließ den Blick zwischen den beiden hin- und herfahren. »Die Krankenschwester, die am letzten Wochenende in Fredrikstad als vermisst gemeldet wurde.«

Unni riss die Augen auf.

»Wir haben in den Nachrichten davon gehört.«

»Sollten Sie da nicht erst recht mit Henriette und Petter reden?«, fragte Leif.

»Nein …«, sagte Anton mit gedämpfter Stimme und schüttelte den Kopf, während er auf den Gebäckteller blickte. »Der Fall ist so oft und so genau untersucht worden, dass meiner Ansicht nach nichts Neues dabei herauskommen könnte. Meine ehemaligen Kollegen und ich sind in dieser Hinsicht etwas uneinig, aber sei’s drum. Was mich interessiert, ist Trine. Sie ist ja nicht viel später umgekommen. In der Zeit zwischen Rebekkas Tod und dem Dahinscheiden Ihrer Tochter, hatten Sie da viel Kontakt mit ihr?«

»Fast jeden Tag«, sagte die Mutter. »Wir wollten, dass sie eine Weile hier bei uns bleibt. Wir sind an dem Donnerstag, als der Lensmann anrief und von den Geschehnissen berichtete, zusammen mit Rebekkas Eltern nach Volda gefahren. Leif und ich sind am nächsten Vormittag wieder abgereist. Trine ist mit uns gekommen und nach der Beerdigung ein paar Tage geblieben, ehe sie dann zurück nach Volda fuhr.«

»Das hätte sie nicht tun sollen«, murmelte der Vater. »Wir haben ja gesehen, dass es ihr nicht gut ging, aber sie hat darauf bestanden. Sie wollte zurück und sich mit etwas anderem beschäftigen.«

»Ja«, sagte Unni, »hier zu Hause gab es ja nichts anderes zu tun, als sich mit Rebekka zu beschäftigen, und das hat wirklich an ihr gezehrt. Die beiden waren so , wissen Sie?« Sie kreuzte Zeige- und Mittelfinger. »Unzertrennlich. Wir haben auch nicht wirklich verstanden, was dabei herauskommen sollte, wieder da oben zu sein, in dieser Wohnung, die sie sich geteilt haben, aber sie war schon damit beschäftigt, sich eine andere Bleibe zu suchen.«

Leif griff nach seiner Tasse, stellte sie auf seinen Oberschenkel und blickte sie nachdenklich an.

»Wie ich es verstanden habe, war eine Zeit lang etwas unklar, ob es ein Unglück oder S…«

»Es war ein Unglück«, unterbrach die Mutter. »Kein Selbstmord. Sie ist gestürzt.«

»Wissen Sie, was sie so gemacht hat? Also, womit sie sich zwischen den Unterrichtsstunden beschäftigt hat?«

»Nach Rebekkas Tod war sie im Großen und Ganzen für sich, aber das hat sie so gewollt. Sie wollte in Frieden gelassen werden. Die letzte Woche vor ihrem Tod waren da oben Herbstferien. Die meisten Studenten sind nach Hause gefahren, und wir haben sie gebeten, das auch zu tun, aber sie meinte, sie müsste noch so viel Lernstoff nachholen.«

»Was die Untersuchung des Mordes an Rebekka betrifft, hatte ich den Eindruck, dass der Lensmann seinerzeit Informationen über ihr Privatleben vermisst hat. Und da oben gab es wohl kaum jemanden, der etwas darüber sagen konnte. Einschließlich Trine.«

»Wir wissen jedenfalls auch nicht mehr.«

»Das verstehe ich natürlich, aber … Wie schon gesagt, ich interessiere mich sehr für Trine. Womit hat sie sich beschäftigt?«

Die Eltern blickten einander an.

»Meinen Sie vor oder nach dem Mord?«, fragte die Mutter.

»Sowohl als auch«, antwortete Anton.

»Na ja …«, sagte die Mutter und atmete aus. »Es ging überwiegend um die Hochschule. Sie hat viel zusammen mit den anderen Mädchen gelernt, mit denen sie dort war. Rebekka und Trine absolvierten verschiedene Studiengänge, da waren sie meistens nur abends zusammen.« Sie sah ihren Ehemann an. »Die haben da oben doch zwei verschiedene Leben geführt, meinst du nicht?«

Er nickte still und spähte weiter in seine Kaffeetasse.

»Und nach Rebekkas Tod«, fuhr die Mutter fort, »ist Trine in ein Loch gefallen. Ich glaube, sie hat im Großen und Ganzen nur noch mit uns gesprochen.«

»Sie hat in der Zeit nicht vielleicht irgendeinen Namen erwähnt?«

»Nein …«, erwiderte die Mutter nachdenklich und schüttelte den Kopf. »Nein. Nichts dergleichen. Sie war die ganze Zeit für sich, wollte allein sein.«

»Die Trauergruppe.« Der Vater befeuchtete die Lippen und sah seine Frau an. »Sie ist zu dieser Trauergruppe gegangen, aber nach dem, was mit Rebekka passiert ist, war das vermutlich der einzige soziale Kontakt.«

»Ach ja?«, sagte Anton. »Ist sie dort regelmäßig hingegangen?«

»Ja, sofort als sie nach Volda zurückkam, hat sie sich dieser Gruppe angeschlossen«, erwiderte die Mutter. »Und es hat ihr geholfen. Ich weiß noch, dass ich das in der Woche vor ihrem Tod deutlich gemerkt habe. Diese Treffen haben ihr gutgetan.« Unni sah erneut ihren Ehemann an. »Findest du nicht, Leif? Hm?«

Er nickte.

»Ich weiß ja nicht, wie genau Trines Tod seinerzeit untersucht worden ist, gehe aber davon aus, dass der Lensmann in Volda über ihren sozialen Umgang in den letzten Wochen informiert worden ist?«

»Ja, wir haben ihm erzählt, dass sie zu dieser Trauergruppe ging«, sagte der Vater, »aber das hatte keine Bedeutung. Trines Tod war ja ein Unglück.«

Anton schob zwei Finger in den Henkel der Kaffeetasse.

»Wissen Sie noch, wer diese Trauergruppe geleitet hat?«

»Nein«, sagte die Mutter nach kurzem Nachdenken. »Daran erinnere ich mich nicht, aber die Treffen waren in Ørsta, sie ist zweimal pro Woche dahin gefahren.«

»Haben Sie Trine jemals von einem Didrik sprechen hören?«

»Didrik …«, wiederholte die Mutter leise. »Ich glaube nicht. Leif?«

»Nein«, sagte der Vater verdrossen.

»Wieso?«, fragte die Mutter. »Wer ist denn dieser Didrik?«

»Nur ein Name, den ich einzuordnen versuche.« Anton lächelte sie beruhigend an. »Die Mädchen haben ja eng zusammengelebt.«

»Wird dieser Didrik von der Polizei verdächtigt, etwas mit dem Mord an Rebekka zu tun zu haben?«

»Momentan gibt es gar nichts, was diesen Didrik mit Volda verbindet. Auch nicht mit dem Mord an Cecilie Olin.«

»Aber was hat er dann mit der Sache zu tun? Warum fragen Sie nach ihm?«, wollte Unni wissen.

Sie betrachtete Anton mit der gleichen Skepsis, die ihr Mann beim Hereinkommen gezeigt hatte.

»Es ist lediglich ein Name, der aufgetaucht ist«, sagte Anton. »Es tauchen ständig irgendwelche Namen auf. Dutzende. Manchmal auch Hunderte. Und am Ende geht es darum, mit nur einem Namen dazustehen. Sie können sich nicht vielleicht noch an andere erinnern, die Trine in der letzten Zeit am Telefon erwähnt hat? Niemand, den sie vielleicht treffen wollte oder der zu Besuch gekommen ist?«

»Aud«, sagte der Vater. »Sie hat ständig von einer Aud gesprochen.«

»Aud?«

»Aud war eine von den anderen, die an den Treffen teilgenommen haben«, fuhr Unni fort. »Sie hat Trine so leidgetan. Kurz nach der Geburt ihres Sohnes ist ihr Mann bei einem Unfall ums Leben gekommen, und das Kind ist dann als Teenager an Krebs gestorben. Trine hat viel Unterstützung von ihr bekommen, soviel ich weiß.«

»Wissen Sie, wie diese Aud mit Nachnamen heißt?«

»Irgendwas mit V«, sagte die Mutter. »Viker?«

»Vikene«, korrigierte der Vater.

»Sind Sie ihr begegnet?«

»Ja, sie und drei andere aus der Trauergruppe waren hier und haben an Trines Beerdigung teilgenommen.«

»Ähm …« der Vater blickte auf und sah Anton zum ersten Mal seit Langem an. »Ich verstehe das nicht. Weswegen sind Sie so neugierig auf Trine, wenn es doch um Rebekka gehen soll?«

Anton erwiderte den Blick des Vaters, ehe er antwortete: »Ich möchte Sie mit Theorien und Spekulationen verschonen, aber … Verzeihen Sie mir, wenn das jetzt so hart und brutal rüberkommt.«

Unni ließ sich von ihrem Mann die Hand drücken, die gänzlich in seiner großen Pranke verschwand.

»Rebekka wurde ermordet«, fuhr Anton fort, »und dann stirbt Trine etwa einen Monat später. Die Polizei vermutet Selbstmord. Unmöglich, sagen Sie, es muss ein Unfall gewesen sein. Und d…«

»Sie hat sich nicht das Leben genommen«, unterbrach ihn die Mutter mit feuchten Augen. »Wir haben unsere Tochter gut gekannt. Das ist absolut unmöglich.«

»Ich glaube auch nicht, dass sie sich das Leben genommen hat«, entgegnete Anton. »Tatsächlich glaube ich, dass die Untersuchung von Trines Tod wegen des Mordfalls nicht so hohe Priorität genossen hat. Bei Rebekka handelte es sich ganz offenbar um einen Mord, der von einem unbekannten Täter begangen wurde. Die absolut schwierigste Aufgabe, der die Polizei gegenüberstehen kann. Nichts deutete darauf hin, dass Trines Tod etwas anderes als ein Unfall war. Und die Ermittler standen bei der Untersuchung des Mordes an Rebekka vermutlich so unter Druck, dass sie keine Zeit und keine Ressourcen auf weitere Ermittlungen zu Trines Tod verwenden wollten.«

»Es war ein Unfall«, schluchzte die Mutter. »Der Nebel hat sie urplötzlich überrascht, das hat man uns berichtet. Sie ist vom Weg abgekommen.«

»Ja, es kann ein Unfall gewesen sein. Aber meine ganze Erfahrung sagt mir, dass jemand untersuchen muss, ob womöglich nicht die dritte Möglichkeit zum Tod Ihrer Tochter geführt hat. Und momentan bin allein ich es, der daran interessiert ist, das zu tun. Und deshalb bin ich auch hier bei Ihnen, und nicht bei Rebekkas Eltern.«

»Die dritte Möglichkeit?«, fragte die Mutter.

Der Vater ließ ihre Hand los, erhob sich vom Sofa und bewegte sich in Richtung Flur.

»Verstehst du das nicht, Unni?« Mit dem Rücken zu ihnen blieb er stehen. »Was er sagen will, ist, dass Trine vielleicht ebenfalls ermordet worden ist.«

*

»Ja, natürlich erinnere ich mich an Trine«, sagte Aud Vikene. »Ein reizendes Mädchen.« Sie seufzte. »Was für eine Tragödie das war. Die Ärmste. Ich denke noch oft an sie. Kannten Sie sie? Wie war noch mal Ihr Name, bitte?«

Anton saß ganz hinten in dem Bus, der ihn zurück zum Flughafen Kristiansand bringen sollte. Über die Sitzlehnen hinweg konnte er vier Passagiere ausmachen. Der Sonntagsverkehr auf der E39 floss leicht dahin. Er stützte den Arm am Fensterrahmen ab und hielt sich das Handy ans Ohr.

»Anton Brekke. Ich sehe mir gerade die Umstände ihres Todes genauer an.«

»Umstände?«

»Obwohl das schon lange her ist, hatte ich gehofft, dass Sie mir bei ein paar Fragen weiterhelfen können.«

»Wenn Sie meinen. Fragen Sie nur. Ich antworte, so gut ich kann.«

»Können Sie sich erinnern, ob Trine irgendwann mal einen Didrik erwähnt hat.«

»Didrik, Didrik, Didrik …«, sagte Aud Vikene. »Hat er tatsächlich so geheißen?«

»Wer?«

»Bei zwei der Treffen war auch ein netter junger Mann dabei. Er war in Trines Alter. Vielleicht ein oder zwei Jahre älter. Die haben sich ein bisschen unterhalten, weiß ich noch. Jedenfalls hat er Kontakt zu ihr gesucht.«

»Und dieser Mann kann Didrik geheißen haben?«

»Ja«, erwiderte sie nachdenklich. »Kann gut sein.«

»Haben Sie eine E-Mail-Adresse?«

»Natürlich habe ich E-Mail.«

Nachdem er die Adresse notiert hatte, bat Anton sie, am Apparat zu bleiben. Er loggte sich bei Facebook ein und rief Didrik Rydes Profil auf. Auf seiner Seite gab es nur ein Foto: Er saß dick angezogen neben einem Lagerfeuer. Anton speicherte das Foto ab, hängte es seiner E-Mail an Aud Vikene an und tippte auf Senden . Anscheinend saß sie gleich neben ihrem Computer, denn nur einen Augenblick später konnte Anton ein Pling hören.

»Jetzt ist was angekommen«, sagte sie. »Einen Augenblick.«

Ein scharfes Geräusch ertönte in seinem Ohr, als ob Aud Vikene das Telefon auf den Tisch gelegt hätte. Wenige Sekunden später war sie wieder dran.

»Ich sehe mir gerade das Foto an.«

»Kann er dieser nette junge Mann gewesen sein?«, fragte Anton.

»Ja, das wäre durchaus möglich, auch wenn er jetzt natürlich viel älter ist. Worum geht es hier eigentlich? Untersucht die Polizei jetzt wieder Trines Unfall, nach so langer Zeit?«

»Ich engagiere mich privat und versuche herauszubekommen, was an diesem Tag auf dem Rotsethorn geschehen ist. Ich glaube nicht, dass die Polizei seinerzeit genug getan hat.«

»Oh … nein, also … Ich möchte jetzt wirklich nicht zu dem ganzen Klatsch und den Gerüchten beitragen, aber es hieß ja, dass Trine sich vielleicht das Leben genommen hat. Daran habe ich nie geglaubt – nur, damit es gesagt ist –, aber dass sie da oben im Nebel vom Weg abgekommen ist? Absolut möglich. Obwohl es seit dem letzten Mal schon lange her ist, bin ich aber doch öfter selbst da oben gewesen. Und wenn der Nebel kommt, sollte man in aller Ruhe abwarten, bis er sich wieder verzogen hat. Es sei denn, man kennt das Terrain gut.«

»Aber können Sie mir etwas über ihn erzählen? Wie war er denn so?«

»Weshalb interessieren Sie sich eigentlich so sehr für ihn?«

»Weil er nie vernommen worden ist. Und da Trine Kontakt mit ihm hatte, kann es vielleicht sein, dass sie ihm Dinge erzählt hat, die sie niemand anderem anvertrauen wollte. Irgendetwas, das die verschiedenen Theorien über die Ereignisse dort oben entweder untermauern oder eben schwächen könnte. Deshalb versuche ich herauszufinden, wo er sich aufhält.« Anton hielt die Luft an; seine Argumentation war ziemlich dünn.

»Ach so … Ich verstehe … Nein, nichts Besonderes, da saß bloß plötzlich ein Kerl mit uns zusammen. Höflich. Verständnisvoll. Vernünftig. Redegewandt. Ja, kurz und gut, ein angenehmer junger Mann. Beim nächsten Treffen ist er mit ihr zusammen aufgetaucht und danach auch wieder mit ihr gefahren. Wir anderen fanden das nett. Dass die beiden einander vielleicht Trost und Unterstützung bieten konnten. Der Ärmste hatte seine Freundin verloren. Das Mädchen ist auch nicht alt geworden. Nach Trines Tod haben wir viel über ihn gesprochen, er ist dann nämlich nicht wiedergekommen.«

»Er ist gar nicht mehr aufgetaucht?«

»Ich weiß nicht, wo er abgeblieben ist, aber er war danach nur noch bei einem Treffen. Da war er furchtbar niedergeschlagen, aber wir fanden es seltsam, dass er dann verschwunden ist. Wir hatten damit gerechnet, ihn wiederzusehen – deswegen waren wir ja da. Alle aus der Trauergruppe. Es ist ihm vermutlich zu kompliziert geworden. Aber wissen Sie was, je mehr ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich mir, dass er Didrik hieß.«

»Gibt es da noch jemand anderen von den damaligen Gruppentreffen, den Sie fragen könnten?«

»Ich kann mal Laila fragen. Sie weiß ganz genau, wer alles an der Gruppe teilgenommen hat.«

»Laila?«

»Sie hat die Gruppe damals geleitet. Sie lebt jetzt in einem Pflegeheim, aber ich wollte sie heute Nachmittag ohnehin besuchen. Ich könnte Sie später anrufen?«

»Vielen Dank«, sagte Anton.

Er konnte ruhig eine Weile auf die Bestätigung warten. Denn jetzt war er sicher.