Sonntag, 24. November
»Hier ist eine Randi Kristoffersen, die meint, sie hätte an dem besagten Abend eine junge Frau in Richtung Elvadalen gehen sehen«, sagte Kristin. »Die Beschreibung passt auf Rebekka Vehler.«
Sie saß hinter dem Sofa auf dem Fußboden. Magnus Torp hatte einen Pappkarton mit in die Küche genommen. Er blätterte und las abwechselnd im Stehen oder am Tisch sitzend in den Unterlagen.
»Ich habe gerade die zweite Vernehmung von Randi Kristoffersen gelesen«, entgegnete Magnus, ohne von den Papieren aufzublicken. »Da steht, dass sie die Tage verwechselt hat und dass die Angaben, die sie bei der ersten Vernehmung gemacht hat, demnach nicht stimmen. Das kannst du also ignorieren.«
Kristin sah wieder auf das Protokoll. Magnus Torp hatte recht; es handelte sich um die erste Vernehmung. Sie legte es auf den Stapel aus Papieren, Dokumenten und Vernehmungsprotokollen, die sie bereits durchgesehen hatte. Er war etwa fünf bis sechs Zentimeter dick. Der Stapel auf dem Küchentisch maß mindestens zwanzig.
»Hast du die ganze Nacht über gelesen?«, fragte sie und drehte den Kopf hin und her. Irgendwo in ihrem Nacken knackte es. »Und seit du heute Morgen aufgestanden bist?«
Magnus gab keine Antwort.
»Wollen wir in einer Stunde mal eine Kaffeepause machen? Und etwas frische Luft schnappen?«
»Mhm«, erwiderte er gleichgültig.
Gesprächiger Typ, dachte Kristin, stand auf und bewegte den Rücken von einer Seite zur anderen. Das Handy klingelte. Sie fischte es aus der Tasche. Tony I . leuchtete ihr auf dem Display entgegen. Sie ging hinaus in den Flur und nahm den Anruf an.
»Hallo«, ließ sich Tony Isdahl vernehmen. »Du, ein Kumpel und ich haben da ein paar Hummerreusen, die wir heute Abend aus dem Wasser ziehen wollen. Hast du Lust mitzukommen?«
»Klar hab ich das, aber ich weiß noch gar nicht, wie lange wir heute hier noch arbeiten werden.«
»Meinst du nicht, ihr seid zum Abend hin fertig?«
»Also«, Kristin dämpfte ihre Stimme, »das hoffe ich.« Sie sah auf die Uhr. »Wir sitzen hier schon seit vier Stunden, und der andere sagt keinen Ton.« Sie ging zu einem Flüstern über: »Kein Scheiß. Da kommt bloß ja, nein oder mhm. «
»Klingt jedenfalls nicht so, als hätte ich Grund zur Eifersucht.«
»Nicht wirklich.« Kristin streckte den Hals, spähte zur Küche hinüber und konnte gerade noch Magnus Torps Schulter sehen. »Ich glaube auch nicht, dass das irgendwas bringt, aber …«
»Was macht ihr denn eigentlich?«
Kristin überlegte, was sie sagen könnte.
»Wir …« Sie blickte abermals in Richtung Küche. Magnus Torp hatte sich nicht gerührt. »Wir gucken uns einen alten Fall an, der nach Ansicht dieses Kripotypen mit unserem hier zusammenhängen kann. Also , frag bitte nicht weiter.«
»Du meinst, dass Lisettes Verschwinden mit einem alten Fall zusammenhängen kann? Wie das denn?«
»Tony …«
»Okay, okay. Ich werde dich nicht weiter quälen, aber kannst du ihn nicht fragen, wie lange ihr da noch rumhocken müsst?«
»Nein, kann ich nicht.« Sie merkte, dass ihr Ton nach Zurechtweisung klang. »Ich habe mich selbst für diesen Job angeboten.«
»Oh, excusez-moi«, sagte Tony und kicherte. »Vikerhavn um neunzehn Uhr. Ich erwarte, dich dort zu sehen. Und wenn du kein braves Mädchen bist, dann kommt der Hummer und kneift dich.«
»Aber d…«
Die Verbindung wurde unterbrochen. Tony hatte aufgelegt. Kristin blickte auf das Handy in ihrer Hand und grinste.
Sie ging wieder zurück, griff nach dem Karton, der nur eine Zeitleiste, eine Landkarte und ein paar alte Zeitungen zu enthalten schien. Sie nahm ihn mit in die Küche, stellte ihn auf den Tisch und setzte sich Magnus Torp gegenüber. Kristin nahm das Blatt mit der Zeitleiste heraus, hielt es zwischen ausgestreckten Armen und betrachtete es ein paar Sekunden lang, ehe sie es in den Karton zurücklegte.
»Schöne Wohnung, übrigens. Groß.«
»Nicht meine«, erwiderte Magnus in Richtung Tischplatte. »Ein Kumpel von mir wohnt hier. Er ist zurzeit ein wenig einsam, deshalb bin ich ein paar Nächte hier gewesen.« Er sah auf. Kristin glaubte, ein schwaches Lächeln zu erkennen. »Aber stimmt, die Wohnung ist schön.«
Er ließ den Blick wieder sinken, legte die Papiere in seiner Hand zur Seite und fischte neue Unterlagen aus dem Karton auf dem Fußboden. Kristin nahm den Zeitungsstapel aus dem anderen Karton. Es waren sechs Ausgaben. Vier stammten von Sunnmørsposten . Zwei von Møre-Nytt . Alle berichteten von dem Mord an Rebekka. Kristin nahm das oberste Exemplar, die Møre-Nytt von Freitag, dem 24. September 1999 – der Tag nach dem Leichenfund. Junge Frau in Elvadalen ermordet , stand da in großen Buchstaben. Darunter war ein von der Hauptstraße aus aufgenommenes Foto vom Tatort. Man sah einen zugedeckten Körper, darum herum Kriminaltechniker in weißen Overalls. Kristin öffnete die Zeitung und blätterte bis zu dem entsprechenden Artikel vor. In der rechten oberen Ecke war ein Foto des Lensmanns mit Namen John-Einar Gjelsvik. Er bat um mögliche Hinweise aus der Bevölkerung. Kristin las den Artikel ganz durch.
»Ist das nicht seltsam«, begann sie, »dass bestimmte Fälle nie vergessen werden und sogar nach zwanzig oder dreißig Jahren so viel Aufmerksamkeit bekommen, während andere …« Sie legte die Zeitung weg. »Tja … vergessen werden.«
»Mir ist heute genau das Gleiche durch den Kopf gegangen.«
»Ist das nicht schrecklich?«
»Ja, aber wenn da nicht mehr rauszuholen ist, dann ist das eben so.« Magnus zuckte mit den Schultern. »Aber vielleicht haben wir ja Glück und finden jetzt eine Lösung für das hier.«
»Du bist ja mit allen Wassern gewaschen«, sagte Kristin. »Ich hatte noch nie einen Fall wie diesen.«
»Dein erster Mord?«
»Noch wissen wir ja nicht mit Sicherheit, dass Lisette Ness tot ist, aber ja. Wie lange bist du eigentlich schon bei der Kripo?«
»Drei Jahre.«
»Ah.«
»Du wirkst überrascht. Anscheinend bist du nicht sehr beeindruckt.«
Kristin grinste.
»So war das nicht gemeint. Ich dachte mehr, dass du in meinem Alter zu sein scheinst, und dann leitest du die Ermittlungen.«
»Weberg ist der Leiter der Ermittlungen. Ich habe nur beratende Funktion.«
»Ja, ja, aber du verstehst doch, was ich meine. Du vertrittst die Kripo.«
Er sah sie kurz an. Lächelte. Jedenfalls beinahe.
»Ich hatte einen guten Mentor.«
Magnus Torp war aufgetaut. Wie lang hatte das gedauert? Viereinhalb Stunden? In einer Dreiviertelstunde würde sie erneut die Kaffeepause vorschlagen. Sie nahm die nächste Zeitung aus dem Stapel. Sunnmørsposten . Die Ausgabe war vier Tage nach Auffinden der Leiche erschienen. Glaubt an Lösung , stand über dem Foto von Lensmann Gjelsvik auf der Titelseite. Darunter, nur getrennt durch eine schmale Anzeige, war ein Foto des legendären Eisschnellläufers Johann Olav Koss abgebildet. Kristin inspizierte es, ließ die Zeitung sinken, sah Magnus Torp an und blickte dann wieder auf die Zeitung. Sie blätterte zu den Sportseiten vor. Olympiaheld von 94 besucht lokalen Eislaufclub , stand über zwei ganze Seiten geschrieben. Darunter war der ehemalige Weltmeister mit einer Gruppe von Teenagern abgebildet, die Eislaufkleidung trugen und die Hände in die Luft reckten. Kristin drehte die Zeitung um und sagte: »Siehst du, wem er ähnelt?«
Magnus Torp blickte kaum auf.
»Nein.«
»Dir.«
»Johann Olav Koss?«
»Ja. Ihr habt fast die gleichen Gesichtszüge.«
»Schade, dass wir nicht die gleichen Beine haben.«
Kristin lachte, nahm die Zeitung herunter und überflog die Einleitung. Plötzlich spürte sie, wie ihr der Schweiß ausbrach. Er lief an ihr herunter wie während der Minuten, wenn sie in der Polizeistation Moss aus dem Fitnessraum im Keller kam. Wenn dem Körper klar wurde, dass die Qual vorüber war und er die Feuchtigkeit nicht länger festhielt, sondern die Schleusen öffnete.
»Torp«, sagte sie. »Sieh mal hier.«
Er musste ihrem Ton entnommen haben, dass es etwas Ernstes gab, denn nicht einmal anderthalb Sekunden später stand er neben ihr und blickte auf die Verfasserzeile oberhalb von Kristins Zeigefinger: Elias Ness – Sportjournalist.