Sonntag, 24. November
Es war halb sieben geworden. Die letzten drei Stunden hatten sie damit zugebracht, den Aufenthaltsort von Elias Ness zu eruieren. Helge P. und Cathrine Mathisen hatten sich mit den Ermittlern, die am Vortag zum Team dazugestoßen waren, ins Nebenzimmer gesetzt. Lars Weberg telefonierte in regelmäßigen Abständen mit der Einsatzzentrale. Die Grenzposten waren alarmiert worden, ebenso Europol. Magnus stand am Fenster und behielt Bjørn Farsund im Auge, der mit seinem Anwalt den beleuchteten Parkplatz vor dem Polizeigebäude überquerte. Der Anwalt setzte sich ans Steuer. Bjørn Farsund blieb ruhig in der geöffneten Beifahrertür stehen. Dann drehte er sich langsam um und blickte hinauf zu Magnus. Als ob er es ahnte, beobachtet zu werden.
»Weberg«, sagte Magnus.
Ein paar Stuhlbeine schabten über das Linoleum. Lars Weberg stand auf, stellte sich neben Magnus und sagte: »Man kann es ja von hier aus sehen, dass er wütend ist.«
»Ja, aber dieses Mal ist es absolut verständlich.«
Sie setzten sich an den Tisch. Kristin Mayer sah auf die Uhr.
»Du kannst gehen, Mayer.«
»Aber nein«, erwiderte sie. »Ich bleibe so lange wie ihr.«
»Ich habe selbst schon daran gedacht, Feierabend zu machen. Viel mehr lässt sich eh nicht mehr erledigen. Oder, Torp?«
»Nein«, sagte Magnus. »Falls wir ihn im Laufe des Abends oder der Nacht nicht ausfindig machen, geben wir der Presse grünes Licht, ein Foto von ihm zu veröffentlichen. Dann sollte es eigentlich schnell gehen.«
»Und du, Mayer. Mein Wutausbruch vorhin tut mir leid.«
»Da muss dir nichts leidtun«, erwiderte sie. »Das war ein Riesenfehler, und die Standpauke habe ich verdient, aber ich war so fokussiert auf diese Journalistenausbildung, dass ich nicht daran gedacht habe, wohin er nach der Ausbildung gezogen ist. Dass er angefangen hat, in Ålesund zu arbeiten, ist … das ist mir gar nicht in den Sinn gekommen.«
»Mir ebenfalls nicht.«
Lars Weberg erhob sich. Kristin Mayer folgte seinem Beispiel.
»Bleibst du noch, Torp?«, fragte Lars Weberg und stopfte sein Handy in die Tasche.
»Nein«, erwiderte Magnus leise und schüttelte den Kopf. »Ich überlege gerade, noch etwas Fitness zu machen.«
»Das sollte ich auch tun«, sagte Kristin Mayer. »Aber wenn wir jetzt Schluss machen, fahre ich los und hole Hummerreusen aus dem Wasser.«
»Jetzt?«, fragte Lars Weberg.
»Ja, um sieben.«
Lars Weberg schaute aus dem Fenster. Die Novemberdunkelheit hatte Grålum schon längst eingehüllt.
»Ist das erlaubt um diese Jahreszeit?«
»Aber ist die Hummersaison nicht doch jetzt?«
Kristin Mayer sah ihre beiden Kollegen fragend an.
»Ja«, sagte Lars Weberg, »das stimmt, aber früher musste man die Reusen hochziehen, bevor es dunkel wurde. Weißt du, ob das immer noch so ist, Torp?«
»Ich weiß kaum, wo bei ’ner Hummerreuse oben und unten ist«, erwiderte dieser grinsend.
»Ich glaube, der Typ, mit dem ich dorthin fahre, weiß schon, was er da treibt.« Kristin Mayer ging zur Tür. »Wir sehen uns morgen.«
»Ich finde, das war eine gute Idee«, sagte Magnus, sobald die Tür ins Schloss gefallen war.
»Um Entschuldigung zu bitten?«
»Ja.«
»Ich habe vorhin einfach den Kopf verloren. Tut mir leid.«
»Denk nicht weiter daran.« Magnus machte eine wegwerfende Handbewegung. Er blickte auf den Tisch, auf dem Papiere und Ordner in heillosem Durcheinander lagen. Er nahm Sunnmørsposten in die Hand, starrte auf den Artikel und die Verfasserzeile. Er überflog zum neunten Mal an diesem Tag die Einleitung und hörte gleichzeitig, wie der Kollege auf die Tür zutrat.
»Weberg?«
»Ja.«
Magnus hielt ihm die geöffnete Zeitung entgegen.
»Findest du, dass ich Ähnlichkeit mit dem habe?«
»Hm.« Lars Weberg streckte den Kopf vor, spähte auf das Zeitungsfoto und grinste. »Ein bisschen, vielleicht.« Er drehte sich um und ging weiter. »Wir telefonieren, falls was sein sollte. Fahr nach Hause und ruh dich etwas aus.«
Magnus war allein. Er legte die Zeitung zurück auf den Tisch und griff nach ein paar Seiten, die zusammengeheftet waren. Es war die Transkription der Vernehmung, die Lars Weberg mit Adele Ferking, Cecilie Olins Freundin, durchgeführt hatte. Er las die ersten Zeilen und legte die Seiten wieder weg, lehnte sich zurück und seufzte. Dann streckte er die Füße aus, holte sein Handy hervor und wählte die zuletzt verwendete Nummer.
»Ja«, meldete Anton sich.
Magnus hörte, dass im Hintergrund der Fernseher lief.
»Wie geht’s dir?«
»Jetzt besser.«
»Dann waren meine Informationen also nützlich für dich?«
»Ja, ich erzähle es dir später genau, aber kurzgefasst: Didrik Ryde wird nicht länger im Gesundheitswesen arbeiten. Besten Dank, übrigens. Darf ich dir heute Abend eine Pizza spendieren?«
Magnus richtete sich auf. Wo zuvor die Transkription gelegen hatte, sah er den durchsichtigen Verschlussbeutel, der Cecilie Olins Brief an Bjørn Farsund enthielt. Plötzlich fiel ihm ein, dass er Fredrik Olin versprochen hatte, sich den Brief ansehen zu dürfen. Magnus nahm den Beutel, blickte lächelnd auf das Handy und sagte: »Wir wissen doch beide, dass ich derjenige bin, der für die Pizza bezahlen wird.«
»Halt die Klappe. Ich hab die Taschen voller Zaster.«
»Stimmt«, sagte Magnus und kicherte. »Das hatte ich vergessen. Ich muss nur noch kurz bei Fredrik Olin in Skjærviken vorbei.«
»Ist das so wichtig, dass das nicht bis morgen warten kann? Ich habe nämlich schon ein großes Loch im Bauch.«
»Eigentlich schon.« Magnus erzählte von dem Brief. »Und angesichts der Tatsache, dass Bjørn Farsund gerade freigelassen wurde, schätze ich, dass der Brief morgen zurückgegeben werden muss.«
»Nicht ganz nach Vorschrift, ihn den Ehemann des Opfers lesen zu lassen.«
»Ich weiß«, entgegnete Magnus, »aber ich hab’s ihm versprochen.«
»Gut zu wissen, dass du doch ein Mensch bist. Und vergiss nicht die Extraportion Fleisch.«