Sonntag, 24. November
Kristin parkte ihren Wagen neben dem einzigen anderen Fahrzeug weit und breit. Als sie ausstieg, wurde sie von einer scharfen Windböe erfasst. Eine einzelne Lampe brannte dort, wo der Pier anfing. Suchend ließ sie den Blick über die wenigen Boote gleiten, die nach Ende der Saison von ihren Besitzern nicht an Land geholt worden waren. Sie konnte ihn nicht sehen, konnte niemanden sehen. Sie blickte auf die Uhr und stellte fest, dass sie weder zu früh noch zu spät war, sondern pünktlich. Sie ging weiter und stellte sich unter die Lampe, die vermutlich schon bald den Geist aufgeben würde.
»Kristin?«
Das war Tony. Kristin trat aus dem Licht heraus und versuchte, die Richtung, aus der die Stimme kam, zu lokalisieren. Da. Fast ganz unten sah sie eine Gestalt, die in einem offenen Boot stand und ihr zuwinkte.
»Hallo!«, rief sie und eilte den Pier hinunter.
Er stellte sich dicht an die Reling, streckte galant die Hand aus, und Kristin ergriff sie. Sie kletterte an Bord. Zwei Fischkästen mit etwas Tang und eine Box mit dicken Gummibändern standen ganz hinten. Daneben lagen ein paar Wolldecken.
Tony öffnete einen hinter dem Fahrersitz angebrachten Kasten und nahm zwei Rettungswesten heraus.
»Die musst du anziehen«, sagte er und reichte ihr eine davon.
»Ich wusste gar nicht, dass du so versessen auf Vorschriften bist«, sagte Kristin scherzend. »Oder machst du das nur, weil ich bei der Polizei bin?«
»Apropos Polizei: Habt ihr den Schurken heute geschnappt?«
»Er wurde identifiziert, aber noch nicht festgenommen.«
Kristin zog die Weste an. Er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und hinter das Ohr.
»Du bist gut.«
»Tatsächlich habe ich die Verbindung gefunden, das ist wirklich nicht schlecht.«
»Aha?« Tony legte den Kopf schräg. »Was für eine Verbindung war das denn?«
»Tony …« Sie ließ das Kinn zur Brust sinken und blickte ihn quasistreng an. »Schwei-ge-pflicht.«
»Schon gut.« Er lachte. »Aber du verstehst, dass ich ein bisschen neugierig bin? Vergiss nicht, dass mein Leben nicht ganz so spannend ist.«
»Ha-ha. Dein Leben ist spannender als das der meisten, würde ich sagen. Ich bin auch bestimmt nicht die erste Frau, der du hier an Bord hilfst, oder?«
»Glaubst du mir, wenn ich sage, dass du tatsächlich die erste bist?«
»Keine Chance.«
Tony fing an, die Vertäuungen zu lösen.
»Glaubst du mir denn, wenn ich sage, dass du die letzte bist?«
»Es ist nicht nett, einer Frau falsche Hoffnungen zu machen.« Kristin biss sich in die Unterlippe und grinste. »Da möchte ich mir doch das Recht vorbehalten, auf diese Frage nicht zu antworten.«
Tony zog sie an sich und gab ihr einen langen Kuss.
»Wir sollten mal Räuber und Gendarm spielen«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Ich liebe es nämlich, wenn du etwas streng bist.«
»Und wenn ich der Räuber sein möchte?«
»Das würde ich nicht erlauben.«
»Vermutlich ist es am sichersten, wenn ich Ordnung und Gesetz verkörpere. Ich glaube nämlich nicht, dass du dich in der Hinsicht sehr verdient machen würdest.«
Tony lachte erneut und nahm auf dem Fahrersitz Platz. Er ließ den Motor an, und sie entfernten sich langsam von der Marina. Die Wellen schlugen rhythmisch gegen den Bauch des Bootes, und Kristin sah, wie der Pier hinter ihnen von der Dunkelheit verschluckt wurde.
»Holen wir deinen Kumpel jetzt irgendwo ab?«, fragte Kristin.
»Dem ist wohl was dazwischengekommen.« Er sah sie über seine Schulter hinweg an. »Wir bleiben also unter uns.«
*
»Unfassbar, erst vor einer Woche habe ich hier gesessen und auf sie gewartet.« Fredrik Olin sah von seinem Laptop auf. »Hab gehofft, dass sie nach Hause kommen würde. Ich war sogar ganz sicher, dass sie auftauchen würde. Und jetzt sitze ich hier und versuche, ein Foto für die Beerdigung am Donnerstag auszuwählen.«
In Fredrik Olins Wohnzimmer brannte keinerlei Lampe. Nur das scharfe Licht des Bildschirms erhellte sein Gesicht. Magnus blickte auf die Straße hinaus, die durch Skjærviken führte. Das Licht der nächsten Straßenlaterne erinnerte an einen Glorienschein. Er setzte sich auf das Sofa neben Fredrik Olin. Der Bildschirm zeigte einen Foto-Ordner mit Dutzenden von Aufnahmen. Eine nach der anderen füllte den Bildschirm, als Fredrik Olin sie anklickte. Cecilie war auf fast allen vertreten.
»Aber es ist so schwierig. Die sind alle so schön.« Ein neues Foto öffnete sich. Cecilie saß auf dem Fensterplatz eines Flugzeugs und schnitt eine Grimasse. Fredrik Olin blickte lächelnd auf den Bildschirm, als stünde er wieder im Mittelgang und hielte die Kamera. »Hätte sie selbst wählen können, dann hätte sie sich für dieses entschieden. Da bin ich mir ganz sicher.« Er blickte Magnus an. »So war sie. Hat gern Unsinn gemacht, wenn sie ernst sein sollte. Und sie liebte Unsinn, wenn sie ernst sein musste . Vermutlich war sie deshalb auch so beliebt auf der Kinderstation in Kalnes. Das hier wurde kurz vor unserer Landung in Thailand geschossen. Wir haben im Sommer in Phuket geheiratet.« Er klickte das nächste Foto an. Cecilie saß im Bikini auf dem Hotelbett. Ein breites Lächeln. Strahlend. »Sehen Sie nur, wie schön sie war.« Er fuhr sich mit der Hand über den Mund. »Meine Güte, wie schön sie war.«
Magnus nickte wortlos. Weitere Aufnahmen folgten. Am Strand. In verschiedenen Bars. In einem Tuk-Tuk zusammen mit dem Ehemann. Vor ein paar Foodtrucks inmitten einer Menschenmenge.
»Sie hat sich nicht getraut, irgendwas davon zu essen, hat aber gern zugeschaut, wie die Speisen zubereitet wurden«, sagte er und zeigte auf die Stände. »Sie hatte Angst vor einer Lebensmittelvergiftung. Hat eigentlich nur im Hotel gegessen. So gesehen war sie schon etwas feige.«
Ein Foto von Cecilie am Strand erschien auf dem Bildschirm. Sie trug ein helles Sommerkleid mit schmalen Trägern. Die Sonne stand hoch über dem grünen Wasser. Etwas weiter draußen dümpelte ein Fischerboot vor sich hin.
»Das gefällt mir gut«, sagte er. »Was meinen Sie?«
»Es ist sehr schön.«
Fredrik Olin markierte die Bilddatei und überführte sie in einen anderen Ordner, ehe er sich wieder zurückklickte. Magnus’ Handy signalisierte den Eingang einer neuen SMS . Er fischte das Handy aus der Innentasche. Die Meldung kam von Lars Weberg: »Eine Streife hat draußen in Saltnes den Wagen von Elias Ness gefunden. Wir überprüfen, ob er über Freunde oder Bekannte Zugang zu einer Hütte oder einem Haus dort hat.«
Magnus antwortete mit einem erhobenen Daumen und steckte das Handy zurück.
»Ich habe Ihnen ja versprochen, dass Sie den Brief sehen dürfen, den Cecilie Bjørn Farsund geschickt hat.«
Magnus schob die Hand in die Jackentasche und zog den durchsichtigen Plastikbeutel heraus. Er legte ihn auf das Sofa zwischen sich und Fredrik Olin, der den Beutel lange anstarrte, ehe er die Hand danach ausstreckte. Er drehte ihn hin und her und blickte von beiden Seiten auf den Umschlag, ehe er ihn herausnahm. Dann schob er den Laptop ein Stück zu Magnus hinüber und legte den Umschlag auf den Tisch.
»Wenn Sie möchten, kann ich gern hinausgehen, während Sie den Brief lesen, kein Problem«, sagte Magnus. »Aber ich muss ihn danach wieder mitnehmen.«
»Das ist nicht nötig«, sagte Fredrik Olin und zog den Brief heraus. »Bleiben Sie ruhig sitzen.«
Der Lüfter des Laptops wurde schneller und fing an zu rauschen.
*
»Eine Sternschnuppe«, sagte Tony. »Hast du sie gesehen?«
Sie standen am Heck des Bootes und spähten in den Nachthimmel. Irgendwo in der Ferne schrien Möwen.
»Klar doch.« Kristin grinste. »Das erzählst du bestimmt jedes Mal, wenn du eine Frau mit hierher bringst.«
Tony gab keine Antwort.
»Hast du sie auch mit hierhin genommen?«, fragte Kristin nach einer Weile. »Lisette.«
»Wieso willst du das wissen?«
»Ich weiß nicht. Blöde Frage. Ich ziehe sie zurück.«
»Du ziehst sie zurück?« Er setzte ein schiefes Lächeln auf. »Manchmal bist du ganz schön kindisch, weißt du das?«
»Vergiss, dass ich gefragt habe. Okay?« Kristin griff nach der Schachtel mit den Gummibändern. »Die sind für die Scheren, stimmt’s?«
Er nickte und nahm ihr die Schachtel aus der Hand, legte sie auf den Boden, stellte sich hinter Kristin und umarmte sie.
»Nein«, sagte er. »Ich habe Lisette an viele Orte mitgenommen, aber hierher niemals.«
Kristin legte den Hinterkopf an seinen Brustkasten und fragte: »Das ist also nicht dein geheimer Ort?«
»Doch, in gewisser Weise schon. Aber willst du mich nicht fragen, was ich mir wünsche?«
»Wovon redest du?«
»Weil ich eine Sternschnuppe gesehen habe.«
»Ich glaube nicht, dass du eine Sternschnuppe gesehen hast, aber okay, was wünschst du dir?«
»Dass du keinen Lebensgefährten hättest.«
»Ist das dein Ernst?«
Sie konnte seine Bartstoppeln an ihrer Wange fühlen, als er nickte.
»Wenn wir beide zusammen sind, so wie jetzt«, fragte er, »denkst du dann, dass du ihn betrügst, oder ficht dich das nicht weiter an?«
»Habe ich auf diese Frage nicht schon geantwortet, Tony?«
»Ja …«, flüsterte er. »Das hast du. Du hast gesagt, du hättest vielleicht ein kleines bisschen ein schlechtes Gewissen, weil du kein schlechtes Gewissen hast.«
Kristin schloss die Augen und nahm seinen Geruch in sich auf. Er löste die Hände von ihrer Taille und strich langsam ihren Körper hinauf.
*
Anton zuckte zusammen, als das Handy klingelte. Er hatte nicht mehr als ein paar Minuten vor sich hin gedöst, und trotzdem kam es ihm vor, als wäre er nach einer allzu langen Party endlich wach geworden. Die Nummer, die ihm vom Display entgegenleuchtete, war zwar nicht gespeichert, aber dennoch hatte er sie etwas früher am Tag schon einmal gesehen. Der Anruf kam von Aud Vikene. Anton meldete sich. Sie entschuldigte sich, dass es so lange gedauert hatte, erklärte es aber damit, dass Laila sich nicht erinnern konnte.
»Sie wird langsam ein wenig wirr«, sagte Aud Vikene. »Sie erinnert sich natürlich an Trine, aber das hat wohl mit den ganzen Umständen zu tun, die sie betroffen haben. Sie kann sich auch an den jungen Mann erinnern, aber der Name fällt ihr nicht mehr ein. Im Laufe der Jahre waren ja so viele bei der Trauergruppe. Laila hat Ende der Achtziger damit angefangen, wissen Sie, und hat sie geleitet bis …«
»Aber jetzt haben Sie den Namen?«, unterbrach Anton sie.
»Jaja, aber das war ein ziemlicher Aufwand, das kann ich Ihnen sagen. Ich musste Lailas Enkel anrufen und ihn bitten, die alten Teilnehmerlisten herauszusuchen. Und das war ja auch nicht mal eben so zu bewerkstelligen, aber s…«
»Aud.«
»Ja?«
»Wie lautet der Name?«
*
Magnus blickte auf den Bildschirm. Eines der Miniaturbilder hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Er konnte drei Körper erkennen. Fredrik starrte auf den Brief hinunter. In dem spärlichen Licht glitten seine Augen von einer Zeile zur anderen. Er presste Daumen und Zeigefinger auf die Nasenwurzel und richtete dann den Blick zur Zimmerdecke hinauf.
»Ah«, sagte er, »ich bin ganz gerührt. Sie hat mich wirklich geliebt.«
»Hatten Sie Zweifel daran?«
»Nein … Es ist nur etwas seltsam und schmerzhaft und schön, das hier so zu lesen. Einander so etwas zu sagen, ist eine Sache, nicht wahr? Aber das hier …« Er kniff kurz die Augen zusammen und seufzte. »Verflucht!«
Er legte den Brief weg, rieb mit beiden Händen über sein Gesicht und räusperte sich. Magnus spähte auf das Foto, das auf dem Bildschirm kaum größer als eine Fingerspitze war. Abgesehen von den drei Körpern konnte er einen weißen Schleier ausmachen.
»Ist das ein Hochzeitsbild?« Magnus berührte den Bildschirm. »Das da?«
»Ja«, erwiderte Fredrik mit heiserer Stimme und beugte sich zur Tastatur hinüber. Er führte den Mauszeiger zu dem Foto und klickte es an. »Ist das nicht schön?«
Cecilie saß in einem Sessel auf dem Rücken eines riesigen Tieres. Der lange weiße Brautschleier hing seitlich an dem runzligen grauen Körper herab. Sie lehnte sich an die Schulter ihres Mannes. Fredrik saß gerade aufgerichtet auf dem Rücken des Tieres und lächelte stolz mit einem triumphierend erhobenen Arm. Als ob er gerade nicht nur die schöne Frau hinter sich erobert hätte, sondern auch den Strand, an dem sie sich befanden.
»Ich weiß noch, auf diesen Ritt hatte sie nicht so große Lust.« Fredrik kicherte, wischte sich die Nase ab und schniefte. »Aber schließlich konnte ich sie doch überreden.« Er sah Magnus an. Der Bildschirm erhellte die eine Seite seines Gesichts. »Wussten Sie, dass Elefanten die einzigen Säugetiere auf der Welt sind, die nicht springen können?«