Kapitel 72

Sonntag, 24. November

Nicht allein der Umstand, dass er zu viel Zeit für die Antwort brauchte, hatte den Polizisten verraten. Dazu kam, dass er das Handy nicht zu hören schien, das in der Seitentasche seines Jacketts klingelte. Sein Blick hatte sich in den Bildschirm hineingebohrt. Der Mund war leicht geöffnet, als sei ihm gerade eine Art Offenbarung widerfahren. Es war der gleiche Ausdruck, den Fredrik Olin auf dem Gipfel des Rotsethorn bei Trine gesehen hatte, ehe sie aufgestanden und um ihr Leben gerannt war. Ihre etwas zu kurzen Beine hatten ihr eine reelle Chance verwehrt; Fredrik hatte sie eingeholt, ehe sie die Felskante erreichte. Dann hatte er sie einfach von den Füßen gerissen. Hatte kein Wort gesagt. Hatte sie nur gepackt und mit voller Kraft hinuntergestoßen. Das war idiotisch und gedankenlos gewesen, und er hatte es auf seine aufkeimende Panik geschoben. Er hatte nicht gesehen, wohin er sie gestoßen hatte; der zarte Körper war nur wenige Meter weiter unten auf dem Abhang gelandet. Mit ihrem gebrochenen Bein hatte sie etwa eine Minute lang geschrien, die Zeit, die er brauchte, um zu ihr hinunterzuklettern. Als er schließlich über ihr stand, verwandelte sich das Schreien in ein heiseres Wimmern, als ob ihre Stimmbänder gerissen wären. Er fragte, was Rebekka ihr erzählt hatte, denn offenbar hatte Trine im Bruchteil einer Sekunde etwas begriffen, aber nichts gesagt. Das heißt: Sie konnte nichts sagen. Vor lauter Angst und Schmerz zitterte sie bloß. Sogar nach dem missglückten ersten Versuch, ihr das Leben zu nehmen, hatte er an einen Ausweg gedacht. Dass es sich vielleicht lösen ließe. Aber das war unmöglich. Er war enttarnt. Nichts könnte daran etwas ändern. Wenn es ihm gelungen wäre, die Ruhe zu bewahren, als er hinter ihr hergerannt war, hätte er es vielleicht geschafft, sich irgendwie aus der Affäre zu ziehen, aber selbst das war zu riskant und zu unsicher. Nachdem er sie den Abhang hinuntergestoßen hatte, war er jedenfalls chancenlos. Während sie einen stummen Schrei ausstieß und ihre tränenfeuchten Augen vor lauter Hass und Hoffnung aufglühten, hatte er sie an den Haaren über die kleine grasbewachsene Felsstufe bis zum Rand geschleift, wo es fast gerade hinunterging. Dann hatte er sie über die Kante geschickt, hatte zugesehen, wie ihr Körper gleich einer Puppe den Abhang hinunterrollte. Dann war er wieder hinaufgeklettert, hatte den Rucksack gepackt und sich an den Abstieg gemacht, während er dachte, dass dieser verfluchte Elefant am Himmel Trines Offenbarung gewesen war. Genauso wie der Elefant auf dem Bildschirm gerade eben die Offenbarung des Polizisten gewesen war.

»Ich würde das erste nehmen, das Sie mir gezeigt haben, das am Strand«, sagte der Polizist, während er die Hand in Richtung der Seitentasche seines Jacketts führte, wo das Handy noch immer läutete. »Das war wirklich sehr schön.«

Fredrik Olin blickte den Polizisten an. »Ich denke, Sie sollten nicht ans Telefon gehen.«

*

Er hörte den Klingelton und das Heulen des Motors. Jede der 350 Pferdestärken gab ihr Bestes, derweil Anton über die Fredrikstadbrücke raste. Er ließ das Fernlicht aufblinken, überholte einen Sattelzug, dessen Fahrer protestierend auf die Hupe drückte, und schaltete die Warnblinkanlage ein, als er sich dem Kreisverkehr in Østsiden näherte. Der Anruf wurde an die Mailbox weitergeleitet. Anton fluchte laut, bremste ab und fuhr falsch herum in den Kreisverkehr. Er drückte das Gaspedal hinunter und wich einem entgegenkommenden Fahrzeug aus. Dabei blickte er abwechselnd geradeaus und auf den Bildschirm des Handys, während er die Notrufnummer der Polizei eingab. Das Heck des Wagens brach aus, als er in einem gefährlichen Manöver aus dem Kreisel herausfuhr. Die Reifen drehten kurz durch, ehe sie sich wieder an den Asphalt klebten.

*

Das Handy vibrierte im Takt mit Magnus’ hämmerndem Herzen.

»Wir haben nach dem Ehemann von Lisette Ness gefahndet«, sagte er. »Wir dachten, dass er Cecilie umgebracht hat. Dass Elias Ness den Ring in Ihren Briefkasten gelegt hat – und den anderen in seinen eigenen. Dass das alles passiert ist, um den Verdacht auf jemand anderen zu lenken. Dabei war es genau umgekehrt.«

Das Klingeln in der Jackentasche erstarb, und das Geräusch des Laptopgebläses übernahm. Magnus musterte Fredrik Olins Profil.

»Wo ist Lisette Ness?«

Die Antwort blieb aus.

»Wo … ist … sie?«

»Lisette Ness.« Fredrik Olins Zunge schoss hervor und befeuchtete schnell seine Lippen. Wie bei einem Reptil. Die Oberlippe wich ein Stück zurück und gab den Blick auf die Zähne frei. »Ihr Ehemann war es nicht, aber ich habe ihm einen Dienst erwiesen. Die Schlampe hatte es verdient, zu sterben. Ich habe es zum Teil auch für ihn getan, weil er vermutlich nicht wusste, dass seine Frau vor ein paar Wochen hinten in meinem Taxi saß und den Schwanz eines anderen Mannes gelutscht hat. Und als ob das nicht ausgereicht hätte, hat sie sich auch noch über ihren Mann lustig gemacht. Sie und dieser Pavian, mit dem sie zusammen war. Sie hat ihren Ehemann lächerlich gemacht . Wie wenig Schwung doch in ihm stecke, wie wenig Mann er sei, im Vergleich zu dem Schwein, das neben ihr saß. Und er hat herzlich dazu gelacht, dieser verdammte Arsch. Können Sie sich was Schlimmeres vorstellen?«

Magnus’ Handy fing wieder an zu klingeln. Fredrik Olin sah ihn an und fuhr fort: »Pah, sie hat sich noch nicht einmal den Mund abgewischt, ehe ich sie draußen auf Jeløy rausgelassen habe. Sie ist die Einfahrt hochgelaufen, als ob nichts Schlimmes passiert wäre. Als ob es ganz normal wäre, was sie da gerade getan hatte. Glauben Sie, dass sie ihren Mann mit ihrer Ekelfresse geküsst hat, als sie zur Tür hereinkam, oder hatte sie genügend Anstand, um sich zunächst die Zähne zu putzen?«

»Wann haben Sie beschlossen, sie umzubringen?«

»Wenn Cecilie mit ihrem Leben bezahlen sollte, dann war klar, dass ich auch Lisette Ness umbringen musste. Mir sind die Statistiken vertraut, und ich wusste, wenn ich es nicht wie eine große Sache aussehen lassen könnte, dann würde die Polizei niemals aufhören, um mich herumzuschleichen. Es war nicht besonders schwer zu verstehen, woran Sie dachten, als Sie mich am Mittwoch vernommen haben, also habe ich die Ringe an jenem Abend in die Briefkästen gelegt. Eigentlich wollte ich noch ein paar Tage abwarten, aber ich habe mich nicht getraut, es noch länger hinauszuzögern.«

»Wo ist sie?«

»Auf dem Grund des Meeres.«

»Es war nie beabsichtigt, dass wir sie finden sollten, oder?«

Fredrik Olin schüttelte langsam den Kopf. Das Handy hörte auf zu klingeln. Das Laptopgebläse schien kurz vor der Kapitulation zu stehen. Magnus schob die Hand in den Rücken. Er löste die Handschellen aus seinem Gürtel und nahm sie in die linke Hand.

»Sie müssen mit mir kommen, Fredrik.«

Fredrik Olin ließ auf der Innenseite seiner Unterlippe die Zunge hin- und herfahren.

»Sind wir schon fertig?«

»Jetzt fahren wir zur Polizeistation, danach besorge ich Ihnen einen Verteidiger, und dann sehen wir weiter. Und da Sie jetzt festgenommen sind, müssen Sie sich mir gegenüber nicht weiter äußern.«

»Das will ich aber«, sagte Fredrik Olin und flocht die Finger ineinander. Er lehnte sich auf dem Sofa zurück. »Sie sind doch sicher auch etwas neugierig, nicht wahr?«

Magnus sagte nichts.

»Ich liebe dich , steht da«, sagte Fredrik Olin nach einer Weile. »Ich hoffe, dass wir uns bald wiedersehen.« Er ließ den Kopf sinken und blickte auf seine Hände. »Es war so schön, deinen Duft wahrzunehmen, doch die Umarmung, die du mir vor dem Abschied gegeben hast, war viel zu kurz. Wir beide, so wird es sein, Cecilie.« Die Pulsader an seinem Hals trat deutlich hervor. »Das habe ich am Sonntagabend unter Cecilies Sachen gefunden. Ich habe ein Päckchen Batterien gesucht, das sie gekauft hatte. Ein Päckchen Batterien. Und dann habe ich diesen Brief gefunden, ganz hinten in ihrem Schrank. Ich sehe, dass Sie nicht verheiratet sind, aber vielleicht haben Sie eine Freundin oder eine Lebensgefährtin? Was hätten Sie gedacht, wenn Sie so etwas gefunden hätten?«

»Sie haben geglaubt, dass Cecilie Sie mit Bjørn Farsund betrogen hat, genauso wie Sie geglaubt haben, dass Rebekka Sie mit Sverre Roer betrogen hatte. Weil Sie den beiden an jenem Abend gefolgt sind. Sie haben gesehen, dass sie zu Roer hineingegangen ist, und Sie haben beschlossen, in Elvadalen auf sie zu warten.«

»Danach habe ich nicht gefragt. Was hätten Sie gedacht?«

»Vermutlich hätte ich das Gleiche gedacht wie Sie, und dann hätte ich sie damit konfrontiert.«

»Genau das tat ich.«

»War Ihnen bewusst, dass Lisettes Ehemann 1999 als Journalist in Ålesund gearbeitet hat? Haben Sie sie deshalb ausgewählt?«

»Hat er das?« Fredrik Olin sah überrascht aus. »Das wusste ich nicht.«

»Was haben Sie in Volda gemacht? Sie haben nämlich nie Ihre Adresse geändert. Laut Einwohnermeldeamt waren Sie nie woanders als in Oslo und hier in Fredrikstad gemeldet.«

»Ich war da oben nur fünf Monate«, erwiderte er. »Ich habe auf einem Trawler gearbeitet. Von August bis Dezember. Bloß um ein paar schnelle Kronen zu machen.«

»Was ist in der Nacht zum letzten Sonntag passiert?«

»Ich habe auf Cecilie gewartet, als sie anrief, denn da hatte ich mich entschieden.«

»Entschieden wofür, Fredrik?«

»Dass sie die Möglichkeit bekommen sollte, die Wahrheit zu sagen«, erwiderte er leise. »Und wenn sie das nicht tun würde, dann sollte sie sterben – denn dann verdiente sie es, zu sterben.« Er warf einen Blick auf seinen Laptop. »Ich bin losgefahren und hab sie getroffen. Sie versuchte, mir einen Kuss zu geben, als sie sich in den Wagen setzte. Aber das wollte ich nicht. Sie fragte, ob etwas nicht in Ordnung sei, und … Nun, ich sagte, darauf kannst du Gift nehmen. Und dann habe ich sie direkt gefragt. Wer ist Bjørn Farsund? Aber glauben Sie, dass sie ehrlich war?« Fredrik Olin stieß ein kurzes Lachen aus. »Die dumme Kuh meinte erst, sie wüsste es nicht. Dann habe ich sie gebeten, mir ihr Handy zu geben. Und da war ein Anruf von ihm. Sie sagte, dass sei ein Ex-Liebhaber. Einer, den sie versucht hätte, hinter sich zu lassen. Komischer Versuch, jemanden hinter sich zu lassen «, erwiderte ich. »Du triffst ihn doch noch. Wissen Sie, was sie da gesagt hat?«

Das war alles zu einfach, dachte Magnus. Fredrik Olin redete nicht so viel, weil er ein Geständnis oder weil er Rechenschaft für seine Taten ablegen wollte. Fredrik Olin redete so viel, weil er Zeit schinden und versuchen wollte, einen Ausweg zu finden. Was er in den letzten paar Minuten von sich gegeben hatte, war eine Bankrotterklärung, doch seine Augen sagten etwas anderes. Die Pupillen füllten fast die ganze Iris. Magnus bereitete sich auf den Angriff vor.

»Hm? Wissen Sie es?«

Magnus schüttelte den Kopf und ballte die Hand auf dem Sofa zur Faust.

»Was redest du da, Fredrik? In dem Moment ist mir ganz schwarz vor den Augen geworden … Und dann ist auch ihr ganz plötzlich schwarz vor den Augen geworden.«

»Sie haben sie bewusstlos geschlagen?«

»Ja.«

»Danach sind Sie direkt zum Hansemakerkil gefahren?«

»Ja.«

»War sie da schon wieder zu sich gekommen?«

»Nein, sie ist wach geworden, als ich sie aus dem Wagen gezerrt habe. Und was soll ich sagen, da war die Kleine plötzlich ganz redselig! Hat mir alles über Bjørn Farsund erzählt. Dass er ein verrückter Ex sei, der immer noch glaubte, sie könnten wieder zusammenkommen. Sie meinte, sie könnte ihn sogar anrufen und bitten, mir den Brief zu zeigen, den sie ihm zurückgeschrieben hätte, und dass ich es dann verstehen würde. Und dann kam das Gefasel, wie sehr sie mich liebte und so weiter. Sie hat nicht eher die Fresse gehalten, bis ich ihr meine Stiefelsohle reingerammt habe.«

»Weil Sie ihr nicht geglaubt haben?«

»Nein. Ich hatte, wie schon gesagt, beschlossen, dass sie eine Möglichkeit bekommen sollte, die Wahrheit zu sagen … Aber die hat sie nicht ergriffen. Und als sie es dann endlich tat, habe ich ihr nicht geglaubt.«

»Sie wollte Ihnen nur ihre etwas chaotische Vergangenheit ersparen.«

Am Laptop klickte etwas. Magnus warf einen Blick darauf. Der Lüfter hatte aufgegeben, und das Gerät wechselte in den Ruhemodus. Der Schirm wurde schwarz, und die beiden Männer saßen im Dunkeln. Magnus war nur für einen kleinen Augenblick unaufmerksam gewesen, aber das war genau der Moment, auf den Fredrik Olin gewartet hatte. Es knackte, als sein Ellbogen in Magnus’ Kiefer krachte. Ein eisiger Schmerz schoss von der Seite seines Gesichts bis zur Schädeldecke hinauf. Magnus fiel nach vorn. Er wollte sich am Tisch abstützen, konnte aber die Arme nicht schnell genug vorstrecken, ehe Fredrik Olin sich auf ihn warf. Der Tisch rutschte weg, und Magnus landete mit dem Arm auf der Seite. Er versuchte, ihn zu sich heranzuziehen, aber der Arm ließ sich nicht bewegen; Fredrik Olin hatte sich auf Magnus gesetzt. Der erste Schlag traf ihn am Hals. Der zweite im Gesicht. Der dritte seitlich am Kopf. Magnus fuchtelte mit dem anderen Arm herum und versuchte, sein Gesicht zu schützen. Fredrik Olin schloss seine Finger um Magnus’ Handgelenk und fing an zu knurren, während er den Arm seines Gegners auf den Fußboden hinunterpresste und gleichzeitig mit der freien Hand zuschlug. Magnus spürte, dass seine Zähne Fredrik Olins Knöchel aufrissen, als seine Faust ihn mitten ins Gesicht traf. Ein Geschmack nach Eisen breitete sich in seinem Mund aus. Er konnte hören, wie seine Nase brach, spürte das Blut an Mund und Kinn heruntertropfen, ehe der Schmerz in seinen Wangen explodierte. Dann kamen die Schläge so schnell hintereinander, dass er sie nicht mehr zählen konnte. Sein Arm leistete keinen Widerstand mehr. In Magnus’ Ohren rauschte es. Er rang krampfhaft nach Atem. Plötzlich wurde ihm klar, dass Fredrik Olin nicht mehr zuschlug, sondern beide Hände um seinen Hals gelegt hatte und zudrückte.

*

Draußen bremste ein Wagen scharf ab. Er hörte Schritte auf der Treppe vor der Haustür, lockerte den Griff um den Hals des Polizisten. Dann sprang er auf, trat erst auf den Flur zu, erstarrte aber, als die Tür geöffnet wurde. Ein kalter Luftzug schlug in die Dunkelheit hinein. Mit zwei langen Schritten war er in der Küche und griff nach einem Messer, das an einem Magnetstreifen an der Wand hing. Er machte riesige Schritte wieder hinaus und zurück ins Wohnzimmer. Er stellte sich an die Wand, die das Zimmer zum Flur hin abgrenzte. Er hörte das Geräusch von schabendem Metall, als ob eine Pistole geladen würde. Er hielt die Luft an. Sein Hasenherz war kurz davor, sich aus der Brust herauszuwinden.

Er konnte keine Schritte hören, wusste aber dennoch, dass der andere sich näherte.

Das Messer zitterte in der flatternden Hand. Der andere blieb stehen. Jetzt konnte er den Atem des Gegners erahnen. Für einen Augenblick glaubte er, sogar sein Herz schlagen zu hören, doch das Klopfen kam von seinen eigenen pulsierenden Schläfen.

Mit erhobener Pistole schlich der andere an ihm vorbei, ließ die Waffe etwas sinken und durchquerte das Zimmer. Er trat auf den reglosen Körper des Polizisten zu, der zwischen Tisch und Sofa lag. Der andere ging in die Hocke.

»Torp?« Er rüttelte an seinem Arm. »Scheißescheißescheiße.« Er legte die Pistole auf den Tisch und packte den Polizisten mit beiden Händen. »Magnus?«

Der andere half dem Polizisten hoch, tätschelte seinen Arm und sagte: »Hör zu, das wird schon wieder.«

Der Polizist grunzte etwas Unverständliches.

»Magnus. Magnus. Hilfe ist unterwegs, hörst du? Wo ist er hin?«

Hier bin ich, dachte Fredrik Olin und stürmte mit über den Kopf erhobenem Messer durch das Zimmer.