Martin lässt es sich nicht nehmen, Romana zum Hotel zu fahren – freilich nicht ohne Hintergedanken. Und als er endlich einen Parkplatz in der Nähe gefunden hat, schwört er sich, nie mehr mit dem Auto die Innenstadt anzusteuern.
Sie sind gemeinsam mit Fassl aufgestanden. Haben zusammen gefrühstückt, und zum Abschied küsste Romana ihren Gastgeber auf beide Wangen. Jederzeit sei er in der Villa Romana am Wörthersee willkommen, und sie werde Franz nach Herzenslust bekochen, wenn er ihrer Einladung folge. Martin glaubte zu sehen, dass sein Freund erblasste, doch Franz versprach, ganz bestimmt zu kommen, während er ihm einen verzweifelten Blick zuwarf.
An der Rezeption oder Bar steht wieder der junge Mann vom Vorabend, Martin ist enttäuscht. Romana checkt ein, und er trägt ihr den schweren Koffer aufs Zimmer. Es ist hübsch eingerichtet, aber wirklich ziemlich klein. Romana beklagt das Fehlen einer Badewanne, und Kleiderbügel gebe es auch viel zu wenige, überhaupt fehle ihr der Platz, sich auszubreiten. Mit Hugos Wohnung lasse sich das ja nun nicht vergleichen!
»Sollst du auch nicht.« Martin lungert herum in der Hoffnung, Caro später doch noch zu sehen. Schließlich wirft ihn Romana aus dem Zimmer: »Ich hab in einer Stunde ein Interview mit der Salzburger Krone, und danach eins mit so einem Privatsender, da muss ich mich noch zurechtmachen, weil die nicht amal eine Visagistin mitbringen, stell dir vor. Sie wollen auf dem Domplatz drehen wegen der Atmosphäre und so … Aber das Licht wird sehr ungünstig sein.«
Martin, schon an der Tür: »Romana, ich bitte dich, halt dich zurück. Erzähl meinetwegen, was passiert ist, aber keine Vermutungen oder gar Beschuldigungen!«
»Aber nein, wie komm ich denn dazu?! Mach dir keine Sorgen, Bub. Und wenn ich künftig einen Pressereferenten brauche, lass ich es dich wissen.«
Er schließt leise die Tür. Er glaubt ihr kein Wort. Romana hat immer schon gemacht, was sie wollte, ohne Rücksicht auf den Rest der Welt. Das macht einen Teil ihres Charmes aus, ist aber auch ziemlich strapaziös. Und die Witwe, die er nur kurz getroffen hat, erweckt für ihn nicht den Eindruck, als ließe sie sich von Romana die Butter vom Brot nehmen.
Nachdem er den Portier um einen Schwung Kleiderbügel für Frau Petuschnigg gebeten hat und auf dem Weg zum Ausgang ist, öffnet sich die Lifttür. Heraus kommt die Person, auf die er gewartet hat. Anstelle von Joggingkleidung trägt sie einen blauen Hosenanzug mit weißer Bluse. Auch dieses Mal ist sie sehr dezent geschminkt, bis auf den roten Lippenstift. Sie gefällt ihm immer noch.
»Caro! Was für ein Zufall …« Was Blöderes ist ihm wohl nicht eingefallen? Martin watscht sich innerlich ab.
Sie lächelt spöttisch. »Wohl kaum. Habt ihr schon eingecheckt? Ist alles in Ordnung?«
»Aber ja, es ist ein sehr hübsches Zimmer, vielen Dank noch einmal.«
Sie stehen sich gegenüber und wissen beide nicht, was sie jetzt sagen sollen.
Wie schön, dass es gerade nicht regnet? Martin verwirft den Satz und entscheidet sich für: »Hast du denn Zeit für einen Kaffee?«
Sie nickt nur, geht voraus zur Bar und bestellt zwei Espresso. »Diesmal lad ich ein. Und, was hast du heute vor?«
Die Postfach-Oma suchen, denkt Martin, doch darüber will er mit ihr nicht reden. »Keine Ahnung. Wenn’s Wetter schön bleibt, mach ich vielleicht eine Wanderung auf den Gaisberg. Und mein Gastgeber hat mir den Balkan Grill ans Herz gelegt, dort soll es die besten Würstl der Welt geben.«
Caro lacht. »Der Super-Geheimtipp, den geb ich meinen Gästen auch immer. Und vom Gaisberg hast du echt eine tolle Aussicht. Vermeide nur alle Orte in und um Salzburg, wo Mozart draufsteht.«
Ihr Handy läutet, Caro entschuldigt sich und geht zur Tür. Er sieht nur ihren Rücken, sie wirkt angespannt. Als sie zurückkommt, ist ihr Lächeln aufgesetzt. »Das war meine Mutter. Es geht ihr nicht so gut. Weshalb ich jetzt auf meiner zweiten Karte fürs Konzert heute Abend sitzen bleib. Die Wiener Philharmoniker mit Mahlers Neunter … Hast nicht Lust auf Klassik? Herbert Blomstedt dirigiert.«
Der Name sagt ihm nichts. Und nein, er hat keine Lust auf Klassik, wohl aber darauf, den Abend mit Caro Held zu verbringen. Also sagt Martin ganz spontan zu. »Es wär mir eine Ehre, dich zu begleiten. Wann und wo?«
»Das Konzert beginnt um neun im großen Saal des Festspielhauses. Am besten holst du mich um acht rum hier ab, und wir gehen zu Fuß hinüber.«
»Kleiderordnung? Und was bekommst du überhaupt für die Karte?«
Caro mustert ihn von Kopf bis Fuß. »Nach Tracht siehst du mir nicht aus. Irgendein Anzug halt mit Hemd und Krawatte. Hast du so was aus Wien mitgebracht?«
Martin nickt, eine stumme Lüge. Aber was macht das schon, er wollte sich sowieso einen neuen Anzug kaufen, den kann man immer gebrauchen. Warum nicht in Salzburg fündig werden?
Caro meint, sie müsse jetzt los und dass sie ihn am Abend erwarte. »Schön, dass du eingesprungen bist. Und die Konzertkarte ist meine Einladung. Du kannst mir ja hinterher einen Drink spendieren.«
Sie gleitet vom Barhocker und verschwindet hinter einer Tür, auf der »Office« steht. Er schaut ihr nach, gibt dem Barkeeper ein Trinkgeld und macht sich auf in die Stadt, um einen Anzug für Caro Held und Gustav Mahler zu kaufen.
***
Schnürlregen. Schon wieder! Er hat sich einen sündhaft teuren dunkelblauen Anzug zugelegt, und weil es eh schon wurscht war, ein weißes Hemd und eine grüne Krawatte dazu. Jetzt sitzt er im Café Fingerlos auf der anderen Seite der Salzach und widersteht dem Angebot an Torten, trinkt nur Kaffee. Die empfohlene Bosna vom Balkan Grill war wirklich gut, aber fett und sättigend, und er hat das Gefühl, nie wieder im Leben Hunger zu bekommen. Außerdem wird er den Gaisberg auf einen anderen Tag verschieben müssen. Denn ein Anruf in Wien hat ihm endlich den Namen der alten Frau eingebracht, nach der er sucht: Marta Wallner ist als Eigentümerin des Postfachs eingetragen. Wohnhaft in Gnigl, und wenn der Regen aufhört, wird er sie aufsuchen und befragen. Schirmlos, wie er nun einmal ist, scheint es günstiger, noch ein paar Augenblicke zu warten.
Martin blättert in Zeitungen und Zeitschriften. In der Boulevardpresse ist Flocks Tod nach wie vor ein großes Thema, das Leben des Wörthersee-Milliardärs wird in allen Facetten beleuchtet. Die Witwe verweigert Interviews, doch wird in einigen Artikeln mehr oder weniger zart angedeutet, dass Iris Flock eine große Förderin der Kunst, insbesondere junger Künstler ist. Paul Neumann, der für den erkrankten Tod im Jedermann eingesprungen ist, sei einer von ihnen. Die Krone kündigt für die nächste Ausgabe das »Geständnis der Unbekannten an Flocks Seite in der Jedermann-Premiere« an. Martin möchte sich gar nicht ausmalen, was da drinstehen wird. Er greift zu einer Wissenschaftszeitschrift, weil ihm auf dem Titelblatt die Zeile »Sicherheitslücke bei Herzschrittmachern« auffällt. Martin liest den Artikel zweimal, dann geht er vor die Tür, um Franz anzurufen. Der klingt gehetzt: »Du, gleich kommt der Techniker, um sich den Schrittmacher anzusehen.«
»Ich brauch nur eine Minute, Franz, dann kannst du ihn auch gleich danach fragen. Weil nämlich in diesem Magazin, das ich grad lese, ein sehr interessanter Artikel über Sicherheitslücken bei Schrittmachern steht. Ich hab nicht alles genau verstanden, aber Forscher haben herausgefunden, dass man implantierte Schrittmacher theoretisch von außen beeinflussen und sogar abschalten kann. Wenn man sich irgendwie über eine Handy-App einhackt, verstehst? Besorg dir das Heft, Franz, und lies dir den Artikel durch. Könnt durchaus für unseren Fall relevant sein.« Er nennt ihm das Magazin und die Erscheinungsnummer, doch Franz reagiert eher patzig.
»Unser Fall? Na gut, ich lass mir das Heft holen. Könnt aber schon auch sein, dass das alles nur heiße Luft ist. Ich tipp ja eher auf einen technischen Fehler.«
Fassl, offenbar unter Druck, beendet das Gespräch. Der Regen hat eine Pause eingelegt. Martin geht zurück ins Café, zahlt und macht sich auf den Weg zu Marta Wallner, der »Anabolika-Oma«, wie er sie nennt. Stadtteil Gnigl, Laufergasse 17. Zwei Stationen fährt er mit dem Bus, den Rest legt er zu Fuß zurück. Ein Wiener Chefinspektor mit einer großen Einkaufstasche, jetzt tut es ihm schon leid, dass er vorher nicht nach Hause gefahren ist.
Schließlich steht Martin vor einem unscheinbaren Mehrfamilienhaus, das einen Anstrich gebrauchen könnte. »Wallner« steht auf einem der Namensschilder. Er drückt einmal, zweimal … meint, eine Bewegung hinter einem Fenster im ersten Stock zu erkennen, aber das könnte auch eine Katze sein. Jedenfalls öffnet niemand, dafür klingelt sein Handy.
»Salve«, sagt die Stimme, die zu Rüdiger gehört.
Martin drückt noch einmal auf die Klingel, wartet, dann wendet er sich ab. »Was ist? Ich bin grad beschäftigt.«
»Du, wir sollten uns heut Abend zusammensetzen, ich hab wieder ein paar News für dich, Martin. Du weißt schon, worum es geht. Ich will am Telefon nix sagen, der Feind hört mit, haha.«
»Tut mir leid, ich kann heut Abend nicht. Muss ins Festspielhaus. Mahlers Neunte.«
»Cedo maiori«, sagt Rüdiger.
»Was?«
»Vor dem Größeren trete ich zurück. Wusste gar nicht, dass du ein Klassik-Fan bist.«
»Wusste ich auch nicht, aber ich bin eingeladen worden.« Warum erzählt er ihm das? »Meld dich einfach morgen noch einmal, wir finden schon einen Termin.«
Martin beendet das Gespräch, bevor Rüdiger ihm wieder lateinisch daherkommt. Den Lateinunterricht hat Martin zwar auch durchlitten, doch hat er dieses Fach so gehasst, dass wenig bis nichts im Hirn geblieben ist. Kurz überlegt er, ob er einfach warten soll, bis Marta Wallner nach Hause kommt oder ihr Haus verlässt – falls sie doch da war und nicht aufmachen wollte. Aber dann beginnt es wieder zu regnen, und fluchend eilt er zurück zur Bushaltestelle. Noch nie in seinem Leben hat Martin einen Schirm besessen, doch in Salzburg wird er wohl nicht darum herumkommen. Jetzt will er erst einmal nach Hause, sein Einkaufssackerl loswerden, unter die Dusche gehen. Vielleicht kommt Franz ja früher heim, nachdem er ihm eine WhatsApp geschickt hat, dass er mit Caro abends ins Festspielhaus geht.
***
Als Franz aufsperrt, ist Martin schon umgezogen. Geduscht, rasiert, geschniegelt und gestriegelt. Ein Hauch von Verzweiflung umweht ihn, weil sein einziges Paar Schuhe – rotbraune Loafer – nicht zum eleganten Anzug passt. Aber das kann er jetzt nicht mehr ändern; um in die Stadt zu fahren und Schuhe zu kaufen, ist es zu spät.
»Wow«, sagt Fassl, der schnurstracks zum Kühlschrank geht, um sich ein Bier zu holen. »Magst auch eins?«
Alkohol zur Einstimmung auf Mahler kann nicht schaden, denkt Martin. Am Küchentisch sitzen sie sich gegenüber und prosten einander zu.
»Sehr fesch samma heut. Der Anzug schaut nach viel Geld aus – und das alles für einen Abend?« Franz wischt sich den Schaum vom Mund.
»Na bitte, den kann man immer hernehmen – Hochzeiten, Taufen, Begräbnisse. Ich bin ganz sicher, dass ich noch auf deine Hochzeit geh. Und was meint jetzt unser Experte zu dem Schrittmacher – und dem Artikel?«
Franz möchte das auch glauben, dass die Richtige irgendwo auf ihn wartet. Eine Frau mit viel Herz, die ausschaut wie Scarlett Johansson, ungefähr jedenfalls. »Du, der war extrem zurückhaltend in seinen Aussagen, auf gar nichts wollt er sich festlegen. Außer darauf, dass technisches Versagen ausgeschlossen sei. Diese Schrittmacher seien hundertprozentig sicher. Es habe auch noch nie einen Fall von fehlerhafter Batterieanzeige gegeben. Der Typ will ein schriftliches Statement schicken, wahrscheinlich muss er sich mit seinen Bossen abstimmen. Auch wenn er es nicht explizit gesagt hat, ging seine Argumentation so in die Richtung, dass dem Professor Pongauer ein Fehler unterlaufen sein müsse. Ist so ein bisserl wie bei Flugzeugabstürzen: Menschliches Versagen als Ursache ist für die Herstellerfirma die billigste Variante.«
Die Wohnung heizt sich langsam auf. Martin schwitzt in dem Anzug und zieht das Jackett aus, lockert die Krawatte. »Und was hat er zu dem Artikel gesagt, du hast dir das Heft doch besorgt, oder?«
»Jaja, so ein Polizeianwärter hat es mir geholt, und ich hab’s auch gelesen. Zu den Sicherheitslücken fiel ihm nur ein, dass die Risiken einer Manipulation von außen gegen null tendieren, und ja, theoretisch könnten sich Hacker auch in das Weiße Haus einloggen und die Atombombe zünden, alles sei denkbar, aber eben nicht sehr wahrscheinlich. Blablabla … Irgendwann hat’s mir dann gereicht, und ich hab ihm gesagt, er soll uns umgehend seinen Bericht schicken für die Akten, ich müsse in die Mittagspause. In der Kantine gab es nämlich Krautspatzen, das ist eins meiner Lieblingsgerichte. Hast du schon was g’essen?«
»Eine Bosna heut Mittag – war echt gut, aber ich bin jetzt noch satt. Hast du was über den Professor rausgekriegt?«
Franz holt sich noch ein Bier, bevor er antwortet. »Den Pongauer? Der hat eine blütenweiße Weste. Studium in Wien und Harvard, hat eine Zeit lang in Washington gearbeitet, ist dann nach Wien, bis er vor fünf Jahren hier eine Privatpraxis eröffnete. Unterrichtet auch an der Uni, hat ein paar Privatbetten in der Klinik, gilt als eine der Koryphäen unter Österreichs Kardiologen. Nur die feinste Klientel. Er hat die Tochter eines Salzburger Hoteliers geheiratet, ehemalige Schönheitskönigin, zwei Kinder, die Villa in Anif. Alles tipptopp. Bis auf …«
Martin wartet, bis Franz die Flasche absetzt. »Bis auf was?«
Fassl genießt die Neugierde seines Freundes. »Na, ich dachte, ich fahr auf dem Heimweg in der Pongauer-Praxis vorbei, wollte den Professor wegen des Artikels fragen, weißt … Aber er war nicht da, nur seine Sprechstundenhilfe. Übrigens eine sehr fesche Person, schwarze Locken, braune Augen, so in meinem Alter …«
»Franz!?«
»Ja, also, die steht sicher nur auf Ärzte, jedenfalls hat sie mir erzählt, dass der Professor und Flock bei dem besagten Termin am Freitag ganz schön gestritten hätten. Lautstark. Sie hat keine Einzelheiten gehört, dazu wär die Tür zu solide, aber doch so viel, dass es um Flocks Lebenswandel ging. Der Pongauer war der Meinung, dass er es ruhiger angehen müsse, und der Flock hat zurückgeschrien, dass er ihm nur sein Glück neide und dass es ihm wohl nicht passe, wenn er die Iris zum Teufel schicken werde …«
»Was hat denn Flocks Frau damit zu tun?«
Franz lächelt genießerisch. »Ja, das wollt ich auch wissen. Stell dir vor: Iris Flock ist mit dem Pongauer verwandt. Sie ist seine Nichte, die Tochter seiner Schwester. Gell, da schaust!«
Ein interessanter Zufall, denkt Martin, und dass Fassl ganz offensichtlich Lob erwartet. »Was du nicht alles rausfindest – Respekt, Franz. Aber die Verwandtschaft macht ihn ja nicht automatisch verdächtig.«
»Na ja, vielleicht hat ihm die Iris ein paar Millionen versprochen, wenn er den Flock elegant um die Ecke bringt.«
»Meinst, die braucht er?«
Franz zuckt mit den Achseln: »Was weiß i … Jedenfalls check ich einmal die Finanzen des Professors, kann ja nicht schaden, oder?«
»Nein, auf keinen Fall. Habt ihr das Alibi der Witwe überprüft?«
»Die war an dem Abend bei ihrer Mutter, also Pongauers Schwester. Die Frau Mama wohnt in einem Haus am Wörthersee, in einer Villa, die Flock gehört. Die Klagenfurter Kollegen waren schon bei ihr, um sie zu befragen, aber die Mutter ist irgendwie gaga und bringt alles durcheinand. Jedenfalls kein bombensicheres Alibi, wenn du mich fragst.«
»Ihr Liebhaber stand zweifelsfrei auf der Bühne, als der Flock starb. Das nenn ich ein bombensicheres Alibi. Und der Bodyguard?«
»Na, der saß direkt neben Flock, aber welches Motiv sollte der haben? Flock hat ihn fürstlich bezahlt, und jetzt verliert er womöglich seinen Job, wenn die Witwe ihn rausschmeißt. Aber ich schau ihn mir trotzdem genauer an. Morgen. Und heut stellt sich die Frage, was ich essen soll – und wo. Eigentlich wollt ich mit dir ins Augustiner Bräustüberl … und du wirst mir untreu, sobald ich dich aus dem Ehebett zurück ins Wohnzimmer verbanne …«
Martin nach dem gemeinsamen Lachen: »Wir haben noch Würstel und Käse und Paradeiser und … du könntest dir auch einen Salat machen. Ist eh gʼscheiter, bei der Hitz …«
»Na, wenigstens regnet’s nicht mehr.« Franz schaut unentschlossen auf den Kühlschrank. »Genug Bier wär noch da. Musst du nicht langsam los?«
Martin schaut erschrocken auf seine Armbanduhr. Halb acht. Das ist noch zu schaffen, er bestellt ein Taxi.
»Die Schuhe«, sagt Fassl zum Abschied, »passen aber nicht so gut.«
»Ich weiß, aber das kann ich jetzt nicht mehr ändern.« Martin ärgert sich ein zweites Mal über sein Versäumnis, dann zieht er die Wohnungstür hinter sich zu.
»Eine spannende Kombination«, ist Caros Kommentar dazu, doch dann macht sie ihm Komplimente zu Anzug und Krawatte und meint, die Hose sei eh ein wenig zu lang, da würde man die Schuhe kaum sehen.
Sie sieht umwerfend aus. Findet Martin. Caro trägt ein rotes, ärmelloses Kleid mit tiefem Ausschnitt und enger Taille, das an den Knöcheln endet. Dazu eine kurze Jacke in Regenbogenfarben und rote Ballerinas, so ist sie wenigstens nicht größer als er. »Ich ruinier mir meine Stöckel doch nicht an dem Kopfsteinpflaster«, sagt Caro und schaut auf seine Schuhe, als ob sie dächte, um die wär’s aber nicht schad.
Sie gehen in Richtung Domplatz und weiter zur Hofstallgasse, viel Festspielpublikum ist unterwegs, Frauen und Männer in Trachten oder Abendkleidern und Anzügen, ein paar Smokings sind auch dabei. Das Publikum changiert zwischen Jung und Alt, Letztere sind in der Überzahl. Es regnet nicht. Caro hat sich bei Martin eingehakt und versucht, ihn auf Mahler einzustimmen. »Die Neunte ist keine leichte musikalische Kost, weißt. Seine letzte Symphonie, er starb vor Vollendung der zehnten – wie übrigens auch Beethoven, Dvořák und Bruckner.«
Sie stehen vor dem Festspielhaus auf der Straße, Martin hat zwei Gläser Champagner an der Bar geholt und dafür geduldig angestanden, was sonst nicht sein Fall ist.
»Und man merkt seiner Musik an, dass sie mit der Vergänglichkeit spielt – von der ersten bis zur letzten Note. Die Neunte war sicher sein revolutionärstes Werk. Und Herbert Blomstedt, der Dirigent, er ist zweiundneunzig, stell dir das vor. Eigentlich als Bruckner-Interpret bekannt, aber irgendwie passt dieser Mann zum großen Weltabschiedswerk Mahlers und …«
Ihre Worte ziehen an Martin vorbei wie schwere Wolken, er versteht sie und dann doch wieder nicht. Sie redet wirklich zu viel, aber dann, wenn sie lächelt, ist dieser Gedanke schon weggeschmolzen. »Wie geht es übrigens deiner Mutter?«
Caro hält inne. »Ich rede und rede, aber jetzt hör ich auf. Lass dich einfach auf die Musik ein. Und meiner Mutter geht es besser, danke. Aber nicht gut genug, um ins Konzert zu gehen. Im Moment hustet sie auch noch. Sie hat Krebs, weißt du.«
Hätte ich besser nicht gefragt, denkt Martin. Doch Caro scheint nicht gewillt, dieses Thema auszuweiten. Sie zieht Martin ins Foyer. »Der Boden ist aus Adneter Marmor, und die Gobelins sind von Kokoschka. Und der Saal fasst 2.179 Sitzplätze und … Verdammt, ich tue es schon wieder, verzeih. Was hast du heute unternommen?«
»Nicht viel«, sagt Martin. »Mich auf den Abend gefreut. Für den Gaisberg war das Wetter zu schlecht, ich bin einfach so rumgelaufen, hab eine Bosna gegessen und mich danach im Café Fingerlos entspannt.« Er holt sein Handy aus der Tasche und schaltet es auf stumm, Caro folgt seinem Beispiel. Sie suchen die zehnte Reihe und nehmen ihre Plätze ein. Über zweitausend Zuhörer tun das Gleiche, auf der Bühne platzieren sich die Wiener Philharmoniker und stimmen ihre Instrumente. Dann wird es still.
Der Maestro betritt den Saal. Applaus. Eine Verbeugung. Dann dreht sich Blomstedt zum Orchester. Martin sitzt kerzengerade. Aus den Augenwinkeln nimmt er eine positive Spannung in Caros Gesicht wahr, sie scheint voller Vorfreude. Ein Celloton – pianissimo –, dann erklingt eine Harfe.
Ich muss aufhören, sie anzustarren, denkt Martin. Also schließt er die Augen.