Das Gespräch mit Brigitte Semmler hat ihn nicht weitergebracht. Auch sie wohnt bescheiden, von Luxus keine Spur. Bereitwillig erzählte sie ihm, dass sie ihre Stiefmutter zuletzt beim Begräbnis des Vaters gesehen habe, vor fünfzehn Jahren. Sie sei ja nie gut mit der Slowenin ausgekommen. »Schauen S’, die hat im Haushalt mitgʼholfen und den Papa unterstützt, als meine Mutter schwer krank war – Multiple Sklerose. Die Mutter war damals ja schon bettlägerig, is immer weniger worden, und diese Marta gʼsund, prall und jung – der Inbegriff des Lebens. Hat sich jeden Tag rausputzt und dem Vater schöne Augen gʼmacht. Na ja, und als die Mama dann gʼstorben ist, hat erʼs gar net derwarten können, die Schlampen zu heiraten. Ich hab sie seither nimmer gʼsehn außer beim Begräbnis vom Vater. Und mein Sohn, der Paul, ist ihr überhaupt nie begegnet. Warum fragen S’ denn? Is ihr womöglich was zugʼstoßn?«
Die Frage klang eher sensationslüstern, und Martin lächelte anstelle einer Antwort und ließ sich die Handynummer von Paul geben, ohne große Hoffnung, dass der etwas Substanzielles beizutragen hätte. Martin hat inzwischen das Gefühl, in einer Sackgasse zu stecken. Das kennt er auch von anderen Fällen, diesen Punkt, an dem alle Ermittlungen ins Stocken geraten. Für wen könnte Marta Wallner Anabolika-Handlangerin sein?
Er beschließt, das Problem für die nächsten Stunden ungelöst in eine gedankliche Schublade zu sperren und sich seinem erfreulichen Privatleben zu widmen: Museum der Moderne am Mönchsberg gemeinsam mit Caro. Sein Vorschlag. Vor allem auch, weil er, was die bildende Kunst betrifft, durch seinen Vater sattelfester ist als bei klassischer Musik. Da kann er sie vielleicht ein wenig beeindrucken.
Ursprünglich hatten sie vor, den Mönchsberg hinauf zu spazieren, oben das Museum zu besuchen und anschließend im berühmten M32 zu essen. Doch Caro kommt eine halbe Stunde zu spät – Probleme im Hotel und mit der Mutter. Sie geht nicht weiter darauf ein, und er stellt keine Fragen. Immer, wenn sie »Mutter« sagt, denkt Martin, verändert sich ihr Gesicht. Das Strahlen verschwindet. Kein Wunder bei einer krebskranken Mutter, Martin mag sich gar nicht vorstellen, was mit Lotte noch passieren könnte. Und dann ist es von Nachteil, das einzige Kind zu sein.
Weil die Zeit knapp wird, kürzen sie das Unternehmen ab und nehmen den Lift. »Der Spaziergang da rauf ist zwar ganz nett, aber sicher keine sportliche Herausforderung. Darum wird der Mönchsberg bei uns auch der ›Pensionistengletscher‹ genannt«, sagt Caro und lacht ihn an.
Er spürt einen Stich irgendwo in der Brustgegend und hofft, dass es kein Herzkasperl ist. Dreißig Sekunden später stehen sie vor dem Eingang des Museums, und er lebt immer noch.
Doch bevor sie reingehen, schlüpft Caro wieder in die Rolle der Fremdenführerin. »Schau, da drüben siehst du die Festung Hohensalzburg, dort den Kapuzinerberg und die Altstadt einmal von oben – die Touristen schauen nur noch aus wie Ameisen, gell. Und da rechts ist der Turm der Müllner Kirche, übrigens Weltkulturerbe.«
Martin genießt die Aussicht, dann wendet er sich dem modernen Museumsgebäude zu. Er hat gelesen, dass es Kunst des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts beherbergt und freut sich auf Werke von Klimt, Schiele, Faistauer, Gerstl … Vielleicht entdeckt er sogar einen David Herschel. Zuerst besuchen sie die Skulpturenterrasse und gehen dann in die zentrale Ausstellungshalle. Martin bleibt vor Faistauers Eva mit Apfel stehen. »Gefällt dir Faistauer?«, fragt Caro.
»Das Expressionistische an seinen Bildern mag ich schon«, antwortet Martin ganz cool. »In manchen Werken ist er mir aber dann zu religiös.«
Also doch kein Kulturdepp, denkt Caro und schenkt ihm das zweite Lächeln des Tages. »Mir gehtʼs genauso. Und wie schaut’s mit der Objektkunst aus?«
Martin wirft einen kurzen Blick auf die ausgestellten Lodenjopperln, an denen sie gerade vorbeigehen, und zieht eine Grimasse. In vielen Fällen fühlt er sich einfach nur verarscht. Anderes wieder findet er lustig.
»Ist das nicht ein Gerstl?«, Martin nimmt Caro wie zufällig an der Hand und führt sie zu einem Bild des Malers. »Der ist ja sehr jung gestorben. Stell dir vor, was der noch hätte schaffen können, wenn er länger gelebt hätt.«
Caro lässt sich von ihm weiter die Hand halten, und Martin durchzuckt ein stromstoßartiges Gefühl. Ihr Daumen ist ungewöhnlich kurz, er streicht ganz sanft darüber und sagt: »Er war erst fünfundzwanzig, glaub ich. Hat aus Liebeskummer Selbstmord begangen. Weil sich seine Geliebte, die Mathilde Schönberg, nicht von ihrem Mann getrennt hat.«
»Kannst du dir vorstellen, aus unglücklicher Liebe zu sterben?« Caro sieht ihn mit einem Gesichtsausdruck an, den er nicht einordnen kann. Frauen können vielleicht Fragen stellen!
»Eher nicht. Ich war wegen meiner Ex-Frau oft unglücklich, aber sterben wollte ich ihretwegen nie. Und was ist mit dir?«
Sie starrt wieder auf das Bild. »Ich weiß nicht. Ich hatte schon eine Krise, damals bei meiner Scheidung. Aber irgendwie stehe ich halt immer wieder auf.«
Ihr Lachen ist zu laut und gar nicht fröhlich.
***
»Es gibt halt Paare, die kommen nie zusammen.« – Ein Handke-Zitat empfängt sie an der Eingangstür zum M32, das im selben Gebäude wie das Museum ist. Hoffentlich kein Omen, denkt Martin, während sie vom Kellner zu einem Zweiertisch mit Ausblick geleitet werden.
»Ein interessanter Rundgang«, eröffnet Caro das Gespräch, nachdem sie ihre Bestellungen aufgegeben haben. »Ich habe so einiges über einen gewissen Martin Glück aus Wien erfahren: Er mag Bilder, kennt sich ein wenig damit aus, ist geschieden und findet Lodenjopperln blöd. Was hast du mir sonst noch zu gestehen?«
Lachend greift er über den Tisch und nimmt wieder ihre Hand. Sie lässt es geschehen. »Also, gestehen muss ich dir tatsächlich was: Ich bin kein Fan von klassischer Musik und Opern. Mit der ganzen sogenannten Hochkultur kann ich wenig anfangen. Bist jetzt enttäuscht? Ich bin halt nur ein ignoranter Polizist, der gern Bier trinkt und am liebsten Jazz hört.«
Caro sieht ihn überrascht an. Beinahe schockiert, so kommt es Martin vor. »Tut mir leid, aber ich hab halt so getan als ob. Weil ich mit dir zusammen sein wollte. Jetzt darfst du mir deine dunklen Seiten verraten. Die Stunde der Wahrheit«, versucht er sie wieder zum Lächeln zu bringen.
Doch sie bleibt ernst: »Und woher weißt du so viel über Malerei?«
Sie hat ihre Hand zurückgezogen. Da ist auf einmal etwas zwischen ihnen, das sich schwer und unüberwindlich anfühlt. Er hat keine Ahnung, warum.
»Mein Vater war Maler, Hobbymaler allerdings. Aber mit großer Leidenschaft. Die ihm schließlich zum Verhängnis geworden ist.« Der Gedanke an Augusts Tod und dessen Umstände ist immer noch schwer zu ertragen.
»Ein Maler namens Glück? August Glück?«
Caro schaut immer noch drein, als hätte sie ein Gespenst gesehen. Martin dreht sich um, doch da sind nur Gäste, Fremde …
»Ja, jetzt weiß ichʼs wieder, Martin. Da war doch dieser Skandal in Kärnten. Er wurde von einem Kunsthändler, der seine Bilder als Fälschungen verkauft hat, umgebracht … Oh, tut mir leid. Ich rede schon wieder zu viel.«
»Ja. Genau der«, erwidert Martin knapp. Es fällt ihm immer noch nicht leicht, über Augusts Tod zu sprechen. »Es waren seine Nachmalungen von David Herschel, die er auch als solche gekennzeichnet und mit einem winzigen g signiert hatte. Immer woanders: in einer Hutkrempe, in einem Grashalm, man muss danach suchen. Dass die als echte Herschels verkauft wurden, davon wusste er nichts.« Es liegt ihm viel daran, August ins rechte Licht zu rücken, seine Redlichkeit zu unterstreichen. Vor allem Caro gegenüber.
Gott sei Dank kommt jetzt das Essen, und er muss das Thema nicht vertiefen. Caro fragt nach seiner Mutter. Martin versucht, Lotte so lustig wie möglich zu beschreiben. Allmählich taut sie wieder auf und erzählt ihm vom Krebs ihrer Mutter, und dass es seit einiger Zeit Hoffnung gibt, obwohl normalerweise die Überlebenschancen gering sind. »Sie hat nur mich, weißt du. Sie hat mich alleine großgezogen, mir sozusagen ihr Leben gewidmet. Und es war weiß Gott nicht leicht, dieses Leben. Also bin ich zu ihr in die Wohnung, als sie krank wurde. Mein Apartment vermiete ich kurzfristig, und neben der Arbeit kümmere ich mich halt um sie. So, wie sie früher für mich gesorgt hat.«
»Das ist bewundernswert«, sagt Martin und fragt sich sofort, ob er das Gleiche auch für Lotte tun würde.
»Ach was, das ist doch selbstverständlich.« Caro sieht ihn an: »Das würdest du auch für deine Mutter tun.«
»Sicher«, antwortet Martin und verlangt die Rechnung. Und als ob sie über telepathische Fähigkeiten verfügt, ruft in dem Moment Lotte an. Er steht auf und entschuldigt sich bei Caro.
Seine Mutter fragt kurz, wie es ihm geht, er brummt »gut«, und dann legt sie los: Er brauche sich nicht weiter wegen des Medikaments zu bemühen, sie habe es im Internet gefunden.
»Im Internet. Bist verrückt?« Martin senkt seine Stimme: »Das kann eine Fälschung aus China sein, Mama, im besten Fall ohne Wirkung, könnt aber auch was Schlimmeres sein.«
Sie ist unbeeindruckt. Nein, er brauche sich keine Sorgen zu machen, das sei eine seriöse Versandfirma in Salzburg.
Bei Martin klingeln die Rüdigerʼschen Alarmglocken. »Tu mir den Gefallen und schick mir eine Mail mit Namen und Adresse. Das will ich vorher checken.«
Am Ende der Leitung seufzt Lotte und murmelt was von »Polizistenparanoia«, er überhört es.
»Na gut, ich mail dir alles, aber bitte gleich checken und mich dann anrufen, gell?«
Das verspricht er und geht zurück zum Tisch. Caro sieht ihn fragend an. Doch er will nichts weiter sagen und schlägt vor, zu Fuß zurückzuspazieren. Ohne sich an den Händen zu fassen, gehen sie schweigend nebeneinanderher. Sie ist kompliziert, denkt er, und auch, warum er immer wieder auf diesen Typ Frau hereinfällt.
Der Termin bei Professor Pongauer ist erst um halb fünf, und Martin hat noch Zeit, Caro zur Buchhandlung Höllrigl zu begleiten, wo sie einen Roman abholen will. Als er sieht, dass es sich dabei um einen Science-Fiction-Klassiker handelt, macht sein Herz einen Sprung. Endlich eine Gemeinsamkeit! »Du magst Wells? Den Krieg der Welten? Ich liebe dieses Buch!«
»Nein, es ist für einen Hotelgast. Ich bin kein Science-Fiction-Fan.« Sie sagt es beinahe entschuldigend.
Martin nickt leicht enttäuscht. Wär ja zu schön gewesen, um wahr zu sein. Er stöbert noch in der SciFi-Abteilung, als er aus den Augenwinkeln sieht, wie Caro an der Kassa von einem älteren, elegant gekleideten Mann angesprochen wird. Sie grüßt nur kurz und wendet sich dann ab. Selbst aus der Entfernung meint er zu sehen, dass ihr die Begegnung unangenehm ist. Ein ungeliebter Gast oder verflossener Liebhaber? Oder sogar ein aktueller? Irgendwie ist er davon ausgegangen, dass sie Single ist, aber das muss ja nicht stimmen. Blödes Herz! Seine unbeschwerte Stimmung ist endgültig dahin. Martin folgt ihr zum Ausgang und verabschiedet sich dann mit einem kühlen Gruß. Wenn sie irritiert ist, lässt sie es sich nicht anmerken. Ein kurzes Lächeln, dann ist sie weg. Er schaut ihr nach, bis sie hinter einer Ecke verschwindet.
Als er wieder zu Hause ist, findet Martin auf dem Computer eine E-Mail von Lotte vor mit der Webadresse des Salzburger Medikamentenhandels: zieglermed.at. Gemeinsam mit der Wiener Assistentin checkt er in der nächsten Stunde diese Firma. Gehört einem Univ.-Prof. Dr. Uwe Ziegler und einer Mag. pharm. Ingrid Ziegler. Er ist offenbar ein bekannter Krebsspezialist, seine Frau Apothekerin. Alles koscher, wie es ausschaut. Martin öffnet noch die Homepage des Arztes und liest die Kommentare der Patienten. Sie scheinen Ziegler fast wie einen Heiligen zu verehren. Als er sich sein Foto im Internet ansieht, stutzt Martin. Ist das nicht der Mann, der Caro in der Buchhandlung angesprochen hat? Nein, er muss sich getäuscht haben, das Gesicht im Netz sieht viel jünger aus. Eine entfernte Ähnlichkeit, mehr nicht.
***
Fassl hatte nicht zu viel versprochen. Die Villa von Professor Pongauer ist beeindruckend. Und der Hausherr auf den ersten Blick durchaus sympathisch. »Pongauer«, stellt er sich bei Martin vor. »Aber nicht aus dem Pongau. Ich sagʼs immer gleich dazu, bevor jemand diese naheliegende Frage stellt. Ich nehme an, auch Sie sind mit Ihrem Namen Opfer diverser Wortspiele, Herr Chefinspektor?« Er lächelt Martin zu und weist den Weg in sein Arbeitszimmer.
»Was darf ich Ihnen noch erklären zum Thema Schrittmacher?«, wendet Pongauer sich jetzt mit leiser Arroganz an Fassl. Zu Martin: »Sie müssen wissen, Ihr Mitarbeiter war letztens sehr an diesem medizinischen Thema interessiert und hat von mir beinah eine Vorlesung bekommen.«
Aha, die Rangordnung ist es, denkt Martin und stellt richtig: »Kontrollinspektor Fassbinder ist nicht mein Mitarbeiter, sondern mein Kollege und Freund. Ich habe ihn nur begleitet, weil ich privat an dem Fall interessiert bin. Sollte Sie meine Anwesenheit stören …«
»Nein, auf keinen Fall«, winkt Pongauer ab. Zeigt auf die Couch und setzt sich ihnen gegenüber. Zu Fassl: »Sie haben mir freundlicherweise den Artikel über Herzschrittmacher und Handy-Apps gemailt. Ich sagʼs gleich: Um letzte Gewissheit zu haben, müssten Sie sich wahrscheinlich mit der amerikanischen Herstellerfirma in Verbindung setzen. Doch nach meiner unmaßgeblichen Meinung ist es doch so, dass das Gerät bei einer Störung immer noch auf Basisfunktion weiterlaufen würde. Ein mörderischer Zugriff von außerhalb erscheint da schon recht weit hergeholt. Aber natürlich, wenn die Batterie entleert würde … das wär wieder eine andere Sache.«
Ein winziges Ding, das ein Herz am Laufen hält. Martin hat sich Herzschrittmacher im Internet angeschaut und war erstaunt, wie viel Leistung so ein Minigerät bringt. »Und das wäre möglich? Ich meine, dass durch Manipulation von außen die Batterie entleert wird?«
Pongauer lächelt nachsichtig. »Theoretisch ja. Aber wie das praktisch funktionieren soll, kann ich Ihnen leider nicht sagen. Ich bin kein IT-Experte und brauche immer selber Hilfe bei den ganzen Computersachen. Außerdem habe ich mich dem Thema Herz noch nie mit mörderischen Absichten genähert, im Gegenteil. Am besten, Sie reden darüber mit der Herstellerfirma. Oder dem Verfasser des Artikels.«
»Werden wir tun, und danke, dass Sie die Theorie nicht gänzlich von der Hand weisen.«
»Ach, wissen Sie, Herr Glück, der Fortschritt in der Medizin ist so rasant, dass es einem schon schwerfällt, da mitzuhalten. Mittlerweile arbeitet man ja sogar schon an biologischen Herzschrittmachern aus Stammzellen. Das ist aber noch im experimentellen Stadium …« Sie hören beide aufmerksam zu, obwohl sie dieser Aspekt des Themas überhaupt nicht interessiert. Schließlich räuspert sich Fassl und unterbricht ihn: »Warum haben Sie mir letztes Mal verschwiegen, dass Sie mit Iris Flock verwandt sind?«
Pongauer hält inne, schaut Fassl entgeistert an und schnipst einen unsichtbaren Fussel von seinem Leinensakko, bevor er antwortet. »Wieso denn? Das ist doch überhaupt nicht von Belang! Was bitte hat das mit Herzschrittmachern zu tun? Außerdem sind wir nicht einmal richtig verwandt.«
Martin schweigt. Fassl redet tapfer weiter: »Na ja, irgendwie ist das schon wichtig, schließlich ist sie die Witwe des Opfers. Vielleicht ist es aber auch nur ein komischer Zufall.«
Der Professor blickt Fassl über seine Brille hinweg ein wenig drohend an. »Nun, die Komik erschließt sich mir jetzt nicht. Aber bitte schön, um das klarzustellen: Die Mutter von Iris Flock ist meine um fünfzehn Jahre ältere Halbschwester. Warum interessiert Sie das?«
Franz sieht Martin hilfesuchend an, und der erbarmt sich: »Sie werden sicher verstehen, dass wir allen Spuren nachgehen müssen, Herr Professor. Im Falle von Hugo Flock stellt sich natürlich die Frage: Wer hatte ein Interesse an seinem Tod?«
Pongauer unbeeindruckt: »Man weiß ja gar nicht, ob es Mord war. Sie scheinen mir doch sehr im Trüben zu fischen. Natürlich profitiert Iris am meisten von seinem Tod, nachdem Hugos Sohn gestorben ist. Ich kenne meine Halbnichte, oder was immer sie ist, nicht besonders gut; ich war zu ihrer Hochzeit eingeladen, und während der Festspiele laufen wir uns hin und wieder über den Weg. Sie ist kein sehr netter Mensch, soweit ich das beurteilen kann. Aber eine Mörderin? Dafür halte ich sie, mit Verlaub, für zu blöd.«
Der Blick von Pongauer ist jetzt eiskalt. Man sieht ihm an, dass er die beiden am liebsten rauswerfen würde. Aber er wäre nicht Ferdinand Friedrich Pongauer, wenn er die Contenance verlieren würde.
Martin lässt sich nicht so ohne Weiteres einschüchtern. »Hat sie Hugo Flock zu Ihnen geschickt, Herr Professor?«
»Hat sie. Aber nicht, um ihren Mann zu ermorden, sondern weil dessen Klagenfurter Kardiologe in Pension gegangen war. Und da Hugo ohnehin eine Wohnung in Salzburg hatte, war das für ihn nicht unpraktisch. Außerdem wollte Iris meine Empfehlung für einen Kollegen, der auf Alzheimer spezialisiert ist.«
Fassl: »Hatte Hugo Flock Alzheimer?«
Ein Haifischlächeln, denkt Martin, obwohl der Professor ein attraktiver Mann ist.
»Nein, hatte er nicht, meines Wissens jedenfalls. Die Mutter von Iris leidet daran.« Er sieht auf seine Uhr. »Sie haben noch eine Frage frei, meine Herren, dann muss ich zu meinen Patienten.«
Martin stellt sie: »Worum ging es bei Ihrer Auseinandersetzung mit Hugo Flock bei seinem letzten Besuch in Ihrer Praxis?«
Wenn Pongauer sich fragt, woher sie das wissen, so lässt er sich nichts anmerken. Während er schon aufsteht: »Das war kein Streit, meine Herren, sondern ein dringender ärztlicher Rat mit erhobener Stimme: Ich habe Hugo eindringlich nahegelegt, seinen Lebensstil zu ändern. Weniger Arbeit, weniger Stress, mehr Ruhe. Weil ein Herzschrittmacher nur so etwas wie die Krücke fürs Herz ist. Ein Impulsgeber. Er kann nicht garantieren, dass dieses großartige Organ auf Dauer weiterschlägt … Sie finden allein hinaus, meine Herren?«
***
Sie sind mit dem Taxi unterwegs zum Festspielhaus. Orpheus in der Unterwelt erwartet sie. Die Einladung von Franz. Martin denkt, dass sein Maß an Cultura nunmehr voll ist, den einen Abend wird er noch überstehen.
Das Auto hält vor der Absperrung, und Martin bezahlt den Taxifahrer.
Vor dem Festspielhaus der übliche Auflauf von Reich und Schön. Sie selbst zählen sich zum Festspielfußvolk – Fassl im grauen Anzug von der Stange, Martin zwar in teurem Tuch, aber mit braunen Loafers. In die Gruppe der Champagnertrinker will Fassl sich nicht einreihen, und ordinäres Bier ist nicht verfügbar. Also begeben sie sich direkt auf ihre Plätze in den hinteren Reihen und harren der Dinge, die da kommen.
Was kommt, sind Männer mit baumelnden Riesenpenissen, prallbusige Frauen, schriller Sprechgesang. Martin weiß schon, dass der Offenbachʼsche Orpheus eine Operettensatire ist, jedenfalls hat er das im Programm gelesen. Aber mit so viel Rambazamba hat er nicht gerechnet. Schon witzig irgendwie, aber auch ziemlich ordinär, so ein Glitzersteinfeuerwerk aus Farben und Phallen und Vulven ist nach einiger Zeit doch wieder eintönig. Ein Seitenblick auf Franz lässt ahnen, dass es dem Freund ähnlich geht.
Ich muss die Caro fragen, was sie von der Aufführung hält, denkt Martin. Morgen, wenn er sie anruft und hoffentlich wiedersieht. Bei diesem Gedanken nickt er selig lächelnd ein. So wie Hugo Flock vor ein paar Tagen in einem anderen Stück.