Sie nennt den Bauchspeicheldrüsenkrebs lieber Pankreaskarzinom. Im Lateinischen klingt es besser, findet Margot Held. So wie sie Opern lieber in italienischer Sprache hört, weil dieses Idiom einfach besser zur Musik passt als das grobe Deutsch. Sie wollte Opernsängerin werden, besuchte das Mozarteum in Salzburg, war ein vielversprechendes Talent … und stolperte ein Jahr vor dem Abschluss.
Der Stolperstein war natürlich ein Mann. Er sah aus wie ein Engel und besaß diese überirdisch schöne Tenorstimme, die Margot den Verstand raubte. Damals. Sie wurde schwanger. Und er sagte Adieu, um sich auf seine Karriere zu konzentrieren. Wenn sie ihn später auf der Bühne sah und hörte, konnte sie gar nicht anders als weinen. Tränen der Wut.
Aus dem katholischen Minenfeld ihrer Familie gab es kein Entrinnen. Das Kind wurde geboren und erhielt den Namen Caroline. Geplant war, dass die Großmutter für das Baby sorgte und Margot ihr Studium beenden sollte. Doch dann starben die Eltern bei einem Verkehrsunfall. Das Erbe war nicht nennenswert, die Geschwister und Tanten ließen Margot und ihr Kind im Regen stehen. Im Salzburger Schnürlregen, der schwer herabfiel in jenen Tagen. Sie gab das Studium auf. Ein Verwandter vermittelte ihr den Job als Garderobiere im Festspielhaus. Und Margot verstummte.
»Wie kann man singen, wenn ein Baby schreit?«, sagte sie zu Caroline. Oft sagte sie das, und als das Kind größer wurde und nicht mehr schrie, war Margots Stimme gebrochen, hatte ihren Schmelz verloren. Das Einzige, das groß gewesen war an ihr, hatte sie für immer verlassen. Verhinderter Opernstar, alleinerziehende Mutter, Garderobiere ohne Ambitionen: Es war ein so kleines Leben geworden, winzig geradezu, und wenn es hier und da noch einen Mann gab in Margots Leben, so war er bedeutungslos. Weil sie zu bitter geworden war für die Liebe. Weil es nur sie gab und das Kind. Das mit sechs Jahren Gesangsunterricht bekam, doch Carolines Stimme war nicht ausbaufähig, dies erkannte auch ihre Mutter nach zwei Jahren teurer Privatstunden. Diese Stimme war durchschnittlich, der ganze Mensch war es. Liebe und Hass sind schwer zu trennen, nicht wahr? Margot gesteht sich ein, dass sie in gewissen Stunden ihre Tochter lieber geschlagen als umarmt hätte. Sie steckten tief in ihr drin, diese Schläge. Auf der anderen Waagschale die Gewissheit, dass Caroline das Einzige auf der Welt ist, das ihr geblieben ist. Ein Scherbenhaufen von einem Leben, gekrönt von der Diagnose Pankreaskarzinom.
Es macht keinen Sinn, immer und immer wieder um das Ungelebte zu kreisen. Margot liegt auf der Couch und sieht fern. Weil es betäubt, ja, auch verblödet, aber kommt es darauf noch an? Sie hört, wie die Tür geöffnet wird, und ruft: »Caro – bist du das?«
Das sagt sie immer, denkt Caro. Wer sollte es sonst sein? Die Frau vom ambulanten Pflegedienst hat einen Schlüssel, kommt aber nur mittags, um die Mutter zu versorgen. Caro ist ja auch telefonisch erreichbar, sollte Margot etwas brauchen. Die Mutter ruft zwei-, dreimal am Tag an, einfach so, weil sie sich langweilt. Sonst schaut sie fern. Oder hört Opern auf dem alten Schallplattenspieler. Die Vorhänge im Wohnzimmer sind zugezogen, obwohl es ohnehin düster ist in der Altbauwohnung. Die Gasse, in der sie liegt, ist eng, und die Häuser nehmen einander das Licht weg. Aber die Miete ist günstig, zumindest für jene, die schon lange drin wohnen. Caro ist sicher, dass die Hauseigentümerin nur darauf wartet, dass ihre Mutter stirbt, um zu renovieren und die Miete zu verdoppeln.
»Caro …?«
»Ich bin gleich bei dir, Mutter.« Sie zieht ihre Schuhe aus und schlüpft in die Pantoffeln, die auf dem Parkettboden weniger Lärm machen. Trotz dicker Mauern und hoher Decken ist es in der Wohnung heiß, Margot lüftet zu wenig, und oft schleicht sich Caro nachts ins Wohnzimmer, um die Fenster zu öffnen. Manchmal glaubt sie, in dieser Wohnung zu ersticken.
Ihr Handy summt, sie sieht Martins Nummer am Display und drückt ihn weg. Es ist besser so, sagt sie sich, eine Affäre mit einem Polizisten aus Wien ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt einfach nur idiotisch. Wie soll sie die Arbeit im Hotel und die Pflege der Mutter auf die Reihe kriegen, wenn sie sich noch auf eine Liebelei einlässt? Time is honey, und vielleicht kommen auch wieder bessere Zeiten. Obwohl sie nicht daran glaubt.
Als sie das Wohnzimmer betritt, schaltet ihre Mutter den Fernseher aus. Caro wertet es als gutes Omen, dass die Mutter ferngesehen hat. Wenn Margot Opern hört, kommt sie nämlich in eine gefährliche Stimmung, eine Mischung aus Trauer, Verzweiflung und Wut. Das Fernsehprogramm hingegen beruhigt sie, meistens jedenfalls.
»Und wie geht es dir heute?«
Margot richtet sich auf, zieht eine Grimasse des Schmerzes und sagt: »Diese verdammte Behandlung schlaucht mich so, dass ich kaum den Weg zur Küche oder Toilette schaffe.«
»Ich weiß. Aber sie hilft dir, Mutter. Sie macht dich wieder gesund.«
»Das sagst du so leicht dahin, Kind. Du musst ja nicht mit den verfluchten Nebenwirkungen fertigwerden. Außerdem hab ich Lust auf Schweinsbraten.«
War das immer so? Die Klagende und die Beklagte? Caro kann sich an Zeiten erinnern, in denen alles gut war. Die zwei Jahre, als sie Gesangstunden bekam. All die Hoffnungen, die ihre Mutter in sie setzte. Danach wieder Phasen, die düsterer waren. Und immer dieses Gefühl, schuldig zu sein. Weil sie ein Kind ohne besondere Talente war. Das ihrer Mutter Leben ruiniert hatte. Eine einzige Enttäuschung.
Sie lächelt Margot beruhigend an. »Du weißt doch, dass du nichts Fettes essen sollst. Zumindest während der Therapie. Ich hab heute früh das Hühnerragout aufgetaut. Ich koche Reis dazu, ist das okay?«
Ist es nicht, sie kann es am Gesicht der Mutter sehen. Trotzdem geht sie in die Küche und setzt Wasser auf. Wärmt das Ragout in der Pfanne, die sie neu gekauft hat. Margot legte nie besonderen Wert aufs Kochen. Meist gab es Fertiggerichte oder Würstel oder einfach nur Brot mit Wurst oder Käse. An fünf Abenden die Woche war Margot ohnehin weg, sie musste ja arbeiten, um sich und das Kind durchzubringen. Weil der Vater, das Schwein, keinen Unterhalt zahlen konnte und wollte. Erst bettelarm, dann unerreichbar auf den Bühnen der Welt, und als Caro zehn war, starb er an einem Herzinfarkt. Sie hat ihn nie kennengelernt, hat nur die Bilder gesehen und Schallplatten gehört. Ein Opernstar. Das, was ihre Mutter auch geworden wäre – ohne Caroline. Diesen Satz hat sie nie so gesagt, doch er kam in tausend Variationen daher, hat sich gleichsam eingefressen in die Tochterseele.
Im Wohnzimmer läuft wieder der Fernseher. Margot kann die Stille schlecht ertragen. Konnte sie nie gut, aber seit die Krankheit diagnostiziert wurde, geht es überhaupt nicht mehr. Das ist jetzt sieben Monate her. Statistisch gesehen ein kleines Wunder, weil die Lebenserwartung bei nicht operablen Pankreaskarzinomen bei drei bis fünf Monaten liegt. Margots Krebs ist zwischen dem zweiten und dritten Stadium, das angrenzende Gewebe ist betroffen, und es gibt Metastasen im Lymphgewebe. Das schien ein Todesurteil, aber jetzt ist da wieder Hoffnung. Das neue Medikament, sicher hat es Nebenwirkungen, aber weniger als eine klassische Chemotherapie. Und es ist dieser Strohhalm, an den sie sich klammern müssen, Margot und Caro. Das kostet viel Kraft. Weshalb für Martin in diesem Gefüge kein Platz mehr ist. Das sollte sie ihm vielleicht erklären, aber vielleicht versteht er auch so.
Sie deckt den Tisch im Wohnzimmer und gießt Wasser aus der Karaffe in die Gläser, bringt die Teller aus der Küche. Margot sieht ihr zu, dann macht sie den Fernseher wieder aus.
»Soll ich dir aufhelfen oder schaffst du es alleine?«
»Es geht schon«, sagt Margot, stemmt sich hoch, zieht ihren Morgenmantel fest und schlurft von der Couch zum Esstisch. »Tut mir leid, aber es wäre zu anstrengend, mich zum Essen umzuziehen.«
»Natürlich, kein Problem.« Caro rückt den Stuhl zurecht, setzt sich dann ihr gegenüber. Gern würde sie ein Glas Wein trinken, doch das wäre unfair. Später, wenn Margot im Bett ist, wird sie sich mit einem Achterl in die Küche setzen. Meistens schaut ihre Mutter irgendeine TV-Sendung im Bett, bevor sie eine Schlaftablette nimmt. Dann bringt Caro ihr noch Tee.
Sie essen eine Weile schweigend, bis Margot fragt, wie Caros Tag war. Nicht, dass es sie interessierte, aber sie können ja nicht ständig über Fernsehprogramme, Opern oder die Krankheit sprechen. Und dann erzählt Caro ihrer Mutter von den netten oder lästigen Hotelgästen, den schwierigen Künstlern unter ihnen, den kleinen Skandalen jeder Festspielzeit. Sie bringt die Welt nach Hause, die Salzburger Welt, an der die Mutter kaum noch teilhaben kann. Obwohl es ihr seit zwei Wochen wieder besser geht, eindeutig besser, nur will sie das nicht zugeben.
Margot stochert in ihrem Essen. Von Caros Kochkünsten hält sie nicht viel, alles ist so gemüselastig und mager. Als ob sie nicht schon genug abgenommen hätte, seit sie krank ist. Haut und Knochen, denkt sie, und dass sie mit dreiundsechzig Jahren zu jung zum Sterben ist. »Und was macht der junge Mann, der an meiner Stelle mit dir im Konzert war?«
»Keine Ahnung, wir haben uns seitdem nicht mehr gesehen«, lügt Caro und bemüht sich um einen nachlässigen Ton. Sie will nicht über Martin reden. Will nicht streiten. Das Thema »Alle Männer sind Schweine« ist oft genug und von allen Seiten beleuchtet worden.
»Aber irgendwas musst du ja an ihm gefunden haben, wenn du ihm meine Karte gegeben hast. Und anschließend wart ihr noch was trinken. Ich bin aufgewacht, als du nach Hause kamst – war ziemlich spät. Hat er zufällig Ähnlichkeit mit Carlos?«
Margots Stimme ist durch die Behandlung brüchig geworden, hat jede Schönheit verloren. Sie weiß es, und sie hasst es. Das Schicksal ist ein mieses Schwein. Gönnt ihr nicht einmal mehr einen Schweinsbraten. Caro legt die Gabel zur Seite und schließt für ein paar Sekunden die Augen. Klar, das musste ja kommen. Caro und Carlos. Der schöne Spanier, der klassische Gitarre spielte und Margots Tochter mit seinem Aussehen und seiner Musik blendete. Die große Liebe und die überstürzte Hochzeit. Nach zwei Jahren Carlosʼ Wunsch, nach Spanien zurückzukehren. Und dann wurde Margot krank, nach einem schweren Sturz musste sie ein paarmal operiert werden. Wie hätte Caro ihre Mutter alleinlassen können? Sie versprach Carlos, ihm nach Madrid zu folgen. Doch es dauerte ein Jahr, bis Margot wieder ganz gesund war. Und dann, als Caro in Madrid landete, hatte ihr Mann längst eine andere.
»Woran denkst du?«
Caro sieht ihre Mutter an und fühlt vieles auf einmal. Liebe, Schmerz, Verzweiflung, Hass … den Wunsch, sich endlich lösen zu können. Und weiß doch, dass dies nur mit Margots Tod geschehen kann. Den sie sich nicht wünschen darf, unter keinen Umständen.
»Ich hab an Carlos gedacht. Was er jetzt wohl macht?«
Margot sieht Caro mit einem Lächeln an, das nicht mütterlich ist. »Wahrscheinlich spielt er in einem dieser Touristenlokale auf. Er war talentiert, aber keineswegs genial.«
Was versteht sie schon von klassischer Gitarre, denkt Caro. »Du hast ihn nie gemocht. Keinen meiner Männer.«
»Na ja, so viele waren es ja nicht. Aber weder Carlos noch die anderen waren gut genug für dich, mein Kind. Das hast du irgendwann ja auch selber begriffen, nicht wahr?«
Hat sie das? Aber ja, irgendwas ging immer schief. Vielleicht, wenn sie mit Carlos nach Spanien gegangen wäre, statt ein Jahr zu warten? Ein sinnloses Gedankenspiel, irgendwann hätte er sie sicher betrogen, er war einfach zu schön, um wahr zu sein. Und sie ist nicht gut genug, dieses Gefühl hat sich wie ein Brandmal in ihr Sein geprägt. Nicht die anderen, sie ist es, die scheitert. Angefangen bei der Beziehung zu ihrer Mutter, fortgeführt bei der zu den Männern, die ihren Weg kreuzten. Und es stimmt, viele waren es nicht. Es ist ihr immer schwergefallen, Fremden zu vertrauen. Alle Männer sind Schweine. Margot hat es oft genug gesagt.
Ihre Mutter greift sich an die Stirn und verzieht ihr Gesicht.
»Was ist los, hast du Schmerzen?«
»Der Kopf. Das ist nur eine der Nebenwirkungen. Kopfschmerzen. Übelkeit. Ich kann nichts mehr essen, räumst du bitte ab?«
»Aber einen kleinen Nachtisch noch, Mutter. Ich hab ihn von Schatz geholt, deine Lieblingsmehlspeise. Du musst einfach mehr essen!«
Margot seufzt, doch sie bleibt sitzen, bis Caro abgeräumt hat und mit der Mehlspeise kommt. Ein kleines Glas Likör trinkt sie auch, damit Caro Ruhe gibt. Essen. Schlafen. Leben. Als ob das so einfach wäre, wenn man krank ist. Manchmal erscheint es Margot einfacher, alles loszulassen. Und dann wieder will sie kämpfen. Bis zum Ende. Sie betrachtet ihr einziges Kind mit aller Liebe, derer sie fähig ist. »Du bist eine gute Tochter, Caro. Und ich bin dir sehr dankbar für alles, was du für mich tust. Wenn ich manchmal unausstehlich bin, dann musst du das meiner Krankheit zuschreiben. Die Therapie. Das alles nimmt mich unglaublich mit. Ohne dich würde ich es nicht schaffen. Ich hätte mich längst aus dem Fenster gestürzt.«
Aus dem zweiten Stock? Caro ist trotzdem gerührt und legt ihrer Mutter von hinten die Arme um die Schultern. Wie schmal sie geworden ist, Margot war einmal eine stattliche Frau. Schön auf eine herbe Art, bis die Bitterkeit überhandnahm und ihre Gesichtszüge prägte. Das Leben ist ihr zu viel schuldig geblieben. Kunst, Ruhm, Applaus, Liebe. Das Leben hat sie enttäuscht. Und noch eins draufgesetzt mit der Krebsdiagnose. »Weißt du was: Wenn der Behandlungszyklus beendet ist und der Professor sein Okay gibt, machen wir eine schöne Reise. Wohin du willst.«
Margot isst ihre Mehlspeise zu Ende, bevor sie antwortet. »Ja, das ist eine hübsche Idee.« Zunehmend begeistert: »Wir könnten uns irgendwo im Süden ein kleines Haus mieten und ein paar Monate bleiben. Von dort aus Ausflüge unternehmen. Opernaufführungen besuchen …«
Caro holt sich ein Glas Wein aus der Küche, sie bereut schon, was sie vorgeschlagen hat. »Weißt du, so lange kann ich nicht weg. Ich dachte so an zwei Wochen.«
Margot schenkt sich noch einen Likör ein und ignoriert den Blick ihrer Tochter. »Unsinn. Du könntest dein Apartment verkaufen und deine Stelle kündigen. Ist doch sowieso nichts Gescheites, die Leitung eines kleinen Hotels, so einen Job kriegst du immer wieder, Caro, Liebes. Dann bleiben wir, wo und solange es uns gefällt – und bis ich wieder ganz gesund bin.«
Das kleine und das große Nein streiten sich, und Caro trinkt erst einmal ein halbes Glas Wein, bevor sie antwortet. »Nein, Mutter, ich will meinen Job nicht kündigen, weil er mir sogar Freude macht, meistens jedenfalls. Und ich bin achtunddreißig und für den Arbeitsmarkt schon ganz schön alt. Ich will mein Apartment nicht verkaufen. Ich mag es, es ist meins. Ich bin hier nur eingezogen, weil es dir so schlecht ging. Weil du mich brauchst. Das heißt aber nicht, dass du für den Rest meines Lebens über mich verfügen kannst.«
Das große Nein hatte gesprochen. Caro lehnt sich erschöpft zurück, und Margot läuft rot an. Ihre Stimme wird schrill: »Ich hab dich nicht gebeten, bei mir einzuziehen, Caro! Das hast du freiwillig getan. Und wenn ich sterbe, was sowieso bald geschehen wird, kannst du hier ganz einziehen, und du kannst tun und lassen, was immer du möchtest. Jobs erledigen, die unter deinem Niveau sind. Dich mit Kerlen einlassen, die nichts taugen. Es ist so eine Art Familienfluch: Wir haben eben kein Glück mit Männern. Wir haben nur uns, Caro, verstehst du das denn immer noch nicht?«
Nein, schreit Caro nach innen. »Natürlich tue ich das«, sagt sie leise. »Aber ich will doch auch mein Leben leben. Das musst du verstehen!«
Margot steht ächzend auf. »Das strengt mich so an. Ich bin jetzt müde und geh zu Bett. Verzeih, wenn ich dir nicht beim Abräumen helfe.«
Nachdem sie die Küche sauber gemacht hat, ruft Caro vom Flur durch die offene Schlafzimmertür: »Ich geh an die frische Luft. Bin bald wieder da.«
Sie muss raus, sonst würde sie ersticken. An dieser Wohnung, die nach Krankheit riecht und nach Verzweiflung. An den ewig gleichen Dialogen. An allem, das sich nach Schuld und Sühne anfühlt und nach verdammter Ausweglosigkeit.
Draußen ist es schwülheiß, die Luft scheint zu stehen in der engen Gasse. Sie geht ans Eck in das kleine Café, bestellt ein Glas Weißwein mit Eiswürfeln, trinkt und bestaunt die Passanten, die sich durch die Altstadt schieben. Sie sehen alle so glücklich aus. Caro nimmt ihr Telefon aus der Handtasche und wählt Martins Nummer.
Als sie seine Stimme hört, ist ihr erster Impuls, wieder aufzulegen. Doch sie tut es nicht. »Martin, tut mir leid, dass ich nicht früher zurückgerufen habe. Es gab Ärger im Hotel und überhaupt … Hast du Zeit und Lust, dass wir uns sehen? Jetzt zum Beispiel. Ich sitze im Café Altstadt in der Judengasse.«
Sie wartet auf ihn, und es dauert nicht lange, vielleicht zwanzig Minuten, er muss geflogen sein, denkt sie. Martin sieht ganz entspannt aus, darum beneidet sie ihn. Caro lächelt ihn strahlend an: »Danke, dass du gekommen bist. Komm, setz dich her, magst was trinken?«
Zwei, die sich gegenübersitzen und spüren, dass etwas in der Luft liegt. Unbestimmt, fragil noch, ausbaufähig vielleicht. In jedem Fall spannend, aufregend, ein Spaziergang auf dem Mond der Wünsche. Sie trinken und zahlen, schlendern durch die Gassen Hand in Hand, unbeeindruckt von allem, was rings um sie vorgeht. Und dann sieht Caro nach oben und sagt: »Es sieht düster aus, in ein paar Minuten kommt ein Gewitter. Lass uns ins Hotel gehen, es ist gleich ums Eck.«
Ein Zimmer ist frei geworden wegen einer plötzlichen Abreise. Nummer einundzwanzig. Caro nimmt den Zimmerschlüssel sowie eine Flasche Wein und zwei Gläser aus der Lobbybar. Der Rezeptionist lächelt wissend bis verständnisvoll, die wenigen Gäste sind mit sich selbst beschäftigt.
Martin kann sein Glück kaum fassen und sagt lieber nichts. Er folgt ihr einfach – ins Hotel, in den Lift, in den zweiten Stock, in Zimmer einundzwanzig.
Auf den Kopfpolstern liegen zwei Mozartkugeln. Die Klimaanlage surrt dezent. Kleine Beleuchtung, große Erwartungen.
Caro schenkt zwei Gläser ein, dann zieht sie ihr weißes Leinenkleid aus. Draußen donnert es, und der Gewitterregen prasselt gegen die Fensterscheibe.
Jetzt darf die Welt für eine Weile stillstehen, denkt Martin, während er auf sie zugeht.