Kapitel 12

»Und wie war das Verhör mit der Witwe?«

Sie frühstücken gemeinsam in der Küche, Franz sehr ausgeruht und Martin in einer Art glückseligem Dämmerzustand, wer braucht schon Schlaf, wenn er verliebt ist?

Franz hat beim Bäcker frische Semmeln geholt und aufgetischt, was sein Kühlschrank zu bieten hat. Er beißt in eine mit Extrawurst und Essiggurken beladene Semmel, bevor er antwortet: »Wir durften eh nur von draußen zuschauen, das Gespräch führte der Major höchstpersönlich. Und sowieso hat er die Flock mit Glacéhandschuhen angefasst, grad dass er ihr nicht in den … du weißt schon … gekrochen ist. Sie natürlich mit Anwalt, ganz in Schwarz, und Pontius Pilatus ist ein Lercherl gegen Iris Flock. Das Verhältnis mit dem Schauspieler streitet sie nicht ab, man habe eine offene Ehe geführt, wie das in ihren Kreisen durchaus üblich sei. Hugo sei ja schließlich auch mit seiner Jugendliebe in Salzburg aufgetaucht, dieser rothaarigen alten Hexe, und zur Tatzeit war Iris Flock bei ihrer Mutter und überhaupt … für eine ehemalige Krankenschwester hat die ein ganz schönes Bohei gemacht …«

»Grins nicht immer so blöd«, sagt Franz auf einmal. »Ich kann mir schon denken, warum du erst um zwei Uhr in der Früh nach Haus gekommen bist.«

»Dann ist es ja gut.« Martin hat keinen Hunger, isst aber trotzdem, damit Fassl sich nicht so allein fühlt. »Hat sie was von Flocks Feinden erwähnt?«

»Na, die könne man an zwei Händen nicht abzählen. Konkret nannte sie nur den Namen seines alten Erzfeindes, das ist dieser Wiener Immobilienmogul – Walter Kubitschek. Die beiden seien sich immer wieder in die Quere gekommen, seit Jahren schon. So eine Art Dauerwettkampf. Einzelheiten wusste sie nicht, Flock hielt sich bedeckt, was seine Geschäfte betraf.«

Martin erinnert sich an das Gespräch mit Rüdiger, der zwar keinen Namen genannt, aber wohl dieselbe Person gemeint hat: »Ist das der Kubitschek, dem Fitnessstudios in ganz Österreich gehören?«

»Ja, und außerdem noch Hotels und Wellnessanlagen und Golfplätze. Schwer zu sagen, wer von den beiden g’stopfter war, ist aber auch schon wurscht bei dieser Größenordnung, oder?« Beim Stichwort »Wurst« nimmt Franz sich noch eine Semmel und den Rest vom Aufschnitt. »Wir haben den Kubitschek überprüft. Der war auch in Salzburg bei der Jedermann-Premiere. Saß übrigens mit Frau und Bodyguard eine Reihe hinter Hugo Flock.«

»Wird er vernommen?«

Franz antwortet erst, nachdem er den Bissen gründlich gekaut und geschluckt hat. »Du, das muss der Major entscheiden. Ich denk aber nicht, außer es gibt konkrete Verdachtsmomente. Das sind ja keine Leut, die man grad so einbestellen kann. Die fahren dann gleich eine Armada von Anwälten auf. Nach der Witwe war übrigens der Bodyguard dran, Wolf Tschebull. Bei dem hat der Major schon ganz andere Töne angeschlagen. Aber der »böse Wolf«, wie er sich nennt, ist ein harter Brocken. Und irgendwie nehm ich ihm den tumben Muskelprotz nicht ab. Der hat es faustdick hinter den Ohren, sag ich dir. Hat sogar eingeräumt, dass er ein paarmal Konkurrenten für Flock ausspionieren musste. Natürlich auch den Kubitschek. Angeblich hat er nichts herausbekommen. Aber ich sag dir, Martin: Der weiß mehr, als er zugibt …«

Martin ist so müde, dass er auf der Stelle einschlafen könnte. Und gleichzeitig so wach, wie man es nach vier Häferln Kaffee nur sein kann. All die Informationsfetzen wollen sich nicht zu einem Bild zusammenfügen. Was sie bisher vermuten, ist nur, dass jemand Flocks Herzschrittmacher manipuliert hat. Worauf der mangels Batterieleistung versagte und Hugo Flock starb. »Ihr steckt in dem Fall genauso fest wie ich mit meiner Anabolikag’schicht. Meine einzige konkrete Spur ist Marta Wallner, die Frau mit dem Postfach, die verschwunden ist. Und es kann mir keiner erzählen, dass die Oma ganz zufällig in dem Moment, in dem ich in Salzburg aufgetaucht bin, das Postfach gekündigt hat und verschwunden ist. Die Frage ist: Womit ist sie abgehauen? Auto hat sie keins, bei irgendwelchen Busreisen ist sie nicht angemeldet, und Bahnfahrten kann man natürlich schwer checken. Ich lass jetzt die Passagierlisten überprüfen, mit Abflügen von Salzburg. Wenn sie von hier aus weggeflogen ist, könnt ich einen Glückstreffer landen.«

»Oder sie wurde abgemurkst«, sagt Franz und schaut drein wie ein Totengräber.

»A geh, eine alte Frau, die den Briefträger spielte?« Martin wirft einen kurzen Blick auf sein Handy, doch da ist keine Nachricht von Caro. Eine SMS von Rüdiger, der dringend um Rückruf bittet. Er drückt sie weg. »Dieser Wiener Journalist, du weißt schon, der nervt mich so richtig mit seiner Superstory. Macht lauter Andeutungen, sagt aber nix Konkretes. Ist dir eigentlich schon aufgefallen, dass alles irgendwie mit Medikamentenhandel zusammenhängt? Ich komm nur nicht drauf, wie …«

Wahrscheinlich, weil du abgelenkt bist, denkt Fassl, spricht es aber nicht aus. Zu gern würde er Einzelheiten erfahren über Martins Abend mit der geheimnisvollen Caro. Aber er fragt schon gar nicht, weil er eh weiß, dass der Freund vornehm schweigen wird. Auf jeden Fall sieht Martin nach ausgiebigem Sex aus. Dunkle Ringe unter den Augen. Verdammt, wie er ihn beneidet! »Wir kommen noch drauf, Martin, du bist zu ungeduldig. Ich klemm mich jetzt hinter den bösen Wolf, der hat was zu verbergen, und außerdem sieht der aus wie eine Anabolikamelange auf Beinen.«

»Tu das.« Martin nimmt die letzte Semmel aus dem Korb, damit Franz nicht mehr zugreifen kann. »Aber der Professor ist noch nicht aus dem Schneider, oder? Habt ihr seine Finanzen überprüft?«

Franz sieht der Semmel nach, die auf dem falschen Teller gelandet ist. Andererseits, er hatte schon zwei und sollte eigentlich satt sein. Ein Joghurt vielleicht noch, das soll ja gesund sein. »Haben wir. Der Pongauer hat Schulden bei der Bank, seit er vor zwei Jahren die Riesenvilla in Anif gekauft hat. Eine Million, aber das ist durch die Immobilie dick abgedeckt. Und verdienen tut er ja auch nicht schlecht mit seiner Privatpraxis. Natürlich ist die G’schicht mit Flock keine Reklame, aber er wird’s verschmerzen, denk ich.«

»Er hatte von allen zwar die beste Gelegenheit, aber kein Motiv. Bei der Witwe und ihrem Liebhaber ist es genau umgekehrt. Häng dich an den Leibwächter, Franz, vielleicht ist dein Gefühl ja richtig. Ich zapf meine Quellen zum Konkurrenten Kubitschek an.« Ein Blick aus dem Fenster auf wolkenlosen Himmel und Sonne. »Obwohl, heut ist ja dein freier Tag … hast was vor?«

Franz denkt an einen Ausflug aufs Land mit ausgiebigem Mittagessen. »Ich dacht, du fährst heute zurück nach Wien? War das nicht der Plan? Nicht, dass ich dich loswerden will …«

Das war der Plan. Aber jetzt hat Martin es sich anders überlegt. »Ich denk, dass ich noch ein paar Tage dranhängen sollte. Vorausgesetzt, du hast nix dagegen? Ich hab das telefonisch schon mit Wien geklärt. Fortschritte in den Anabolika-Ermittlungen …«

Ganz im Gegenteil, Franz freut sich. Eh klar, dass die Caro dahintersteckt, trotzdem …

Martin trinkt seinen letzten Schluck Kaffee und lässt die Semmel liegen. »Aber was machen wir jetzt mit diesem schönen Tag?«

Fassl steht auf und beginnt, den Tisch abzuräumen. »Wie wär’s mit einer Landpartie und unterwegs zu Mittag essen. Vielleicht mag die Caro ja mitkommen …?«

Martin hilft ihm und räumt den Geschirrspüler ein. »Die kann heut nicht, sie muss sich um ihre kranke Mutter kümmern, weil der Pflegedienst nicht kommt und die Nachbarin im Urlaub ist. Und im Hotel hat sie auch zu tun.«

»Schade, ich würd sie gern kennenlernen. Die hat’s wohl auch nicht leicht.«

Franz schließt die Kühlschranktür und freut sich, dass er mit Martin allein bleibt, der Anblick von Liebenden stimmt ihn zurzeit melancholisch. Eigentlich immer, wenn er solo ist. Und Mehlspeisen sind halt nur ein flüchtiger Trost.

Ich vermisse sie jetzt schon, denkt Martin, und dass er Caro dafür bewundert, wie sie sich um ihre Mutter kümmert. Einerseits. »Das wird sich schon noch ergeben. Also: Wohin wollen wir unseren Ausflug machen? Bei dem Wetter wär ein See schon nicht schlecht.«

Franz hat sich von den einheimischen Kollegen warnen lassen, wohin man in der Festspielzeit bei Sonnenschein besser nicht fährt: ins Salzburger Seenland. Aber dann fällt ihm ein Geheimtipp ein, jedenfalls hofft er, dass es einer ist: »Wir könnten zum Südzipfel vom Attersee fahren, der soll nicht so überlaufen sein. Da gibtʼs einen öffentlichen Badeplatz und einen Seegasthof, und Unterach ist so ein Kaff, das aus der Zeit gefallen ist …«

»Klingt perfekt, Franz. Wir fahren mit dem Cabrio und genießen das Wetter.«

Franz fährt, und Martin schläft. Das ist schon in Ordnung, denkt Fassl, schließlich hat Martin Glück eine aufregende Nacht hinter sich. Und, man muss der Tatsache ins Auge schauen: Er ist nicht mehr der Jüngste. Sind sie beide nicht. Kurz vor Unterach, als der See schon im Blick ist, wacht Martin auf. »Wunderschön«, sagt er und gähnt. »Ein Sprung ins Wasser – und ich bin wieder fit.«

Das Wasser ist kalt. Martin schwimmt ausgiebig, und Franz wagt sich nach einigem Zögern auch ins Wasser. Die Badewiese ist voller Sonnenhungriger, was den Geheimtipp relativiert, aber zumindest scheinen es Einheimische zu sein, die Touristen zieht es überwiegend an den Wolfgangsee. Und die sind ja wirklich leicht zu identifizieren, weil sie dauernd knipsen oder für Selfies posieren, denkt Franz.

Zwei junge Frauen, die am Ufer sitzen und ihre Beine kühlen, sind schuld daran, dass er beim Ausstieg aus dem Wasser den Bauch einzieht, bis es nicht mehr geht. Und das ist der Augenblick, in dem er sich vornimmt, mit dem Laufen zu beginnen, in ein Fitnessstudio zu gehen und seinen Appetit zu zügeln. Ab morgen, verspricht er sich, und als er an den beiden vorbei ist und ein Kichern von hinten hört, da steigert er sich zu einer Halbierung der Nahrungsaufnahme. Er hat es schon einmal geschafft, warum nicht wieder?

Sie haben Badetücher mitgebracht und eine Decke, die Sonnencreme nicht vergessen und sitzen im Halbschatten eines Baumes auf der Wiese. Schauen in den Himmel und auf die Berge, und Martin sagt: »Ist schon schön hier, so was hat Wien nicht zu bieten. Du bist ein Glückspilz, Franz!«

Worauf ihm Franz von seinem hehren Vorsatz erzählt. Und darüber klagt, wie einsam er sei. Die meisten seiner Abende verbringe er vor dem Fernseher. Hin und wieder ein Feierabendbier mit Kollegen, das sei schon das Höchste.

»Und was ist mit Kolleginnen?«

Franz winkt ab. »Die sind entweder verheiratet oder dem Selbstoptimierungswahn verfallen. Weißt schon: Yoga, Pilates, Bergsteigen, Skifahren, die ganze Palette … Darüber reden sie auch noch dauernd, und wenn du da nicht mithalten kannst, bist du bei denen unten durch. Ich bin halt nicht der sportgestählte Typ.«

Martin schaut auf den Bauch neben ihm, sagt aber nichts dazu. Sondern: »Hast du schon einmal Tinder probiert?«

Kopfschütteln. »Du vielleicht?«

Martin gesteht, dass er in der ersten Trennungsphase von Larissa ein Tinder-Mann wurde. »Und bevor du fragst: Ich war drei Monate dabei, habe mit einigen Frauen gechattet, sechs von ihnen getroffen und mit zwei von ihnen Sex gehabt. Danach hab ich aufgehört, es wurden Sicherheitslücken im System bekannt und … irgendwann fand ich die Sache dann doch zu unromantisch. Weil ich im Gegensatz zu dem, was Frauen mir nachsagen, eigentlich ein hoffnungsloser Romantiker bin.«

Ich auch, denkt Fassl, aber was dabei rauskommt, sind Freundinnen, die einen verlassen, weil man »zu nett« ist. »Und du meinst, da treff ich die Richtige?«

Martin blinzelt in die Sonne und genießt den Augenblick, der schweigend noch schöner wäre. Aber Franz scheint wirklich zu leiden, und er würde ihm so gerne helfen. »Ich hab keine Ahnung, aber probieren kostet nicht viel. Versuch es erst einmal mit einem Monat, erstell ein Profil, nette Fotos dazu, die Gebühren staffeln sich nach dem Alter, kosten aber nicht die Welt. Und dann siehst du die Frauen in deiner Umgebung, die auch allein sind. Und wenn du nach rechts wischt, bist du interessiert, und wenn sie das bei deinem Profil auch macht, habt ihr ein Match. Und dann könnt ihr chatten und euch treffen, wenn ihr wollt. So einfach ist das.«

Es klingt verheißungsvoll, doch Franz sieht schon die erste Hürde: »Und welche Fotos soll ich nehmen?«

»Ehrlich, aber schmeichelhaft, würd ich sagen. Ich kann ja ein paar Fotos machen. Wenn du kochst, zum Beispiel. Frauen mögen Männer, die kochen.«

Und unter der Schürze sieht man den Bauch nicht, denkt Franz, wenn er ihn einzieht. »Aber ich will auf keinen Fall zu nett wirken.«

Martin muss lachen. »Der Satz hat dir aber arg zugesetzt. Die Frau hatte unrecht, und außerdem passte sie eh nicht zu dir. Schau dich doch um: Sie kommen in allen Formen und Größen und Ausführungen. Und einer davon könntest du auf Tinder begegnen und sie nächste Woche vielleicht schon treffen.«

Franz sieht auf eine Dunkelhaarige mit genau den richtigen Kurven, die vorbeigeht und sich nach kurzem Zögern in der Nähe niederlässt. Natürlich wär er viel zu schüchtern, sie anzusprechen, und schon gar nicht in der Badehose. »Ich mach’s. Hilfst du mir dabei?«

Martin verspricht es und gibt noch einen Rat, seine Worte sorgfältig wählend: »Aber mach nicht den Fehler, auf die ganz attraktiven Fotos reinzufallen. Du weißt schon, Frauen mit Modelmaßen und perfekten Gesichtern. Könnte Photoshop sein, und wenn nicht, spielen diese Damen in einer Liga, in der du gar nicht sein möchtest.«

Franz schaut auf die Dunkelhaarige, die ihren Luxuskörper lasziv eincremt. Sie weiß, dass man sie beobachtet, und sie genießt es. Leise: »Keine Angst, ich versteh schon, was du meinst. Es gibt Frauen, bei denen hab ich einfach keine Chance. Weil ich halt nichts Besonderes bin. Beamter im mittleren Dienst, mittleres Alter, mittlere Intelligenz, leicht übergewichtig, mit einem Allerweltsgesicht. Halt eher ein Loser, nicht wahr? Ich kenne meine Liga schon, keine Sorge, Martin.«

»Verdammt, so hab ich das nicht gemeint.« Martin könnte sich ohrfeigen für seine letzten Sätze. »Du bist gescheit und liebenswert und … mein bester Freund. Weil du einen bärenstarken Charakter hast und Humor und Feingefühl und … ja, einen Bauch hast du auch wieder, weil du deinen Kummer in dich reinfrisst. Aber das könntest du erstens ändern, und zweitens gibt es genug Frauen, die gepolsterte Männer mögen … Und jetzt stürz ich mich noch einmal ins Wasser, kommst mit?«

Martin steht auf und reicht seinem Freund die Hand. Franz nimmt sie und rappelt sich auf, er ist gerührt und würde das gern zeigen, doch Martin scheut Gefühlsorgien wie der Teufel das Weihwasser. Als Franz steht, läuft Martin los in Richtung Wasser. Die Dunkelhaarige sieht ihm nach. Franz zieht den Bauch ein und folgt ihm. Gern hätt er noch was gesagt über Freundschaft und Wertschätzung, aber Martin und er, sie tun sich beide schwer, über Emotionen zu reden. Ein Manko der Männer, denkt Franz, und dass ihm andererseits in seiner ersten und einzigen Yogastunde der Lehrer mit seinem Mantra über Achtsamkeit und Innenschau ganz schön auf den Geist ging. Und so laviert Franz zwischen Weichei und Macho auf dem schmalen Pfad der Selbstfindung mit ganz vielen Ausrutschern.

Das Wasser ist immer noch saukalt. Ganz langsam geht er hinein, während Martin schon weit hinausgeschwommen ist in den See, er kann ihn kaum noch erkennen.

Doch was Franz sieht, als er untertaucht und wieder hochkommt, ist ein Kind, das strampelt und untergeht. Unbemerkt von den anderen, die im Wasser planschen. Das Kind schreit nicht um Hilfe, es versinkt einfach, und Franz, der noch stehen kann, schwimmt mit drei kräftigen Zügen zu der Stelle, an der er es zuletzt gesehen hat, taucht unter und sieht die kleine Gestalt im aufgewühlten Wasser hinunter zum Grund sinken. Greift nach ihr und hebt sie hoch über das Wasser, trägt sie hinaus ans Ufer, ruft den Leuten zu, dass sie einen Krankenwagen rufen sollen. Er legt das Kind ab und tut das, was er im Erste-Hilfe-Kurs in der Polizeischule gelernt hat: Mund-zu-Mund-Beatmung, gleichzeitig Druck auf den Brustkorb, nicht zu stark, das Kind ist klein und schmächtig, ein Mädchen, und er gibt nicht auf, auch wenn es zunächst wie leblos daliegt und keine Reaktion zeigt. »Komm schon, Kleine«, sagt er, und eine Menschentraube bildet sich um ihn herum, von Weitem hört er die Sirene eines Krankenwagens. Franz konzentriert sich nur auf das Kind, das – endlich – einen Schwall Wasser spuckt, und er lacht vor Erleichterung. Eine Frau kniet neben ihm und beugt sich über das Mädchen. Die Mutter.

Die Sanitäter treffen ein und bahnen sich ihren Weg durch die gaffende Menge. Einer beruhigt die Mutter, der andere sagt zu Franz, dass er von jetzt an übernehme. Er setzt das hustende und Wasser spuckende Mädchen auf und hüllt es in eine wärmende Decke.

»Sie hat’s geschafft, weil du alles richtig gemacht hast«, sagt er zu Franz, der erschöpft neben ihm sitzt, die Umstehenden applaudieren. Ein junger Mann kommt auf Franz zu: »Ich hab das Ganze gefilmt und stell es gleich ins Netz. Du bist ein Held, Mann, ein Lebensretter …«

Martin, der erst zurückgeschwommen ist, als er die Menschenansammlung am Ufer wahrnahm, hört die letzten Worte. Er geht zu seinem Freund und klopft ihm auf die Schulter. »Gut gemacht«, sagt er nur und reicht ihm die Hand, an der Franz sich hochziehen kann. Dann gehen beide zurück zu ihrem Platz, vorbei an der dunkelhaarigen Schönheit, die Franz anlächelt und sagt: »Sie sind ein toller Typ.«

So schnell kann’s gehen. Franz lächelt zurück und setzt sich mit Martin auf die Decke, rubbelt sich mit dem Handtuch ab. »Mein Held«, sagt Martin leise, dann lachen beide. Franz schaut zu, wie die Sanitäter mit Mutter und Kind in den Krankenwagen steigen, der sirenenlos davonfährt. Die Menge löst sich auf, der Badespaß kann weitergehen, nur dass die Mütter nun ihre Wasserratten schärfer im Blick haben. Martin und Franz legen sich hin und schließen die Augen, um sich den Strahlen der Sonne hinzugeben.

Um zwei Uhr herum, Martin schläft schon wieder, knurrt Fassls Magen. Franz rüttelt seinen Freund wach. »Komm, lass uns mittagessen. Meine Henkersmahlzeit, weil morgen fang ich an. Es gibt da ein ganz schönes Gasthaus am Hafen, vielleicht erwischen wir noch einen Platz auf der Terrasse. Außerdem krieg ich einen Sonnenbrand, wenn wir hier noch länger rumliegen.«

Einem Helden widerspricht man nicht. Martin zieht sich an und folgt Franz zum Auto, das so aufgeheizt ist, dass sie Handtücher auf die Sitze legen müssen. Und sie haben Glück, weil im Gasthof zwei Plätze am Seeufer unter einem Sonnenschirm frei geworden sind, als sie ankommen.

Die Kellnerin, die natürlich ein Dirndl trägt, bringt die Speisekarten und kurz darauf zwei Gläser Bier. »Ich fahre«, sagt Martin, und dass er es bei dem einem Glas belassen wird. Der Held darf zwei trinken oder auch drei, wenn er mag. Und Schlipfblatteln bestellen, mit Spinat und Topfen gefüllte und mit brauner Butter übergossene Nudeltaschen. Eine Salzburger Spezialität, die garantiert nicht dünn macht. Martin schließt sich an, weil er neugierig ist. Und glücklich auch, so rundherum zufrieden mit sich und dem Rest der Welt, der sich heute umwerfend schön präsentiert, mit makellos blauem Himmel und glitzerndem See. Nicht einmal die Leute stören ihn, und auch nicht das Läuten seines Handys. Er steht auf und geht ein Stück weg von den Tischen.

»Habt ihr die Mörderin schon überführt?«

»Hallo, Romana. Ich grüße dich auch. Mir geht es gut – und dir?«

Ein Seufzen. »Wie sollʼs mir gehen, wenn die Liebe meines Lebens ermordet wird und die Täterin noch frei herumläuft.«

»Die Ermittlungen laufen auf Hochtouren«, sagt Martin ungerührt. »Du musst nach vorne schauen, Romana. Außerdem musst du dich um deine Sommergäste kümmern, das Haus ist doch sicher voll.«

»Nona. Einen Haufen Wiener hab ich diesmal …«

Martin unterbricht sie: »Du, ich bin mit Franz in einem Gasthaus am Attersee, und ich seh grad, unser Essen kommt. Kann ich dich später zurückrufen?«

Bevor sie antworten kann, beendet Martin das Gespräch. Er geht wieder zum Tisch, an dem die Kellnerin gerade zwei Riesenportionen auftischt.

»Caro?«

»Nein. Romana. Ich hab sie abgewürgt und meld mich später noch einmal bei ihr. Guten Appetit, mein Held.«

»Nun hör schon auf damit. Das hätte doch jeder getan.« Franz widmet sich einem seiner Lieblingsgerichte, auf das er in nächster Zeit verzichten wird. Ihm kommt es vor, als hätte es ihm noch nie so gut geschmeckt wie gerade heute. Und dazu das kalte Bier …

Als er den letzten Bissen verzehrt hat und sich mit einer Serviette den Mund abtupft, tippt von hinten jemand auf seine Schulter. Er dreht sich um: Ein Teenager steht vor ihm und hält ihm das Handy entgegen. »Das bist doch du, oder? Der Typ, der ein Kind aus dem Wasser gezogen und gerettet hat. Mensch, das sieht man dir gar nicht an …«

Martin grinst. Die umstehenden Tische werden aufmerksam, mehr Handys werden herausgeholt, auf YouTube sucht man den »Retter vom Attersee« und wird fündig.

Franz hat jetzt rote Wangen, von der Sonne, und auch, weil ihm so viel Aufmerksamkeit unangenehm ist. Die Kellnerin räumt die leeren Teller ab und bringt gleich danach zwei Ribiselschnäpse. »Die gehen aufs Haus«, sagt sie mit einem Lächeln, das jedes Herz zum Schmelzen bringen würde. »Für den Retter vom Attersee!«

Martin nimmt nur einen winzigen Schluck und schiebt dann Franz sein Glas zu. »Du, ich muss fahren. Aber du kannst heute trinken, so viel du nur willst.«

Und dann schaut er über Franz hinweg zum Ausschank und sieht ein Paar auf die Terrasse kommen, das er hier nicht erwartet hätte: Caro Held und Professor Doktor Ferdinand Pongauer.