Romana verflucht den Tag, an dem sie beschloss, die alte Villa in eine Frühstückspension zu verwandeln. Weil es doch so ist, dass die meisten Gäste Nervensägen sind. Nicht alle, ein paar reizende Stammkunden sind schon dabei, aber all die anderen sind furchtbar strapaziös. Immer wollen sie was von ihr. Und jetzt, da Alex in Wien ist, um irgendeinem Model-Job nachzugehen, mutet man ihr sogar zu, eine defekte Glühbirne auszutauschen.
Sie öffnet den Schrank, nimmt eine heraus und drückt sie dem verdutzten Gast in die Hand: »Das können Sie doch sicher viel besser als ich.« Spricht’s, dreht sich um und verschwindet in ihrem Büro. Dort liegt Alex II, der Hund, den sie bei ihrem letzten Wienaufenthalt aus dem Tierheim gerettet hat. Definitiv ihre letzte große Liebe, nun, da Hugo tot ist.
Sein Bild steht auf ihrem Schreibtisch, und sie nimmt es in die Hand. »Ich werde den finden, der dich auf dem Gewissen hat«, verspricht sie ihm. »Oder die«, fügt sie hinzu. Zunächst sind Martin und Franz am Zug, aber wenn die beiden nicht weiterkommen, wird sie selber aktiv werden. Weil dieser Mord nicht ungesühnt bleiben darf. Damit könnte sie sich nie abfinden.
So nah war das Glück. Die Pension hätte sie geschlossen und wäre nebenan eingezogen in Hugos neue prächtige Villa, eine Festung aus Holz und schussfestem Glas am Ufer des Wörthersees. Ein bisserl paranoid war er schon, der Hugo. Seine permanente Angst, entführt zu werden. Oder dass seine Kinder gekidnappt werden. Ob Leonie wohl zum Begräbnis kommt? Vor etwa dreißig Jahren verschwand sie mit ihrem Argentinier nach Südamerika. Das große Zerwürfnis mit Hugo, der seiner Tochter verbieten wollte, ihrem »Cowboy« in seine Heimat zu folgen. Nun, Leonie tat es trotzdem und sagte sich von ihrem Vater los. Später, nach seiner Scheidung, konzentrierte sich Hugo dann darauf, den einzigen Sohn als Erben aufzubauen. Und Geld zu scheffeln, viel Geld, mit Immobilien und Firmenbeteiligungen.
Christian ging in ein Schweizer Internat und studierte in London Betriebswirtschaft, um danach in die Firma einzutreten. Hugo erlitt einen Herzinfarkt, erholte sich davon und heiratete seine Krankenschwester. Das war ein Schlag ins Gesicht, den Romana nie vergessen wird. Weil sie doch dachte, dass Hugo sie nach seiner Scheidung bitten würde, seine Frau zu werden. Die gute Romana, die immer für ihn da war … Und dann teilte er ihr auf einmal mit, dass er sich in Iris verliebt habe, den blonden Engel, der ihn gesund gepflegt hatte.
Romana kann sich noch genau daran erinnern: Sie saßen auf ihrer Terrasse, die Sonne versank im See, und Hugo sprach die Worte, die sie wie Messerstiche trafen. Jedes einzelne. Natürlich würden sie immer Freunde bleiben, diese unterirdische Phrase … Oh, was hat sie ihm für eine Szene hingelegt und so laut geschrien, dass der halbe See es mithören konnte. Bis er aufstand und hinunterging zum Wasser, wo sein Boot vor Anker lag und sein Leibwächter wartete. Danach haben sie Jahre nicht miteinander gesprochen, Hugo und sie. Bis sie ihm verzieh oder zumindest so tat als ob.
Die Klingel an der Rezeption stört ihre Reise in die Vergangenheit. Sie könnte sich tot stellen, denkt Romana, steht aber dennoch auf und geht nach draußen. Der deutsche Professor beschwert sich, dass der Lärm der Motorboote seinen Nachmittagsschlaf beeinträchtige.
Romana zwingt sich zu einem Lächeln, das zur Grimasse gerät. »Das tut mir furchtbar leid, aber was soll ich tun? Motorboote per Dekret verbieten lassen? Sie in die Luft sprengen? Wenn Sie Ruhe suchen, Professor, dann gehen Sie in die Wüste. Oder an den Nordpol.«
Er schnappt nach Luft, sie dreht sich um und schlägt die Bürotür zu. Als Frau von Hugo Flock hätte sie das nicht mehr nötig gehabt, sich für Gäste zu verbiegen, denkt sie. Und als es nochmals klingelt, stürmt sie nach draußen, ohne auch nur ein Lächeln zu versuchen. Der Professor steht am selben Platz und sagt: »Das muss ich mir nicht bieten lassen, machen Sie mir die Rechnung fertig, ich ziehe aus.«
Einer weniger! »Das freut mich aber sehr. Und beeilen Sie sich, sonst muss ich Ihnen den Tag noch berechnen. Normalerweise wird um elf Uhr ausgecheckt.«
»Ich werde Ihnen ganz miese Bewertungen geben, Frau Petuschnigg. Ich werde Sie im Internet fertigmachen, darauf können Sie Gift nehmen!«
Alex hat eine Website eingerichtet für die Villa Romana. Völlig überflüssig, wie die Besitzerin findet, schließlich ist sie Jahrzehnte ohne den Unfug ausgekommen. Weshalb die Drohung ihr nur ein verächtliches Schnauben entlockt. Aus der offenen Bürotür flitzt Alex und kläfft den Professor an.
»Fass, Alex«, sagt Romana. Ein kleiner Scherz angesichts eines sehr kleinen Hundes, der nicht einmal Mäuse erschrecken könnte. Doch der Professor weicht zurück und verschwindet fluchend auf die Treppe. Romana tätschelt Alex und öffnet ihm die Tür zum Garten. »Gut gemacht, du Bestie! Ich muss dem Kretin noch die Rechnung schreiben, dann komm ich auch nach draußen.«
Papierkram, sie hasst ihn und verflucht Alex dafür, dass er in Wien weilt. Weil er ja eigentlich Model ist, zumindest diesem Traum nachjagt, obwohl Alex mit über dreißig Jahren schon reichlich alt für das Metier ist. Na ja, so hat halt jeder seine Träume, und ihrer war, einmal Romana Flock zu heißen. Stattdessen wird Hugo morgen beerdigt. Am Friedhof in Pörtschach, eine kleine Feier im engsten Kreis. Es überrascht Romana keineswegs, dass sie nicht eingeladen wurde. Aber sie wird trotzdem hingehen! Eine rote Rose auf den Sarg werfen. Und sollte es jemand wagen, sie daran zu hindern, wird sie zur Furie werden.
Die Rechnung ist fertig, handgeschrieben, und Romana steckt sie in einen Umschlag und schreibt den Namen des Professors darauf. Sie hört Alex im Garten kläffen, schreit nach draußen »Aus! Ruhe!« und hofft, dass der Professor sich beim Packen noch einmal richtig ärgert über den Lärm. Dann geht die Eingangstür auf, und eine Frau mit Koffer tritt ein.
»Grüß Gott«, sagt die Frau.
Ein leichter Akzent, den Romana nicht recht einordnen kann. Sie erwidert den Gruß und sagt nicht unfreundlich: »Falls Sie ein Zimmer suchen, wir sind leider ausgebucht.«
»Oh, schade. Bist du’s wirklich? Romana …!?«
Die Frau ist groß und schlank und müsste so an die fünfzig sein, eventuell etwas jünger. Sie kommt Romana bekannt vor, aber woher? Spielkasino? »Ja, wer denn sonst.«
Die Fremde lächelt: »Ich bin Leonie. Hugos Tochter.« Sie setzt den Koffer ab und kommt näher. »Es ist so lang her, kein Wunder, dass du mich nicht erkennst.«
»Jessas«, ist alles, was Romana dazu einfällt. Dann lächelt sie zurück und sagt: »Du kommst zum Begräbnis deines Vaters. Es ist so furchtbar, wir waren so glücklich und wollten nach seiner Scheidung von dieser Iris heiraten, und dann … sein Herz …«
Und jetzt, zum ersten Mal seit Hugos Tod, weint Romana echte Tränen. Sie vermischen sich mit Wimperntusche und Kajalstift und laufen ihr über die Wangen.
Leonie tritt einen Schritt näher und legt ihre Arme um Romana. Sie zieht ein Taschentuch aus ihrer Handtasche. »Hier, du bist ganz verschmiert. Ich suche eine Unterkunft. Mutter und Christian sind ja tot, und bei der Witwe möchte ich nicht wohnen, ich kenn die ja überhaupt nicht.«
Romana tupft sich die Spuren von Tränen und Schminke von den Wangen. »Du wohnst natürlich bei mir. Ein Gast zieht grad aus, ich lass dir das Zimmer herrichten. Bleib, solange du willst. Und jetzt gib mir deinen Koffer, dann gehen wir raus auf die Terrasse und trinken was … Wie hast du überhaupt davon erfahren in …?«
»… Bariloche. Ich hab mir eine deutsche Zeitung gekauft, da hab ich es gelesen. Kurz darauf kam die Nachricht vom Notar. Ich hab mich gleich in den nächsten Flieger gesetzt, erst nach Buenos Aires, dann nach Wien. Dort hab ich mir einen Mietwagen genommen.«
Sie gehen hinaus und setzen sich in den Schatten eines Sonnenschirms. »Ich hab ganz vergessen, wie schön es hier ist«, sagt Leonie und stellt sich an die Brüstung.
Alex kläfft sie an, bis Romana ihn zurechtweist. »Der Hund ist völlig unerzogen, alles meine Schuld. Was magst du trinken? Einen schönen eiskalten Muskateller?«
Sie bringt die Weinflasche, Mineralwasser und viel Eis. Die beiden Frauen stoßen an und trinken, dann schauen sie schweigend auf den See, jede in ihren eigenen Erinnerungen gefangen. Leonie denkt an eine glückliche Kindheit trotz schwieriger Mutter und meist abwesendem Vater. Sie und Christian standen sich sehr nah, vielleicht gerade deshalb. Und ein paar Sommer lang fuhren sie fast täglich mit Boot und Leibwächter zu Romanas Anlegestelle, weil dort immer Kinder waren, mit denen sie spielen konnten. Und Romana gab ihnen Limonade und Eis, und manchmal war auch Hugo dort, und sie dachten sich nichts dabei. Leonies prägende Erinnerung an ihre Mutter ist ein abgedunkeltes Schlafzimmer und eine Frau, die unter schrecklicher Migräne litt. Man musste sehr leise sein, wenn man sie besuchte, wagte kaum aufzutreten. Ärzte gingen ein und aus, doch die Migräne blieb.
Romana denkt, wie viele Male Hugo übers Wasser kam, um sie zu besuchen. Bis er nebenan einzog und durch eine geheime Tür in ihr Grundstück gelangte. Wie lang ist es her, dass sie den Sex einstellten? Auf Viagra wollten sie seines Herzens wegen verzichten, und sie brauchten es beide auch nicht mehr. Freundschaft und absolutes Vertrauen, das war das Band zwischen ihnen im Alter. Ein starkes Band …
»Hat er leiden müssen?«
Romana sieht Leonie an, die eine große, dunkle Sonnenbrille trägt. »Nein, es ging ganz schnell. Sein Herzschrittmacher versagte, er hatte einen Infarkt und sackte einfach so zusammen. Während der Jedermann-Premiere. Ich saß neben ihm und habe es nicht bemerkt. Ich dachte, er schläft. Weil er das oft tat im Theater oder Konzert. Er war nicht mehr der Jüngste, weißt du.«
Du bist auch nicht mehr die Jüngste, denkt Leonie. Doch sie findet, dass die Zeit mit Romana gnädig umgegangen ist. Immer noch schimmert die umwerfende Rothaarige durch, die ihren Vater so lange bezirzt hat. Er war kein netter Mensch, nicht in ihrer Erinnerung, aber vielleicht hatte das Alter ihn milder gemacht. Weniger herrisch und tyrannisch und selbstgerecht. Oh, wie sie ihren Vater gehasst hat so viele Jahre lang. Jetzt ist da nur noch eine sonderbare Leere. Weil sie die Letzte der Flocks ist. Die Witwe zählt nicht.
Romana überlegt kurz, ob sie Leonie von ihrem Mordverdacht erzählen soll, doch dann verschiebt sie es auf später. »Du weißt schon, dass morgen das Begräbnis ist. Um zehn Uhr am Friedhof in Pörtschach, danach ein Leichenschmaus im My Lake Hotel. Hat alles die Witwe organisiert. Weiß sie, dass du hier bist?«
Leonie lächelt in die Sonnenstrahlen. »Nein, ich denke nicht. Ich werde sie morgen mit meinem Auftauchen überraschen. Ich nehme an, du bist nicht zum Begräbnis geladen.«
Romana grinst beinahe diabolisch. »Was denkst du denn … Aber sie kann ja wohl kaum was machen, wenn ich in deiner Begleitung auftauche … als alte Freundin der Familie. Was meinst du?«
Leonie lächelt sonnig. »Ich meine, das ist eine ausgezeichnete Idee. Ist der ›böse Wolf‹ immer noch in Diensten der Familie?«
Romana bejaht. »Er hat vor Kurzem für Hugo herausgefunden, dass Iris eine Affäre mit einem Kärntner Schauspieler hat, einem gewissen Paul Neumann. Hugo war nicht amüsiert. Er wollte sich scheiden lassen, weil er genug hatte von ihren lächerlichen Liebschaften. Dieser Neumann ist übrigens kurzfristig als Tod bei der Jedermann-Premiere in Salzburg eingesprungen.«
»Das ist sonderbar«, sagt Leonie. »Das mit dem Tod auf der Bühne und Vaters Tod im Zuschauerraum.«
»Die Presse hat dieses Zusammentreffen ja auch weidlich ausgeschlachtet.« Romana hebt ihr Glas. »Auf Hugo – wo immer er jetzt ist.«
Leonie tut es ihr nach. »Auf Hugo – ich tippe auf die Hölle, falls es sie gibt.«
Romana muss lachen und wird dann ernst: »Er war ein egomanisches Monster, aber kein schlechter Mensch, weißt du. Er hat euch beide sehr geliebt, auch wenn er es nicht so zeigen konnte. Und er hat wirklich gelitten nach eurem furchtbaren Streit. Nachdem du nach Argentinien bist. Hat oft über dich gesprochen, weißt du, aber er war zu stolz, den ersten Schritt zu tun. Dafür hat er Christian mit Vaterliebe fast erdrückt.«
Leonies Stimme klingt gereizt: »Na ja, er war ja auch der Sohn und würdige Nachfolger. Wusstest du, dass Christian homosexuell war? Nein? Er hat sich tatsächlich nie getraut, es Vater zu sagen. Sich zu outen. Stattdessen hat er sich immer mit irgendwelchen dämlichen Weibern umgeben, die ihm nichts bedeuteten. Er war ein sehr unglücklicher Mann, mein Bruder. Weil sein ganzes Leben eine Lüge war!«
Geahnt hat sie es schon, aber nie mit Hugo darüber geredet. Aus Feigheit, wie sich Romana jetzt eingesteht. »Ihr seid also in Kontakt geblieben.«
Leonie trinkt ihr Glas leer und schenkt sich nach. »Ja, die ganze Zeit. Wir haben uns geschrieben, gemailt, er hat mich auch angerufen, ein einziges Mal.«
Sie schweigen für ein paar Sekunden.
»Um mir zu sagen, dass er Krebs hat. Und nicht mehr lang zu leben. Ich wollte herkommen und ihn sehen, aber Christian lehnte das ab. Ich sollte ihn so in Erinnerung behalten, wie er früher war. Jung und stark und glücklich … obwohl ich inzwischen daran zweifle, dass er das jemals war. Glaubst du, er bekam den Krebs, weil er so ein falsches Leben führte?«
»Nein, es war einfach nur mieses Schicksal. Und ich glaube schon, dass Hugo es irgendwie geahnt hat. Er konnte nur nicht mit Christian darüber reden. Nicht einmal mit mir.«
Blauer Himmel, türkiser See und ein Bergpanorama zum Niederknien. Und doch sitzen sie hier und reden über den Tod, den kein Geld der Welt aufhalten konnte. Romana leert ihr Glas. »Hugo hat wirklich alles versucht, um Christian zu retten. Er hat jeden bedeutenden Onkologen kontaktiert. Weißt du, ich glaube, er hätte sein Vermögen hingegeben für Christians Heilung … Jedenfalls hat er einen Professor und ein neues Medikament entdeckt. Und Christian schien es wie durch ein Wunder besser zu gehen. Hugo war so glücklich …«
»Und dann?«
»Der Krebs ging zurück, dann ist Christian plötzlich an einem Hirnschlag gestorben. Hugo war wie von Sinnen vor Trauer. Es wäre gut gewesen, wenn du gekommen wärst. Das wäre ihm ein Trost gewesen.«
Leonie schaut aufs Wasser. Auf der anderen Seite des Sees ist sie aufgewachsen in einer alten prächtigen Villa, so viel kalter Marmor und abweisendes Mobiliar, viel zu kostbar, um es unbeschwert zu nutzen. Kein Wunder, dass die Menschen in diesem Haus starr und stumm wurden, als die Kindheit sich verflüchtigte. »Ich weiß nicht, ich habe mich nie von ihm geliebt gefühlt. Nur Christian konnte nie was falsch machen. Oh ja, ich glaube dir, dass Hugo am Boden zerstört war. Weißt du eigentlich, was in seinem Testament steht?«
Ist sie deshalb hier, denkt Romana auf einmal. Geht es nur ums Geld? Sie wünschte, Leonie würde ihre große Sonnenbrille abnehmen. Vorsichtig: »Keine Ahnung. Hugo wollte es ändern und Iris rauswerfen. Aber ich weiß nicht, ob es dazu noch gekommen ist. In Geldsachen war er oft so geheimniskrämerisch. Aber du wirst ja auf jeden Fall deinen Pflichtteil erben, ich denke nicht, dass das wenig ist.«
»Und du? Was kriegst du?«
Die Frage klang wie ein Pistolenschuss, denkt Romana. Wer ist dieses Wesen, das so plötzlich aufgetaucht ist nach fast drei Jahrzehnten? Freund oder Feind? Sie ist sich plötzlich nicht mehr sicher. »Auch das weiß ich nicht.«
»Nun, das wird sich ja bald klären.« Leonie lächelt Romana an: »Ich bin so froh, dass ich bei dir wohnen kann. Es ist ein bisschen wie nach Hause kommen. Und dass du morgen mit zum Begräbnis gehst, ist auch eine große Stütze …«
Aus dem Hausinneren ertönt die Glocke. »Entschuldige«, sagt Romana und geht zur Rezeption, an der der Professor nebst gepackten Koffern steht. Er trägt seinen Strohhut, mit dem er aussieht wie der Trottel, der er ist. Romana reicht ihm den Umschlag mit der Rechnung. »Wollen Sie mit Kreditkarte …?«
Er zahlt bar. Blättert ihr die Scheine hin wie ein Almosen. Sie streift sie nachlässig ein und bietet ihm natürlich nicht an, ihm mit dem Gepäck zu helfen. Sein »Auf Nimmerwiedersehen« ignoriert Romana, dafür knallt sie die Haustür hinter ihm zu. Dann ruft sie Ivanka an und bittet sie, außertourlich zur Villa zu kommen, um ein Zimmer zu putzen. Und am nächsten Tag früher zu kommen, weil sie zu einem Begräbnis muss und nicht weiß, wann Alex aus Wien zurück ist. Ivanka murmelt etwas von unbezahlten Überstunden und verspricht trotzdem, sich auf den Weg zu machen.
Als Romana wieder zurück zur Terrasse geht, überlegt sie, dass Leonie immer schon die Stärkere von den zwei Geschwistern war, Hugo viel ähnlicher als Christian. Der Sohn war mehr nach der Mutter geraten, ein ewig Leidender, und wenn Romana ehrlich zu sich selbst ist (eher Ausnahme denn Regel), dann mochte sie Hugos Sohn nicht besonders. Natürlich tat er ihr leid, als er an Krebs erkrankte. Und sie litt mit Hugo, der Christians Krankheit einfach nicht akzeptieren konnte. Seinen Tod. Erst danach wurde sie zum wichtigsten Menschen in Hugos Leben. Seine letzte Liebe, wie er es nannte.
Sie steht vor Leonie, die ihre Turnschuhe ausgezogen und ihre Hose aufgekrempelt hat und ihre nackten Beine in die Sonne hält. Sie sind sehr weiß. »Magst schwimmen gehen? Dein Zimmer muss noch gerichtet werden, aber du könntest dich in meiner Wohnung umziehen, wenn du möchtest.«
»Später«, sagt Leonie. »Im Moment wärme ich mich erst einmal auf. Wir haben Winter in Argentinien, und in Patagonien kann es ganz schön kalt werden.«
Romana denkt an Gletscher und Schafe. Sie war noch nie in Argentinien, hat aber einmal einen Artikel über Patagonien gelesen. »Und wie ist es so – dein Bariloche?«
Leonie lacht. »Ich zeig dir später ein paar Bilder. Es sieht aus wie ein Schweizer Alpendorf, wirklich. Die Häuser, die Kuckucksuhren … Tatsächlich sind viele Nazis nach Bariloche gekommen nach dem Krieg, es gibt bei uns immer noch Leute, die Deutsch sprechen, aber sie sterben so allmählich aus, Gott sei Dank, möchte man sagen. Unsere Farm liegt fünf Kilometer außerhalb von Bariloche, am anderen Ufer des Nahuel Huapi, aber Fernando wollte, dass unser Sohn in die deutsche Schule geht, weil die die beste Ausbildung bot.«
»Fernando ist dein Mann?«
»Ja, der ›Cowboy‹, wie Hugo ihn nannte. Unser Sohn heißt Valentín, er ist schon fünfundzwanzig, stell dir vor.«
Romana denkt, dass Leonie ihrem Vater seinen einzigen Enkel vorenthalten hat. Aus Stolz? Aus Rache? »Und die beiden sind nicht mitgekommen?«
Sie sieht Romana an, als sei die Frage unverschämt. »Nein. Fernando hat auf der Farm zu tun, und Valentín ist beruflich sehr eingespannt. Er arbeitet für ein großes Unternehmen und ist viel unterwegs. Außerdem, warum sollten sie zum Begräbnis eines Mannes, den sie nicht kannten? Hugo hat Fernando damals nicht einmal empfangen! Er musste draußen vor dem Tor auf mich warten.«
»Dein Vater konnte«, sagt Romana, »schrecklich stur sein.« Und genau dies, denkt sie, hast du von ihm geerbt. »Und ihr lebt also von dieser Farm?«
Sie hört Ivanka durch die Halle kommen, der Putzteufel hat einen geräuschvollen Gang. »Zimmer sieben«, ruft sie ihr durch die Terrassentür zu. Es ist eines der schönsten Zimmer der Villa mit kleinem Balkon zum Garten und See. Ganz kurz überlegt Romana, ob sie Leonie wirklich den Hochsaisonpreis berechnen soll, aber dann denkt sie, hier wohnt eine reiche Erbin, warum also nicht?
»Die Farm ist riesig, das kannst du dir gar nicht vorstellen«, sagt Leonie. »Wir züchten Pferde und Schafe und Alpakas. Es ist ein karges Land, nicht so wie hier. Aber wir haben Glück, dass wir Zugang zum Wasser haben. Die letzten Jahre waren ganz schön hart. Und Fernando und ich werden nicht jünger.«
Romana fragt nicht, warum es keine weiteren Kinder gibt. Oder warum Leonie bis zum Tod ihres Vaters gewartet hat, um zurückzukehren. Sie schaut in das blasse, ein wenig harte Gesicht ihres Gegenübers und kann darin Hugo erkennen. Nur war der viel dicker, Leonie ist eher dürr zu nennen.
Sie steht auf. »Weißt du was, bis dein Zimmer fertig ist, mach ich uns was zu essen. Eine Kleinigkeit. Vielleicht ein spanisches Omelett, oder magst du lieber einen libanesischen Brotsalat?«
Leonie erinnert sich an die Kochkünste von Romanas Mutter. Trotzdem: »Mach dir nur keine Umstände, eine Wurstsemmel tut es auch. Und danach gehe ich auspacken, und dann springe ich in den See.«
Romana verschwindet in die Küche und entscheidet sich für den Brotsalat. Stellt sich die Frage, ob sie froh ist über Leonies Auftauchen. Ja und nein, ist die Antwort. Irgendwas stört.