Der Abschied von Kärnten ist ihm schon deshalb nicht schwergefallen, weil er sich auf das Wiedersehen mit Caro freute. Den gemeinsamen Abend mit ihr, die Präsentation seiner Kochkünste. Spaghetti Carbonara, das Original: Guanciale-Speck, Pecorino Romano, Bioeier und alles natürlich ohne Obers. Dazu grüner Salat. Eine Flasche Tignanello. Der liebevoll gedeckte Tisch in Fassls Küche. Kerzenschein …
… und dann lief es gar nicht so, wie er sich das vorgestellt hatte. Er war müde vom Fahren, Einkaufen, dem Austausch mit Franz im Büro, danach die Wohnung putzen und kochen …
Caro schaute schon so komisch, als sie durch die Tür kam. Abschätzig, dachte Martin, und dass er Fassls Zuhause nie als elegant, aber immer als gemütlich empfunden hatte. Nach dem Blick sagte sie: »Nett habt ihr es hier.« Aber es klang spitz, und auch der gedeckte Tisch und die brennenden Kerzen schienen sie nicht zu beeindrucken. Caro wirkte … abwesend. Irgendwas schien sie zu beschäftigen, und nein, sie wollte auch nichts von dem guten Rotwein, sondern lieber ein Bier, als ob dieses Getränk irgendwie besser ins Ambiente passen würde. Als er sie fragte, ob es ihr nicht gut gehe, antwortete sie, es sei alles okay. Die üblichen Probleme im Hotel, Ärger mit anspruchsvollen bis widerwärtigen Gästen. Ja doch, ihre Mutter sei wohlauf, die Behandlung mit Targetomab habe hundertprozentig angeschlagen. Das Krebsmedikament. Das Wundermittel. Und nein, sie habe keinen großen Appetit. Die Hitze. Bei so einem Wetter wünsche sie sich nur noch, am Meer zu sein.
Im Ernstfall halt auch ohne mich, dachte Martin sofort. Trank zu schnell von dem Rotwein. Aß zu viele Nudeln, die perfekt gelungen waren, doch auch dies nahm sie nicht zur Kenntnis. Sie redete und redete. Von irgendwelchen Konzerten. Von B-Promis, die sich aufführten, als wären sie Berühmtheiten. Ihre Worte flossen an Martin vorbei, bis sie plötzlich fragte: »Und wie weit seid ihr mit euren Ermittlungen? Ich hab in der Zeitung von diesem Wiener Journalisten gelesen, der an einer Überdosis gestorben ist. Den Namen hab ich vergessen. Hast du ihn gekannt?«
»Ja«, sagte Martin. Mehr nicht. Sie sah wunderbar aus in ihrem weißen Sommerkleid. Begehrenswert. Am liebsten hätte er sie noch in der Küche ausgezogen und dann ins Bett gezerrt. Stattdessen wurde er immer einsilbiger und leerte die Rotweinflasche, während Caro über Dinge redete, die ihn nicht interessierten. Und eben nicht nachhakte und nach seinem Job fragte, seinem Ausflug nach Kärnten. Er hätte ihr gern von Rüdiger erzählt und von seinen Schuldgefühlen. Von Romana und seinem Lieblingsplatz am Wörthersee. Doch an diesem Abend war Caro so weit weg von ihm wie nie zuvor. Bis er sich wünschte, sie würde gehen.
Und dann kam Fassl zurück, viel zu früh von seinem Tinder-Date, was kein gutes Zeichen schien. Und Caro meinte, dass es für sie auch Zeit wäre, sie ließ sich ein Taxi rufen und gab Martin zum Abschied einen Kuss auf die Wange. Ein kalter Hauch von einem Kuss, dann war sie fort. Danach saß er mit Franz in der Küche, sein Freund aß die restlichen Spaghetti und erzählte, dass es gar nicht so übel gelaufen sei. Eine fesche Dunkelhaarige, so um die dreißig, geschieden, ein Kind. Programmiererin. Und – die Welt ist ein Dorf, und Salzburg erst recht – Franziska kenne Caro von der Universität, keine innige Freundschaft, aber immerhin. Mehr sagte Franz nicht dazu, nur dass er müde sei und ins Bett wolle. Martin räumte noch auf, duschte und legte sich dann hin, dachte kurz an den verunglückten Abend mit Caro und schlief gleich ein.
Beim Frühstück erzählte ihm Franz, was er über Magister Ziegler in Erfahrung gebracht hatte. »Sie hat diesen Medikamentenhandel seit knapp fünf Jahren, hat sich aber wohl mit dem Startkapital schwer verschuldet. Weshalb sie den Flock als Teilhaber mit ins Boot nehmen wollte. Der Klatsch besagt, dass sie auch deshalb finanziell so schlecht dasteht, weil sie Geld in die Forschung ihres Mannes pumpt. Der Salzburger Krebsguru, du weißt schon …«
»Der auch den Sohn von Flock behandelt hat. Und Caros Mutter.«
Das wusste Franz nicht, doch er hat noch mehr zu berichten. »Die Ziegler hat vor drei Jahren ein Haus geerbt von ihrer Oma. In Neumarkt. Ein ziemlich altes Häusl, also nichts, was sich zum Verkauf lohnen würde. Sie hat es also behalten. Und sie fährt, so sagt ihre Hausangestellte, regelmäßig hin. Frage: Was macht sie dort?«
»Sommerfrische?« Martin schaut aus dem Fenster. Es nieselt, ganz was Neues in Salzburg. »Das war ein Witz, ich weiß es auch nicht, vielleicht sollten wir nachschauen? Möglicherweise hat sie ihr Lager dort? Oder ein Bordell mit rumänischen Prostituierten …«
»Du Scherzkeks!«, sagt Fassl. »Aber wir sollten uns das wirklich ansehen. Wie wärʼs mit gleich nach dem Frühstück?«
Kurz vor Neumarkt ist der Tank fast leer, Franz hat wieder vergessen, seinem Auto Sprit zuzuführen. Doch der Abstecher zur Tankstelle ist beiden recht, weil sie eh durstig sind. Eine Cola für Franz und ein gespritzter Almdudler für Martin. Der entdeckt auf dem Weg zurück zum Auto die Kamera, die draußen angebracht ist. Weist Fassl darauf hin und geht mit ihm zurück in den Verkaufsraum. Ob sie die Kameraaufzeichnung der letzten sieben Tage anschauen könnten? Die gezückten Polizeiausweise unterstreichen die Bitte. Die Angestellte, eine Frau mittleren Alters mit platinblonden Locken und grotesk aufgespritzten Lippen, händigt ihnen die Aufnahmen widerstandslos aus und flirtet mit Martin oder Franz oder beiden. Und natürlich will sie wissen, ob was passiert ist. Wo doch Neumarkt ein so fades Kaff sei, immer schon wollte sie in die große weite Welt hinaus, nach Salzburg oder gar nach Wien …
»Wir suchen das Haus von der Magister Ziegler«, sagt Franz schließlich. »Kennen Sie die zufällig?«
»Hat sie was ausg’fressen?«, kommt die Gegenfrage.
Franz und Martin schütteln den Kopf, was sie sehr zu enttäuschen scheint. »Nicht, dass ich wüsste«, meint Martin diplomatisch, »aber wir interessieren uns für das Haus von ihrer Oma.«
»Ach. Wollen S’ die alte Hütt’n kaufen? Da tät ich abraten. Außerdem wohnt da jemand drin. So ein durchgeknallter Typ, das sag ich ohne Übertreibung.«
Franz und Martin sind ganz Ohr. »Kennen Sie den auch?«
Das abfällige Lächeln auf U-Boot-Lippen kaum zu erkennen. »Ab und zu tankt der bei mir. Fährt so einen alten Pick-up, den hört man schon von Weitem, weil er so klappert. Ein schräger Vogel ist das, sag ich euch. Der hat vielleicht einen irren Blick, wahrscheinlich ist er auf Droge, jedenfalls find ich ihn zum Fürchten. Außer bei mir und im Supermarkt sieht man den überhaupt nirgends. Er geht nie ins Gasthaus, das ist auch ganz schön unheimlich. Und die Rosi hat mir erzählt, dass er nachts manchmal im See badet – nackert! Die Rosi hat das Grundstück daneben. Aber sie kann kaum über den hohen Zaun drüberschauen.«
»Ungeheuerlich«, sagt Franz, und Martin beißt sich auf die Lippen. »Und die Magister Ziegler, tankt die hier auch?«
Sie möchte wie Marilyn Monroe wirken und weiß, dass ihr das nicht ganz gelingt. Immerhin reicht es, um mit dem ein oder anderen Kunden zu flirten. Von den beiden Polizisten würde sie den Dunkelhaarigen nehmen, der hat so was Sensibles, das mag sie an Männern. Und einen gefährlichen Beruf hat er auch, das ist aufregend. Also öffnet sie ganz diskret den obersten Knopf ihrer Bluse, ihre Oberweite kann sich wirklich sehen lassen, seit sie da etwas nachgeholfen hat.
»Die Magister Ziegler?«, wiederholt Martin, dem das Knopfmanöver nicht entgangen ist.
»Ach die! Fährt einen fetten SUV und führt sich auf wie Gräfin Bobby. Ja, ab und zu tankt sie bei mir …«
Franz unterschreibt eine Quittung für die Aufnahmen, erkundigt sich nach dem Weg, und dann ziehen sie von dannen, verfolgt von sehnsuchtsvollen Blicken. Die Frau mit den Lippen träumt weiter von ihrem Ritter in weißer Rüstung, der sie aus Neumarkt entführt. Hoch zu Ross. Weil es doch so schwer ist, älter zu werden und allein zu sein.
Die beiden Polizisten finden das Haus nach der Beschreibung auf Anhieb. Es liegt am Ortsrand von Neumarkt, ein kleines Stück vom See entfernt, und tatsächlich wirkt es verwahrlost, wie von den Menschen im Stich gelassen. Was Martin schon wieder ärgert, weil er Häuser, die am Wasser liegen, so gerne mag.
Als sie ein Stück entfernt parken und auf das Gebäude zugehen, registrieren sie geschlossene Rollos im Erdgeschoss und schmutzige, fast blinde Fenster im ersten Stock. Das Mauerwerk hat Risse, und das Schindeldach schreit nach Ausbesserung. Der Weg ist fast zugewachsen, die Gräser stehen hoch. Der Gärtner in Martin leidet. Was könnte man aus so einem Grundstück machen!
Sie bewegen sich leise, bis sie an der Tür stehen. Martin überlegt kurz, ob er seine Pistole aus dem Halfter nehmen soll, Franz auch, aber dann sehen sie sich an und schütteln den Kopf. Ein altes, heruntergekommenes Haus, mehr ist es bisher nicht. In Ermangelung einer Klingel klopft Martin gegen die Holztür.
Keine Reaktion. Er drückt leicht dagegen, und die Holztür öffnet sich knarzend. Franz und Martin nicken einander zu, dann gehen sie rein. »Hallo, ist da jemand?«, ruft Franz.
Keine Antwort. Sie gehen durch den schmalen, düsteren Flur zur nächsten Tür, die ebenfalls unverschlossen ist. Und dann stehen sie …
… in einem Labor. Gleißendes Licht von oben, weiße Möbel, Hightecheinrichtung, Klimaanlage, Computer und allerlei Apparaturen, die weder Martin noch Franz einordnen kann.
»Da legst dich nieder«, sagt Franz. Martin hat seine rechte Hand an der Dienstwaffe. Doch hier ist niemand, der sie bedroht, die Leere wirkt unheimlich. Irgendwo blubbert eine Flüssigkeit in einem gläsernen Gefäß. Irgendetwas tickt, und für einen Augenblick denkt Franz, dass sie gleich mitsamt dem Labor in die Luft fliegen werden. In Einzelteilen. Aber nichts geschieht.
»Lass uns nach oben gehen«, flüstert Martin, der ein paar Fotos mit seinem Handy macht. Eine steile Treppe führt in den ersten Stock, in dem es muffig riecht, als ob hier seit Jahren kein Fenster geöffnet worden wäre. Sie müssen den Kopf einziehen, so niedrig ist die Decke. Als sie eine Tür aufstoßen, die nur angelehnt war, sehen sie in einem schmutzigen Bett einen Mann. Er ist sehr mager und trägt nur eine Unterhose. Er hat die Augen geschlossen und scheint zu schlafen. Oder ist er tot? Auf jeden Fall ist er weggetreten.
Der mit den irren Augen, denkt Franz und folgt dem Blick seines Kollegen zum Nachtkastl, auf dem ein Spritzbesteck liegt, daneben weißes, kristallines Pulver, ein Fläschchen gefüllt mit durchsichtiger Flüssigkeit, ein Minikocher.
»Der beste Kunde seiner Werkstatt«, sagt Martin laut. Er beugt sich zu dem Bewusstlosen, überprüft den Puls. »Der hat sich weggebeamt, wahrscheinlich eine Überdosis Heroin, wir müssen sofort die Rettung rufen. Und danach einen Durchsuchungsbeschluss anfordern. Wenn das nicht ein illegales Labor ist, fress ich einen Besen.«
***
Drei Stunden später wimmelt es in dem Haus von Polizisten, die das Labor auseinandernehmen. Der Mann, den sie gefunden haben, liegt in der Uniklinik in Salzburg. Martin macht sich auf den Weg dorthin und erfährt auf Nachfrage, dass er mindestens zwei Gramm reinstes Heroin gespritzt hatte. Nur ein sehr versierter Junkie könne so was verkraften, meint der behandelnde Arzt und weist auf die Einstichstellen in den Armen und Beinen.
Der Patient ist nicht ansprechbar, doch sie identifizieren ihn anhand seines Führerscheins und einer Bankomatkarte: Dr. Werner Strobel. Die Überprüfung ergibt, dass er Chemiker ist, geschieden, ohne Vorstrafen. Bis vor drei Jahren arbeitete er im Labor einer deutschen Pharmafirma. Dort wurde ihm wegen seiner Rauschgiftsucht gekündigt, zumindest nimmt Martin das an. Strobel verbrachte anschließend ein paar Wochen in einer Entzugsklinik, die er jedoch vorzeitig verließ. Danach verliert sich seine offizielle Spur.
Martin geht davon aus, dass Strobel nach seinem abgebrochenen Entzug irgendwann das Labor in Neumarkt aufgebaut und betrieben hat. Für Birgit Zieglers Versandhandel? Der Verdacht liegt nahe, und Martin fährt von der Uniklinik noch einmal zur Ziegler-Villa. Franz ist mit der Spurensicherung im Häusl geblieben und durchforstet »die Drogenhölle« nach Beweismaterial.
***
Er hat vorher nicht angerufen, um sie quasi zu überrumpeln, und das Risiko in Kauf genommen, dass sie aushäusig ist. Doch Magister Ziegler öffnet ihm sogar selbst die Tür, und für einen Augenblick entgleisen ihre Gesichtszüge. Aber sie hat sich schnell wieder unter Kontrolle. »So eine Überraschung, Herr Chefinspektor! Sie sollten besser vorher telefonisch Bescheid geben. In zwanzig Minuten muss ich nämlich los zu meiner Golfverabredung … Bitte, kommen Sie doch rein.«
Er folgt ihr ins Wohnzimmer mit dem Gedanken, dass es für sportliche Betätigung viel zu heiß ist. Tatsächlich trägt sie Golfkleidung, eine weiße Hose und ein rosa Shirt. Sie hat, denkt Martin, eine fabelhafte Figur, und mit ihren rotbraunen Haaren und den grünen Augen ist sie schon recht attraktiv. Nur der Mund ist eher schmal, was durch den dunklen Lippenstift noch betont wird.
»Ich werde mich beeilen«, sagt Martin und setzt sich ihr gegenüber auf die Sesselgruppe vor dem Kamin. »Mein Kollege und ich waren heute in Neumarkt. Wir haben Ihr Haus gefunden, und darin ein voll eingerichtetes chemisches Labor. Und im ersten Stock einen bewusstlosen Mann mit einer Überdosis Heroin im Blut.«
Sie erbleicht. »Oh mein Gott, wo ist er jetzt?«
»In der Uniklinik Salzburg. Voraussichtlich wird er überleben, da er ein sehr versierter Heroinkonsument war – oder ist. Ich gehe davon aus, dass Sie Dr. Werner Strobel kennen, Frau Magister Ziegler?!«
Die Farbe kehrt in ihre Wangen zurück, doch als sie sich eine Zigarette anzündet, zittern ihre Hände. Sie wirkt nicht wie eine geübte Raucherin, Martin nimmt an, dass sie nur Zeit schinden wollte, um sich eine Antwort zu überlegen.
Doch die wirft sie ihm dann gleichsam vor die Füße: »Natürlich kenne ich ihn. Werner ist mein Bruder. Wir haben das Haus gemeinsam von unserer Großmutter geerbt, und ich habe es ihm überlassen, als er mich darum bat – das war vor knapp drei Jahren. Und bevor Sie fragen: Ich weiß von seiner Heroinsucht. Aber dass er deshalb gleich ein Labor einrichtet, um den Stoff zu produzieren …«
Sie sieht auf ihre Uhr, und Martin denkt, dass sie eine schamlose Lügnerin ist. Und dass er ihr dies nicht durchgehen lässt. »Laut Aussage von Marilyn Monroe in der Tankstelle Neumarkt waren Sie öfter bei Ihrem Bruder, es gibt auch Kameraaufzeichnungen, also … wollen Sie mir ernstlich weismachen, dass Sie mit dem Hightechlabor nichts zu tun haben? Unsere Leute nehmen es gerade auseinander, also werden wir alsbald wissen, was Ihr Bruder außer Heroin noch so herstellte …«
Sie tötet ihre halb gerauchte Zigarette, ihre Hände zittern immer noch. Ihre Hände sind alt, und auch ihr Gesicht kommt ihm nicht mehr so attraktiv vor. Die grünen Augen strahlen eine Eiseskälte aus. Sie faucht beinahe – wie ein Tier, das in die Enge getrieben wird: »Ich möchte dieses Gespräch jetzt beenden, Chefinspektor. Ich will nämlich meinen Bruder in der Klinik besuchen, was Sie sicher nachvollziehen können. Und wenn Sie wieder was von mir wollen, bitte ich um rechtzeitige Benachrichtigung. Damit ich unseren Anwalt kontaktieren kann. Oder gibt es irgendetwas, dessen Sie mich konkret beschuldigen?«
»Zum jetzigen Zeitpunkt nicht«, sagt Martin und steht auf. »Ihr Bruder ist noch nicht ansprechbar. Aber das wird Ihnen der behandelnde Arzt schon sagen. Wenn wir ihn nicht rechtzeitig gefunden hätten …«
»Dafür«, sagt Birgit Ziegler, »muss ich Ihnen wohl dankbar sein. Mein Bruder ist ein Genie, doch er begeht Selbstmord auf Raten. Er ist ein sehr, sehr trauriger Mann.«
Beim Hinausgehen bleibt Martin vor den Fotos auf dem Kaminsims stehen. Wie beim letzten Mal, als er hier war. Die Familie: Birgit Ziegler mit einem weißhaarigen Mann und zwei hübschen Mädchen samt Familiendackel. Das Motiv ist immer das gleiche, nur der Hintergrund wechselt. Und jetzt wird ihm endlich bewusst, was ihn damals so irritiert hatte. Das Familienfoto, aufgenommen im Wohnzimmer, mit Vase im Hintergrund. Mit einer großen, hässlichen, blau-weiß karierten Vase. Und die hat er auch in natura gesehen beziehungsweise die Scherben. In der Wohnung von Marta Wallner. Der alten Frau, die er am Postschließfach beobachtet hat. Die jetzt mit unbekanntem Ziel verschwunden ist.
Ihre Stimme klingt ungeduldig: »Was ist, Chefinspektor? Interessieren Sie sich jetzt auch noch für Familienfotos? Ich hab’s wirklich eilig.«
Martin dreht sich zu ihr um: »Nur eine Frage noch: Diese Vase auf dem Foto – haben Sie die noch?«
Ihr Gesicht ist eine einzige Irritation. Martin kann ihr ansehen, dass sie ihn jetzt für einen kompletten Trottel hält. Sie geht in Richtung Haustür und öffnet sie. Wartet, bis er draußen ist, erst dann gibt sie ihm eine Antwort: »Nein, die Vase habe ich nicht mehr. Ich habe sie unserer ehemaligen Zugehfrau zum Abschied geschenkt, weil sie ihr so gut gefallen hat. Die Vase war das Hochzeitsgeschenk meiner Schwiegermutter, und ich fand sie immer schon abscheulich.«
Er dreht sich noch einmal um: »Heißt Ihre Ex-Putzfrau zufällig Marta Wallner?«
Sie starrt ihn fassungslos an, antwortet nicht, sondern schlägt die Tür zu.
Bingo, denkt Martin, und dass sich all die losen Enden langsam zusammenfügen. Ein Muster ergeben, in dessen Zentrum Birgit Ziegler steht. Mit einem rauschgiftsüchtigen Chemiker als Bruder und einer netten alten Dame, die für sie Postfächer leert.
Martin geht zu seinem Wagen und überlegt, ob er auf dem Weg im Hotel Chelsea vorbeischauen soll. Doch er entscheidet sich dagegen und fährt direkt ins Büro. Keine Zeit für die Liebe. Oder was immer es ist …
Und dann überfährt er beinahe einen Radfahrer, der links abgebogen ist, ohne ein Zeichen zu geben. »Du damischer Trottel«, schreit Martin aus dem offenen Wagen, nachdem er eine Vollbremsung hingelegt hat.
Doch der Trottel auf dem Fahrrad fährt einfach weiter. Hebt eine Hand und zeigt ihm den Mittelfinger. Martin muss lachen. Tragödie und Komödie liegen halt so verdammt nah beieinander.