Kapitel 21

Sie geht nicht ans Telefon, und das macht ihn wahnsinnig. Weshalb er bei der Rückfahrt wieder in die Radarfalle gerät. Gerade, als Franz anruft, um ihm zu sagen, dass die Ausstellung des Haftbefehls für Birgit Ziegler nur noch eine Frage von Stunden sei. »Vielleicht können wir ihr ja auch den Mord an Flock nachweisen? Sie ist doch diejenige, die immer alles finanziert hat. Dass sie ihren Mann vor Flocks Vernichtungsfeldzug schützen wollte, wäre eigentlich nur logisch.«

»Aber schwer zu beweisen«, sagt Martin, bevor er den roten Knopf drückt. Er hasst es, im Auto zu telefonieren, und tut es doch. Er zweifelt. Nicht dass er Birgit Ziegler keinen Mord zutraute. Doch wie zum Teufel hätte sie an den Computer in Pongauers Praxis kommen sollen? Und hätte sie überhaupt die Kenntnisse, um das Gerät zu manipulieren? Und Pongauer selbst? Wenn Martin mit seinem Bauch spricht, dann sagt der »Nein«. Andererseits hat er schon länger nichts gegessen, und vielleicht ist sein Bauch nur abgelenkt. Und schon wieder steht er im Stau. Und schon wieder tröpfelt der Schnürlregen aufs Autodach, er muss die Scheibenwischer einschalten, die erst einmal den Dreck gleichmäßig verteilen.

Alles steht still auf der Straße, und alles, was die Professoren über Caro gesagt haben, betrübt ihn. Weil er dachte, dass sie ein sprödes Wesen habe. Ein wenig verrückt sei, aber nie berechnend. Spontan ja, aber gefeit gegen unüberlegte Handlungen. Sexuell aufregend, aber keine Frau, die mit jedem ins Bett steigt. All das dachte er über Caro Held, aber was weiß Martin Glück schon von Frauen …

Er weiß nur, dass sie anders ticken. Männer, die haben ihr Gehirn unterteilt in kleine Schachteln: für die Mutter, die Karriere, das Geld, den Sport, das Auto, die Ehefrau, Kinder, die Geliebte, Kollegen, Saufkumpane … Und sie trennen all diese Schachteln fein säuberlich voneinander … und ganz besonders von derjenigen, auf der in kleinen Buchstaben »Gefühle« steht. Die versuchen sie zu ignorieren, und reden wollen sie schon gar nicht darüber. Während bei Frauen alles vernetzt ist, all die kleinen Schachteln hängen zusammen und interagieren … und ständig reden sie über ihre Gefühle … außer Caro, die ist anders. Weshalb er sie schon gar nicht versteht.

Die Blechlawine rollt wieder, und statt ins Büro zu fahren, biegt Martin ab in Richtung Altstadt. Im Präsidium geht ohnehin alles seinen bürokratischen Gang, und Fassl scheint die Sache im Griff zu haben. Er muss Caro sehen, weshalb er sein Auto ins Parkverbot stellt und erst einmal ins Chelsea geht. Sie sei nicht da, sagt der Barmann-Portier, und werde vermutlich an diesem Tag auch nicht mehr kommen. Ihre Mutter …

Martin wartet den Rest des Satzes nicht ab, murmelt »Danke« und verlässt das Hotel. Wenn er sie zu Hause nicht findet, wird er ins Krankenhaus fahren. Er muss mit ihr reden, wieso das jetzt so dringend ist, weiß er auch nicht genau. Ein Gefühl. Wenn du es einmal aus der Schachtel rausholst, geht es so leicht nicht wieder rein.

Sein Handy piepst, doch er ignoriert es, klingelt an der Haustür. Nichts. Als eine junge Frau aufsperrt und hineingeht, folgt er ihr einfach und läutet dann im zweiten Stock. Margot Held. Die Wohnung der Mutter. Er meint Schritte zu hören, doch niemand macht auf. Das Klirren eines Glases. Ja, er ist sich jetzt ganz sicher, dass jemand in der Wohnung ist. Martin trommelt gegen die Tür. »Aufmachen, sonst …«

Sonst was? Eintreten kann er sie wohl kaum. »Sonst lasse ich sie aufbrechen … Caro, bitte mach auf

Jetzt fürchtet er, dass ihr was passiert ist. Martin hämmert so heftig gegen die Wohnungstür, dass seine Hände schmerzen …

Und dann hört er Schritte, die näher kommen. Er weicht instinktiv zurück. Langsam öffnet sich die Tür von innen. Caro steht vor ihm. »Warum bist du so laut? Vor Schreck hab ich ein Glas fallen lassen.«

Du hast es fallen lassen, weil du betrunken bist, denkt Martin sofort. Sie sieht aus, als habe sie seit Tagen nicht geschlafen, nur getrunken. Rote Augen, verstrubbelte Haare, ein T-Shirt mit Flecken. Sie ist barfuß und blutet.

Caro folgt seinem Blick. »Ich bin in die Scherben getreten. Komm doch rein, wenn du schon da bist.«

Sie geht vor ihm ins Wohnzimmer. Leicht schwankend. Es ist dunkel im Raum, weil die schweren Vorhänge zugezogen sind. Auf dem Tisch steht eine Wodkaflasche, fast leer, auf dem Boden liegt ein Glas in tausend Scherben. Caro zeigt mit dem Finger darauf: »Pass auf, dass du nicht reintrittst.«

»Was du schon getan hast«, sagt Martin sanft. »Soll ich dir ein Pflaster holen?«

»Nein, das ist nur eine Bagatelle«, murmelt Caro. Ihre Stimme schlurrt bis zur Unkenntlichkeit. Sie lässt sich auf die Couch fallen. »Ich bin betrunken, wie du siehst. Und eine Beruhigungspille hab ich auch genommen. Aber wir können ja aus der Flasche trinken. Warum bist du überhaupt hier?«

»Weil ich mir Sorgen mache. Wie gehtʼs deiner Mutter?«

Caro liegt mit über der Brust gefalteten Händen auf der Couch. Sie spricht so leise, dass er sich zu ihr beugen muss. »Du musst dir keine Sorgen um mich machen. Und meine Mutter ist gestorben. Es ging ganz schnell. Sie hat nicht gelitten.«

»Das ist gut.« Mehr fällt ihm dazu nicht ein. »Tod« schien ihm immer ein Wort, das andere Worte unter sich begräbt.

Sie hat die Augen geschlossen. Martin steht auf und geht in die Küche. Kommt mit Schaufel und Handbesen zurück und kehrt die Glasscherben auf. Dann bringt er zwei Gläser Wasser aus der Küche.

Caro öffnet die Augen, setzt sich halb auf, was ihr schwerzufallen scheint, und murmelt: »Einen Wodka noch, dann will ich endlich schlafen, verstehst du.«

Er gibt ihr das Wasserglas, doch sie greift an ihm vorbei nach der Flasche. »Misch dich nicht in mein Leben ein, Martin Glück. Und in mein … Weißt du was, ich nehm jetzt noch einen Schluck, und dann erzähl ich dir was, und dann will ich nur noch schlafen … und vergessen …«

Er hindert sie nicht zu trinken. Ein Teil des Wodkas rinnt ihr aus den Mundwinkeln über den Hals auf das weiße T-Shirt. Caro legt sich wieder zurück auf die Couch. »Komm näher, ich kann nicht so laut reden. Wenn ich dir jetzt was erzähle, wirst du dann gehen? Ohne Fragen, ohne Antworten – einfach gehen und mich schlafen lassen … Versprich es mir!«

Martin denkt, dass er keine Wahl hat, also nickt er.

»Sag es!«

»Ich versprech es dir. Dafür hörst du auf zu trinken, okay?«

»Schon gut«, murmelt Caro, »mir schmeckt Wodka sowieso nicht.« Sie sieht ihn unendlich traurig an. »Tut mir leid, Chefinspektor. Aber jetzt wird es dramatisch. Ich muss dir nämlich ein Geständnis machen …« Sie schließt ihre Augen und spricht immer leiser, sodass er sich zu ihr beugen muss, um sie zu verstehen. »Ich bin eine Mörderin, Martin …«

Nach kurzem Schweigen fährt sie fort: »Aber es war ganz einfach, weißt du. Ich erzähl dir die Kurzfassung, weil ich nicht weiß, wann ich einschlafe. Also, Uwe hat mir erzählt, dass Hugo Flock ihn bedroht. Dass er ihn vernichten wird, weil sein Sohn gestorben ist und er ihm als behandelndem Arzt die Schuld gibt. Und ob ich weiß, was man dagegen tun könnte. Uwe hat meine Mutter gerettet, es ging ihr schon so viel besser, verstehst du, und meine Mutter hat mich gerettet damals mit ihrer Niere, und Uwe wollte mich sicher nicht erpressen mit dem teuren Krebsmedikament, ich hab es freiwillig getan. Es war meine Idee mit dem Herzschrittmacher. Genialer Plan, oder? Den Schlüssel zu Pongauers Praxis hatte ich noch. Also hab ich den Batteriestand verändert. Ich war mir nicht sicher, ob das funktioniert, aber schau an, es war ein perfekter Mord … fast … Es war nicht schad um ihn, oder? Der Mann war sehr reich und sehr böse. Und Uwe war ein Heiliger, so ein bisserl jedenfalls … Oh, Martin, ich bin so müde … und traurig … und ich hab dich wirklich gern gehabt, das musst du mir glauben, aber jetzt lass mich schlafen, einfach nur schlafen …«

Ihre Stimme bricht weg, die Augen sind längst geschlossen. Sie liegt auf der Couch wie eine Tote, er kann ihren Atem kaum noch spüren, ihre Worte sickern nur langsam in sein Hirn … Und jetzt erst versteht er! Caro hat nicht nur Beruhigungsmittel und Wodka intus, da ist mehr, und er läuft in die Küche und checkt den Mülleimer. Entdeckt zwei leere Schachteln Nitrazepam, ein starkes Schlafmittel …

Martin ruft den Notarzt an, seine Hände zittern, und er schreit die Adresse ins Telefon. Läuft zurück ins Wohnzimmer und zieht Caro hoch. »Aufwachen, hörst du.« Er schüttelt sie und stellt sie auf die Beine, doch sie öffnet ihre Augen nicht, schlaff wie eine Puppe hängt sie in seinen Armen. Er ohrfeigt sie, doch nichts, keine Reaktion, und er wartet und schüttelt sie immer wieder, damit sie aufwacht, endlich aufwacht … Und es erscheint ihm wie eine Ewigkeit, bis er die Klingel hört, Caro zurück auf die Couch gleiten lässt und die Tür öffnet.

»Schnell, sie reagiert nicht mehr«, schreit er den Notarzt an, der ins Wohnzimmer stürmt, hinter ihm die Sanitäter mit der Trage.

Er zeigt dem Arzt die Röhrchen mit den Schlaftabletten, die er aus dem Mülleimer geholt hat, und das Antibrechmittel. Die fast leere Wodkaflasche spricht für sich.

Martin weist sich als Polizist aus und sagt, dass er sie in diesem Zustand gefunden habe. Der Notarzt gibt ihr eine Injektion. »Wir transportieren sie jetzt in die Klinik. Wenn Sie mitkommen wollen, aber bitte vorne sitzen, damit Sie nicht im Weg sind.«

Sie tragen Caro über die Treppe auf die schmale Straße, wo der Rettungswagen den Verkehr blockiert. Einige Autofahrer beschweren sich lautstark aus offenen Fenstern, und Martin droht ihnen mit seiner Polizeimarke und einer Verwarnung, obwohl er sie lieber erschossen hätte.

Mit Blaulicht fahren sie in die Universitätsklinik, und erst auf der Fahrt checkt Martin sein Telefon. Eine Nachricht von Professor Pongauer: Ihm sei eingefallen, dass Caro Held immer noch einen Schlüssel für die Praxis habe. Anrufe von Fassl, Romana, seiner Mutter. Martin ruft Franz zurück und sagt nur, dass er mit Caro auf dem Weg in die Klinik sei und sich melden würde, dann beendet er das Gespräch.

»Was passiert jetzt?«, fragt Martin den Fahrer, als sie ankommen. Der zuckt mit den Achseln, Martin steigt aus und sieht zu, wie Caro auf der Bahre ins Krankenhaus geschoben wird. »Wie geht es ihr?«, fragt er den Notarzt, der »Kritisch« murmelt und an der Seite der Bahre weitereilt, bis ein anderer Weißkittel auftaucht, die beiden flüstern miteinander. Martin hört Wortfetzen … Nitrazepam, Dimenhydrinat, Wodka, Polizist … Magen auspumpen … Sie drängen ihn zurück. Er soll einen Kaffee trinken gehen, weil er jetzt doch nichts tun könne als warten, sagt der Notarzt, schon auf dem Weg zurück zum Rettungswagen.

Für ihn ist es Routine, denkt Martin. Und ja, die Ärzte tun jetzt, was in ihrer Macht steht. Und er hat getan, was er konnte, aber spät, zu spät, er hätte früher draufkommen müssen, dass Caro ihr Ende inszenierte. Wieso denkt er das? Er muss die Schachtel »Gefühle« öffnen und Verzweiflung empfinden, abgrundtiefen Schmerz. Aber sie bleibt zu, er empfindet nichts. Ein bisschen Verachtung für Martin Glück vielleicht, der manchmal ein schlechter Polizist ist. Und ein blinder Liebhaber obendrein. Und er hat Mitleid mit Caro Held, die jetzt die Wahl hat zwischen Tod und Gefängnis. Oder auch nicht, und irgendwer trifft die Wahl für sie.

Er zweifelt nicht an ihrem Geständnis. Alles passt zusammen jetzt. Ergibt einen Sinn, obwohl das Wort in diesem Zusammenhang obszön klingt. Gibt es jemanden, den man informieren sollte? Martin denkt, dass er sie überhaupt nicht gekannt hat. Caro hat all ihre Geheimnisse bewahrt. Bis auf das eine, das sie ihm am Ende verraten hat.

Der Arzt, der die Patientin in Empfang nahm, kommt auf ihn zu. Martin stellt den Kaffeebecher zur Seite.

»Sind Sie der Polizist, der sie gefunden hat?«

Martin nickt.

»Sind Sie mit ihr verwandt?«

»Nein. Wir sind … befreundet. Wie geht es ihr?«

»Es tut mir sehr leid«, sagt der Arzt. »Sie ist tot. Wir haben alles versucht … Hatte Frau Held Familie? Verwandte, die wir benachrichtigen können?«

»Ich weiß es nicht. Aber ich fahre jetzt aufs Präsidium, und wir werden es dort überprüfen und Ihnen Bescheid geben … Dr. Mayerhofer.«

»Wollen Sie sie noch einmal sehen?«

Martin überlegt eine Sekunde und geht dann mit dem Arzt in den Raum der Toten. Er zieht das Laken nur bis zu den Schultern herunter und betrachtet ihr Gesicht. Es sieht unendlich müde aus, doch jetzt hat sie, was sie wollte – den langen Schlaf.