Er ist froh, dass er den Freund überreden konnte, mit ihm eine kleine Runde zu laufen. Schließlich hat Fassl den Termin bei Flocks Kardiologen erst um zehn, da bleibt nach dem Frühstück noch Zeit. Die Laufrunde wird dem Franz guttun, denkt Martin, und dass er vielleicht wieder Lust auf Bewegung kriegt. Außerdem haben sie dann Gelegenheit, über Flock zu reden, ohne dass Romana sich einmischt. Franz hat von seinem Chefinspektor grünes Licht bekommen, die Causa Flock ganz vorsichtig auszuleuchten. Promi-Alarm, und kein Wort zu den Medien! Der Glück aus Wien könnte da ja die Taschenlampe halten, meinte Fassl.
Martin trabt absichtlich langsam den Mühlbach entlang. »Fassen wir zusammen: Wer hätte ein Motiv, Flock umzubringen? Vorausgesetzt, dass die leere Schrittmacherbatterie nicht nur ein technisches Versagen war.«
Franz spürt schon nach wenigen Metern eine gewisse Kurzatmigkeit. »Die Ehefrau und ihr Liebhaber, würd ich sagen. Andererseits kommt mir das auch sehr aufgʼlegt vor. Zu offensichtlich. Auf jeden Fall schau ich mir die zwei genauer an.« Er legt einen kurzen Stopp ein, um Luft zu holen.
Martin bleibt brav stehen. »Es könnt ja auch jemand aus dem geschäftlichen Umfeld sein. Ein Konkurrent, ein gʼschasster Angestellter, was immer. Vielleicht hat er auch unsaubere Geschäfte gemacht und jemandem geschadet. Wär ja nicht der Erste in der Branche.«
Fassl nickt zustimmend und setzt sich wieder in Bewegung. »Und das Testament muss man sich auch anschauen, wer davon profitiert. Wer weiß, ob nicht die Romana …«
»Jetzt hörst aber auf!« Martin legt an Tempo zu und läuft dem Freund davon. Franz hechelt hinterher und unterdrückt ein Lachen, als Martin über eine Wurzel stolpert und beinah hinfällt. »Du bist befangen, Martin, und ich glaubʼs ja auch nicht. Aber ausschließen darf man gar nix.«
»Ja, spinnst du? Die Romana hätt doch viel mehr Vorteile gehabt, wenn er sie geheiratet hätt. Glaubst, die murkst ihn ab, bevor sie Frau Flock ist?« Er dreht sich zu Franz um, den er abgehängt hat. »Na, wo bleibst denn jetzt? Hast wohl zu viele Salzburger Nockerl verputzt?« Während die Worte seinen Mund verlassen, bereut er sie schon und schämt sich. Er bleibt stehen und wartet auf den Freund. »Entschuldige, das war gemein von mir.«
»Is scho gut. Mir schmecken die halt. Ich weiß übrigens, wo sie besonders gut sind. Wir könnten …«
Martin winkt ab. Er mag sie nicht, schon beim Anblick könnt ihm schlecht werden. Und irgendwo hat er gelesen, dass die Einheimischen einen weiten Bogen um die Eiweiß-Zucker-Bomben machen.
Sie laufen weiter, obwohl Franz fast am Ende seiner Kräfte ist. Keuchend: »Aber jetzt ehrlich, woher weißt denn, dass das mit dem Heiratsantrag überhaupt stimmt? Die Information haben wir doch nur von der Romana. Und so was ist doch normalerweise immer mit einem Ring verbunden. Und, hat er ihr einen gegeben? Hast du einen gesehen?«
Hat er nicht, das ist allerdings ein Argument. Trotzdem kann Martin sich Romana nicht als Mörderin vorstellen. Intrigen traut er ihr zu, Diebstahl, Betrug, sogar, dass sie eine Nebenbuhlerin im Affekt vors Auto stößt. Aber den Flock töten, ihre Lebensliebe? Nein, auf keinen Fall. »Blödsinn! Wenn der sich schon mit ihr in der Öffentlichkeit zeigt, dann wird das wohl stimmen. Und warum hätte sie sonst drauf gedrängt, dass eine Obduktion gemacht wird?«
»Die wär sowieso g’macht worden.« Franz schaut auf seine Uhr und denkt, dass Tage nicht damit beginnen sollten, dass man sich verausgabt. »Dreh ma jetzt endlich um? Ich muss zur Arbeit!«
Als sie in der Wohnung ankommen, finden sie eine Notiz von Romana. Sie sei in der Stadt, um ein angemessenes Witwenoutfit zu kaufen. »Also, da hätt ma uns die Anstrengung sparen und hier alles gemütlich besprechen können, wenn die eh weg ist«, murmelt Franz und verschwindet im Bad.
***
»Univ.-Prof. Dr. Ferdinand Pongauer, Facharzt für Kardiologie und Interne Medizin. Keine Kassen« steht auf der Messingtafel. Vornehm, das Haus respektive die Villa im eleganten Vorort Anif. Gründerzeit im Topzustand mit manikürtem Parkgarten und Teich. Allein der Zaun, über den er jetzt späht, dürfte mehr gekostet haben als ein Kontrollinspektor in zwei Jahren verdient, denkt Fassl mit einem seltenen Anflug von Neid.
Auf sein Läuten öffnet sich das Gartentor geräuschlos, und vor dem Eingang wartet der Hausherr auf den Besucher. Er begrüßt Fassl mit einem herzlichen Händedruck. »Guten Morgen, Herr Inspektor – oder heißt das Kommissar? Ich kenn mich da nie so genau aus. Hab ja auch wenig zu tun mit der Kriminalpolizei.«
»In meinem Fall Kontrollinspektor – Franz Fassbinder.« Auf den ersten Blick erscheint der Hausherr eher jovial als professoral. Vielleicht Anfang fünfzig, blond-grau meliertes, sehr kurz geschnittenes Haar, randlose Brille, mittelgroß, ein schlanker, athletischer Typ mit gepflegter Oberklassenbräune. Ein Sportler, denkt Fassl und tippt auf Segeln und Skifahren, vielleicht noch Golf. Obwohl Pongauer mit Jeans und hellblauem Polohemd leger angezogen ist, umgibt ihn eine Aura von Geld und Macht. Er wirkt grundsätzlich sympathisch, wenn auch seine Freundlichkeit eine kleine Spur herablassend daherkommt. Fassl kennt diesen Typus, für den es ein Polizist halt nie auf Augenhöhe schafft. Hättest in der Schule besser gelernt, denkt er, und dass es super wäre, wenn er den Fall Flock quasi im Alleingang lösen würde. Große Presse in Österreich, die den Helden von Salzburg feiert. Und dann würde ihn seine Ex anflehen, sie wieder in sein Herz zu schließen …
Franz stolpert beinah über den Perserteppich und erwacht aus Tagträumen. Professor Pongauer führt den Besucher in sein Besprechungszimmer. Sie durchqueren den Warteraum, der mit englischen Fauteuils, Designertischen und offenem Kamin eher an einen Salon erinnert. So einen Arzt würde Franz sich nie leisten können. Aber hoffentlich auch nie brauchen. Schnell schickt er ein Versprechen ans Universum, in Zukunft wieder gesünder zu leben. Immerhin war er heute früh schon joggen.
»Sie kommen wegen der schrecklichen Sache mit Hugo Flock, sagten Sie am Telefon. Wie kann ich Ihnen helfen?«, eröffnet Pongauer das Gespräch und bedeutet dem Kontrollinspektor, auf einem Ledersofa Platz zu nehmen. Er gießt ihm ungefragt stilles Mineralwasser ein, bevor er sich seinem Gast gegenübersetzt.
Fassl räuspert sich. Anfangs schüchtern ihn solche Leute immer ein bisserl ein; erst wenn er was gegen sie in der Hand hat, wächst sein Selbstvertrauen. »Wie Sie ja sicher gehört haben, ist Ihr Patient Hugo Flock während der Jedermann-Premiere an Herzversagen gestorben.«
Der Professor zeigt einen Hauch von Erschütterung. »Ja, das habe ich gelesen. Schrecklich. Und wirklich total überraschend. Hugo, also Herr Flock war in einem guten Allgemeinzustand, wir haben erst am Freitag hier einen Check-up gemacht und seinen Herzschrittmacher kontrolliert.«
»Und da war alles okay? Auch die Batterie?«
Der Tonfall gleitet in leichte Arroganz: »Ja natürlich, was denken Sie denn?«
Wie man denn trotz Schrittmacher an Herzversagen sterben kann, will Fassl jetzt wissen.
Professor Pongauer seufzt, weil er die Fragen von medizinischen Laien dann doch gelinde gesagt lästig findet. »Er wirkt zwar gegen Rhythmusstörungen, kann aber ein Herzversagen, das aus einem anderen Grund auftritt, nicht verhindern. Auf gut Deutsch: Ein Schrittmacher ist ein Hilfsmittel, keine Wundertüte.«
Franz nippt an seinem Glas und stellt es vorsichtig zurück auf den Untersetzer. »Wie funktioniert denn so ein Schrittmacher?«
»Wie eine Zündung, die bei Rhythmusstörungen dem Herzmuskel einen Impuls gibt. Versagt der Herzmuskel selbst, so kann auch der Schrittmacher den Tod nicht verhindern.« Der Professor steht auf und geht zu seinem Schreibtisch. Von dort nimmt er das Modell eines etwa zwei Zentimeter großen Schrittmachers in die Hand und zeigt es seinem Besucher. Der darf das Minigerät sogar anfassen Sieht aus wie ein winziger Schlüsselanhänger, denkt Fassl, spricht es aber nicht aus.
»Der Schrittmacher ist praktisch ein Taktgeber, der von einer Batterie betrieben wird und einen elektrischen Impuls an das Herz übermittelt. Er kommt bei Rhythmusstörungen zum Einsatz, also wenn sich der Herzmuskel nicht regelmäßig zusammenzieht und daher nicht ausreichend sauerstoffreiches Blut in den Organismus pumpt.«
Franz legt das Ding vorsichtig zurück auf den Tisch. »Und das war bei Hugo Flock der Fall?«
»Ja, er hatte einen zu langsamen Herzschlag, sein Gehirn bekam fallweise zu wenig Sauerstoff, daher litt er immer wieder unter Anfällen von Vertigo, Schwindel, ist einmal sogar in Ohnmacht gefallen. Schwindel kann Folge vestibulärer, zentral- oder peripher-nervöser Störungen, aber auch von Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems sein. Bei ihm war die Bradykardie, der verlangsamte Herzschlag, die Ursache, was bei alten Menschen häufig vorkommt. Daher musste sein Herzmuskel stimuliert werden – mit einem Schrittmacher. Den hat ihm ein Kärntner Kollege, der inzwischen in Pension ist, vor acht Jahren implantiert. Seit einigen Jahren war Hugo Flock nun Patient bei mir. Er kam regelmäßig zu Kontrollen nach Salzburg.«
Franz wundert sich. »Vor acht Jahren? Ja, wie lang hält denn so ein Ding normalerweise?«
»Zwischen sieben und zehn Jahren.« Jetzt betont der Professor jedes Wort: »Die letzte Überprüfung, also die von Freitag, hat eine weitere Lebensdauer der Batterie von mindestens einem Jahr ergeben. Vollkommen funktionstüchtig. Wir haben regelmäßige Kontrollen vereinbart und einen Wechsel des Schrittmachers in circa einem Jahr. Das ist ein kleiner Eingriff, der unter Lokalanästhesie vorgenommen wird …«
»Und was passiert, wenn der Schrittmacher schon vorher ausfällt?«, unterbricht Fassl.
Pongauer sitzt jetzt sehr aufrecht: »Das ist praktisch unmöglich, da der Batteriestand ja regelmäßig vom Arzt kontrolliert wird.« Dann erklärt der Professor, dass die Überprüfungen mit Hilfe eines Steuergeräts durchgeführt würden. Das Steuergerät sei ein Computer mit spezieller Software. »Für die Kontrolle wird eine Elektrode auf die Haut des Patienten aufgelegt, die dem Computer alle Daten übermittelt: Ob es Störungen des Schrittmachers gab, ob die individuell auf den Patienten eingestellte Herzfrequenz immer noch stimmt, wie der Batteriestand ist …«
Franz ist seinem Handy dankbar, dass es das Gespräch aufnimmt, denn mit den Notizen käme er nicht nach. »Gibt es denn für jeden Schrittmacher ein eigenes Steuergerät?«
Pongauer lächelt. »Nein, natürlich nicht. In dem Gerät sind mehrere Schrittmacher gespeichert. Man ruft sie mit der jeweiligen Herstellernummer ab.«
Jetzt ist Franz elektrisiert: »Könnte jemand so einen Schrittmacher hacken?«
Der Professor sieht ihn erstaunt an. »Sie meinen, ob man jemanden durch Manipulation des Schrittmachers umbringen kann?« Er legt eine Pause ein und sieht sein Gegenüber forschend an. »Ja, gibt es denn da einen Verdacht?«
Fassl weicht aus. »Kann man – theoretisch?«
Der Arzt wirkt zum ersten Mal verunsichert, ringt nach Worten: »Sehr unwahrscheinlich. Ich meine, also, es gibt angeblich Handy-Apps, die das Gerät stören könnten. Dadurch würde der Patient aber nicht sterben, sondern der Schrittmacher liefe auf einer Basisfunktion weiter. Die Einstellungen der Herzfrequenz und Ähnliches kann man aber nur über das Steuergerät verändern. Und dazu hat niemand außer dem Arzt Zugang. Von außerhalb geht das nicht.« Pongauer schaut auf seine Uhr. Das Kolloquium für den Polizisten dauert jetzt aber schon sehr lang. Es ist schließlich sein freier Tag, und er hat noch eine Tennis-Verabredung.
»Und Ihr Gerät hat am Freitag bei Herrn Flocks Schrittmacher den Batteriestand definitiv richtig gemessen?« Fassl ignoriert den Blick zur Uhr.
Der Arzt denkt, dass er jetzt gerne eine Zigarette rauchen würde, doch das tut er grundsätzlich niemals vor anderen, seine Frau ausgenommen, die kennt ihn schließlich mit all seinen Schwächen. Er findet die Fragen des Polizisten langsam penetrant. »Ja, das haben wir gemessen, und wie ich bereits sagte, war die Batterie definitiv und zweifelsfrei ausreichend für ein weiteres Jahr! Wenn Sie mich jetzt entschuldigen …« Der Professor erhebt sich, um zu zeigen, dass die Audienz beendet ist.
Doch Fassl hat noch eine letzte Frage. »Warum, frage ich Sie, war dann die Batterie von Flocks Schrittmacher leer, als man ihn obduziert hat?«
***
»Er hat mir dann den Ausdruck mit den Daten von der Untersuchung am Freitag gegeben. Und wirklich, da hab ich es schwarz auf weiß gesehen, dass alles in Ordnung und die Batterie überhaupt nicht leer war.« Franz hat noch vom Auto aus Martin Glück angerufen.
»Und dass sich euer Pathologe irrt?« Martin kann sich die Sache mit der Batterie ebenso wenig erklären wie Fassl. »Oder glaubst du, dass der Professor damit was zu tun hat?«
»Eigentlich nicht. Der war doch nur der Arzt vom Flock, was soll der für ein Motiv haben? Ich werd unseren Obduzierer noch einmal fragen, ob das nicht ein Irrtum sein kann. Mir ist das technisch nämlich zu hoch. Halloooo! Ich glaub i spinn!! Schleich di, du Touristentrottel – entschuldige, Martin, aber da drängt mi so ein Piefke mit an großspurigen Kübelwagen glatt aus meiner Spur.«
»Ja, Franz, so kenn ich dich ja gar nicht. Hat dich der Professor so aufgʼregt?«
Er hört Fassl wie wild hupen, dann ist er wieder am Telefon. »Irgendwie schon. Weißt, was der zum Schluss zu mir gʼsagt hat? Ich soll mehr auf mich schauen, weil die viszeralen Fettzellen Entzündungsstoffe ins Herz schicken und ich dann bei jemandem aus seiner Zunft lande.«
»Was sind viskale Fettzellen?«, fragt Martin.
»Viszerale! Muss ich googeln. Aber sicher nix Schmeichelhaftes.«
Als Fassl auflegt, schaut Martin das Wort im Handy nach. Aha, Bauchfett. Na ja. So ganz daneben liegt der Arzt nicht.
Nach dem Telefonat geht er zurück zum Postamt, um Plan B weiterzuverfolgen. Da man ihm den Namen des Postfachinhabers noch immer nicht nennen konnte, hat er beschlossen, diesem vor Ort aufzulauern, um ihn auf frischer Tat zu ertappen, wenn er das Fach Nummer 513 öffnet. Ein Kontrastprogramm zu seinem Vormittagsspaziergang durch die Mozartstadt. Domplatz mit abgesperrter Zuschauertribüne, Getreidegasse in Gesellschaft gefühlter Millionen Touristen und das übervolle Café Tomaselli, dessen Gäste nicht einmal vom Baulärm vor dem Kaffeehaus abgehalten wurden, dort eine der fünfundvierzig verschiedenen Mehlspeisen zu probieren.
Gegenüber in der schönen alten Hofapotheke hat man ihm noch dazu eine abschlägige Antwort auf die Frage nach Lottes Blutdruckmedikament gegeben: »Nicht lieferbar.«
Er muss ja zugeben, dass Salzburg eine wunderschöne Stadt ist, aber für seinen Geschmack wäre sie ohne die ganzen Touristen noch viel reizvoller. Diese Ansicht teilt er wahrscheinlich mit den meisten Einheimischen. Andererseits: Was wäre Salzburg ohne Festspiele, ohne Jedermann, ohne die Chinesen, Japaner und Amis, die die Kassen ordentlich füllen? Er gibt sich die Antwort selbst: eine hübsche Provinzhauptstadt mit zu vielen Souvenirläden.
Welche Erleichterung, auf die andere Salzachseite zu wechseln, dorthin, wo die Stadt noch bei sich selbst ist. Eine Stunde spaziert er jetzt schon vor der Hauptpost umher, und wenn jemand das Gebäude betritt, folgt er ihm. Bis jetzt sind alle nur zu einem Schalter marschiert, der separat zugängliche Raum mit den Postfächern ist menschenleer. Es ist ihm natürlich klar, dass der Anabolikahändler nicht unbedingt jetzt seine Bestellungen abholen muss, sondern vielleicht erst in zwei Stunden, morgen, übermorgen kommt …
Doch Martin Glück übt sich in etwas, das nicht unbedingt seine Stärke ist: Geduld. Und ist auf seine Fortschritte in Sachen Persönlichkeitsoptimierung beinah stolz. Bis sechzehn Uhr wird er hierbleiben, danach ist er mit Rüdiger im Café Bazar verabredet. Vielleicht weiß der ja wirklich etwas, das ihn im Anabolikafall weiterbringt. Oder er hat Glück und wird heute, morgen oder übermorgen den Händler im Postamt erwischen. Außerdem müssen die ja irgendwann den Namen herausrücken, und wenn der Dienstweg noch so sperrig ist. Halt, da geht ein junger Mann hinein in die Postfachhalle. Genau der Typ. Tätowiert, enges T-Shirt, Muckis. Martin folgt möglichst unauffällig. Leider Fehlalarm – anderes Postfach. Also zurück auf die Straße. Da fällt er nicht so auf. Beschatten war nie seine Spezialität. Außerdem macht er das als Chefinspektor schon lange nicht mehr selbst. Aber dies ist halt ein Sonderfall.
Er greift wieder zum Handy, das ihm schon die letzten eineinhalb Stunden die Zeit vertrieben hat, und beschließt, weiter nach einem Hotel für Romana zu suchen. Zu dritt in der kleinen Wohnung ist sie nicht ganz leicht auszuhalten. Noch dazu, da sie sich in alles einmischt und Fassl ständig sagt, wie und wo er ermitteln soll – »Warum ist diese Tussi noch nicht im Gefängnis, sondern darf die trauernde Witwe spielen?«
Hinzu kommt, dass er mit seinem Freund nie ungestört tratschen oder Bier trinken kann, sondern immer nur Romana das Gesprächsthema bestimmt: Hugo Flock.
Beinahe hätte er die nächste Besucherin des Postamts übersehen. Eine alte Frau mit Stock. In der Hand ein Plastiksackerl von Lidl. Er muss lachen, wenn er sich vorstellt, dass diese Frau mit illegalen Anabolika handelt. Aber sicherheitshalber geht er ihr nach – in die Halle mit den Postfächern. Da summt Martins Handy und zeigt eine eingegangene Nachricht an. SMS von Lotte: »Was ist mit meinem Blutdruckmedikament??«
Während er sich fragt, wieso er ständig von Frauen umgeben ist, die etwas von ihm fordern, an erster Stelle seine Mutter, blickt er kurz vom Telefon auf und traut seinen Augen nicht. Die alte Frau hat soeben Postfach 513 geöffnet. Er steckt das Handy weg, pirscht sich so unauffällig wie möglich heran und macht sich an einem Postfach der Nebenreihe zu schaffen. So kann er einen Blick ins Innere von 513 werfen. Gähnende Leere. Die Frau sperrt wieder ab und geht zum Ausgang.
Das gibtʼs doch nicht! Diese Frau soll mit Anabolika aus China handeln? Fragen kann er sie jedenfalls nicht, da er angesichts des leeren Postfachs keine Handhabe hat. Aber er wird ihr folgen und herausfinden, wohin sie geht.
Ganz so leicht, wie er sich das dachte, ist es aber nicht. Denn nach wenigen Schritten steigt die alte Frau in einen Autobus. Martin bleibt nichts anderes übrig, als ebenfalls mitzufahren. Am anderen Ende des Busses, ganz diskret und ohne Fahrschein. Er hat keine Ahnung, wohin ihn die Reise führt, hat nicht auf das Schild am Bus geachtet. Aber egal. Zurückfahren kann er ja mit dem Taxi.
Nach zwei Stationen steigt die Frau aus. Martin ein paar Sekunden nach ihr. Sie sind in einer Siedlung mit älteren Mehrfamilienhäusern gelandet. Sie dreht sich kurz um, und ihm gelingt es, sich in einen Hauseingang zu drücken. Nachdem sie zwei Häuser passiert haben, kramt die Frau in ihrer Handtasche und holt einen Schlüssel hervor. Jetzt wird er wenigstens erfahren, wo sie wohnt, und anhand der Türschilder ihren Namen erraten können. Allerdings muss er warten, bis sie im Haus verschwunden ist. Nein, doch noch nicht das richtige Haus. Sie geht weiter.
»Cheefinspektor!! Was machst denn du da?«, tönt es plötzlich hinter ihm. Die Frau dreht sich um, und Martin duckt sich gerade noch rechtzeitig hinter einen Strauch. »Bist undercover unterwegs?« Vor ihm steht Rüdiger, klein und laut.
»Vielleicht kannst noch lauter schreien, damit man dich bis Anif hört!« Am liebsten würde Martin seinem Schulkollegen den Hals umdrehen. Denn als er nach der Alten schaut, ist sie spurlos verschwunden.
Rüdiger entschuldigt sich. »Sorry, amicus, konnte ja nicht ahnen, dass du ermittelst. Dabei müsste gerade ich das besser wissen, denn ich bin ja jetzt selbst auf Spurensuche.«
»Halt einfach nur den Mund«, sagt Martin und übt sich in Selbstbeherrschung. Nach ein paar Sekunden, in denen er gemäß dem Rat seiner Anti-Aggressions-Trainerin versucht, der Situation etwas Komisches abzugewinnen, hat er sich beruhigt.
Der Fahrer des Taxis, mit dem Martin und Rüdiger gemeinsam zum Café Bazar unterwegs sind, regt sich ausnahmsweise nicht über Touristen auf, sondern über seine Kollegen, die über die vielen Fremden in der Stadt und den starken Verkehr jammern. »Wir haben super Fuhren und verdienen während der Festspielzeit total gut. Ich bin froh über die Gäste, die Salzburg besuchen. Wissen Sie, wie viel Geld die hierlassen?«
Die Frage war rhetorisch und bedarf keiner Antwort. Rüdiger erzählt, dass er im letzten Moment natürlich kein Hotelzimmer bekommen und daher in Gnigl eine Airbnb-Wohnung gemietet hat. Jetzt weiß Martin wenigstens, wohin er die alte Frau verfolgt hat. Gnigl.
»Also, was ist denn so brisant an deinen Recherchen?«, will Martin wissen, als sie bei weißem Spritzer und Würsteleierspeis auf der Terrasse des Bazar sitzen und über die Salzach auf die Altstadt blicken. Rüdiger hat auf einem Tisch etwas abseits bestanden, damit niemand zuhören kann. Er hat seinen Laptop auf dem Tisch platziert und geöffnet. Nachdem er links und rechts geschaut und sich versichert hat, dass keine Spione an den Nebentischen sitzen, legt er los: »Dass es bei Medikamenten einen Lieferengpass gibt, wirst ja bemerkt haben. Steht auch in den Zeitungen.«
»Ja, zum Beispiel ist das Blutdruckmittel meiner Mutter nicht lieferbar.«
Rüdiger ist in seinem belehrenden Element: »Ja, genau. Das liegt daran, dass einige Apotheker die Medikamente beim Großhandel in Österreich einkaufen und sie dann nach Deutschland verkaufen, wo die Preise höher sind. Selbst Großhändler betreiben manchmal so einen Parallelhandel. Preislich gibt es nämlich ein Ost-West-Gefälle, abhängig vom Lohnniveau: In den ehemaligen Ostländern wie Rumänien sind die Medikamentenpreise aus unserer Sicht extrem niedrig, in den westeuropäischen Ländern hoch. Österreich liegt so dazwischen.«
Rüdiger scrollt auf seinem Bildschirm und findet die Zahlen. »Ein Apotheker kann damit einen zusätzlichen Gewinn von ungefähr zweihunderttausend Euro im Jahr machen, ein Großhändler sogar Millionen. Das ist, wie gesagt, nicht illegal, sondern einfach unethisch, weil die Geschäftemacher riskieren, dass der heimische Markt nicht versorgt werden kann.«
Vom Reden hat Rüdiger einen trockenen Mund bekommen und bestellt noch einen Spritzer. »Da schließe ich mich meinem Vorredner an«, sagt Martin zur Kellnerin, deren Lächeln ihn an Lily erinnert.
Rüdiger ist nicht zu bremsen: »Der Parallelhandel ist aber nicht der einzige Grund für den Engpass. Ich sage nur China! Auri sacra fames!«
Martin blinzelt in Unwissenheit, und Rüdiger übersetzt gnädigst: »Oh fluchwürdiger Hunger nach Gold! Viele Pharmafirmen sind mit ihrer Herstellung nach China abgewandert, wo sie lange Zeit viel billiger produzieren konnten als in Europa oder Amerika. Nicht nur wegen der Löhne, sondern auch aufgrund der niedrigen Umweltstandards. Damit ist es jetzt aber vorbei. Seit Kurzem werden die Auflagen zum Beispiel für Umweltschutz und Entsorgung der Abwässer auch in China strenger kontrolliert. Um dort weiter produzieren zu dürfen, müssten die Fabriken technisch aufrüsten. Und das kostet. Damit wird die Herstellung genauso teuer wie in Europa oder Amerika. Deshalb haben einige Firmen ihre Werke in China geschlossen und kehren mit der Produktion wieder in ihre Heimatländer zurück. Dafür müssen sie aber die seinerzeit stillgelegten Betriebe reaktivieren.«
Martin versteht. »Das kostet natürlich, und bis es so weit ist, werden weniger Medikamente produziert, weil die aus China fehlen. Unter dem Aspekt ist der Parallelhandel natürlich eine absolute Schweinerei.«
»… die Menschenleben kostet«, ergänzt Rüdiger.
Martin sieht ihn fragend an. Bevor sein Gegenüber antworten kann, werden die Spritzer serviert, und beide nehmen einen großen Schluck.
»Jetzt kommt erst die eigentliche Story, Martin. Bisher war das nur Hintergrundinfo, damit du alles verstehst.«
Das musste wohl wieder sein von Mister Allwissend. Martin hält sein Gesicht in die Sonne und lauscht demütig.
Rüdiger erzählt von einer Patientin in Rumänien, die gestorben sei, weil im Krankenhaus ein für sie lebenswichtiges Medikament nicht verfügbar war. »Und warum nicht, Martin? Weil der dortige Krankenhausapotheker Medikamente nach Österreich verkauft hat. Als er beim Großhändler für sein Spital nachbestellen wollte, hatte der auch nicht mehr genug. Und an wen hat der Rumäne das verkauft? An jemanden, der diese Mittel von Österreich weiter nach Deutschland verscherbelt hat. Für alle eine Win-Win-Situation« – dramatische Pause – »außer für die Frau, die tote.«
»Woher weißt du denn das alles?«
»Von einem rumänischen Kollegen, den ich einmal bei einer Pressereise kennengelernt habe. Der hat mich kontaktiert, und jetzt arbeiten wir zusammen an der Geschichte.«
»Wer ist der Mittelsmann in Österreich?«
Rüdiger flüstert verschwörerisch: »Ich weiß, dass der oder die in Salzburg sitzt. Mehr nicht, noch nicht. Aber ich habe eine heiße Spur. Ich halt dich auf dem Laufenden, Martin.«
Und weil das so ist, zahlt Martin die gemeinsame Zeche. Als er auf dem Heimweg bei einer anderen Apotheke haltmacht, um dort nach dem Blutdruckmittel zu fragen, erhält er wiederum ein »Leider nicht lieferbar« zur Antwort. Seine Frage nach dem Warum wird mit einem Achselzucken beantwortet.
»Skrupellose Geschäftemacher! Dass ihr euch nicht schämt, auf dem Buckel von kranken Menschen Geld zu verdienen!« Martin ignoriert den fassungslosen Blick der Apothekerin und stürmt hinaus auf die Straße. Bei der Ankunft in Maxglan hat er sich halbwegs beruhigt. Vor dem Haus trifft er Fassl, der vorschlägt, beim nahegelegenen Wastl Wirt gemeinsam mit Romana etwas zu essen.
Doch die hat andere Pläne. »Ich hab eine Überraschung für euch«, empfängt sie die beiden und führt sie in die Küche. Auf dem Esstisch prangt ein Berg aus Zucker, Butter, Ei und Luft, der im Begriff ist, zu einer unappetitlichen Masse zusammenzufallen. Salzburger Nockerl à la Romana Petuschnigg. Martin hat nur einen Instinkt: Flucht!