KNUST UND SCHERZL
Seit meiner Kindheit bin ich Brotfanatikerin. Am besten frisches Brot, vor allem die Kruste und am allerallerliebsten der Knust. So heißt das in Norddeutschland, woher ich komme, Scherzl in Süddeutschland, wo ich lebe. Das Endstück also. Jedes Brot hat zwei davon. Den Knust zu ergattern, mit Butter zu bestreichen und mit Salz zu bestreuen, das war für mich immer schon pures Glück. Das Problem: meine drei Schwestern. Denn jede wollte natürlich diesen Knust haben. Ob meine Mutter oder mein Vater ihn auch mal gern gegessen hätten, darüber dachten wir nie nach. Es war verboten, sich den Knust einfach abzuschneiden, ohne zu fragen, denn alles musste gerecht verteilt werden. Und noch schlimmer natürlich, das Brot von zwei Seiten anzusäbeln. Aber wie sollte man diesen einen himmlischen Knust aufteilen? Da ich ihn nicht abschneiden durfte, verlegte ich mich darauf, ihn abzuknabbern. So schnell und effektiv wie ein Kaninchen die Mohrrübe. Weg war er. Das führte
zu wilder Empörung bei meinen Schwestern, zu endlosen Ermahnungen und Schimpfereien, aber nichts nützte: Ich war süchtig nach dem Knust, schlich mich nachts in die Küche, um im Dunkeln an dem frischen Brotlaib zu nagen. Dieser Duft. Diese Kruste. Diese tiefe Befriedigung, den Knust ergattert zu haben. Frisches Gersterbrot hatte den besten Knust. Der Rest des Brotes war dann eher langweilig. Die Steigerung des Gersterbrots war ein flacher Gersterlaib, den es aber nur an ganz bestimmten Tagen gab. Er bestand fast ausschließlich aus Kruste, was bei mir zur wahren Knabberekstase führte. Manchmal ließ ich dem Rest der Familie nur ein Häufchen Teig zurück.
In die Schule nahm ich tagein, tagaus nur ein knuspriges frisches Brötchen mit, ohne jeden Belag. Es durfte auf gar keinen Fall in eine Brotzeitbox gepackt werden, sonst war es im Handumdrehen nicht mehr kross. Das Brötchen flog also lose in meiner Schultasche umher, manchmal trug es Kuli- und Tintenspuren, aber das war gleichgültig, solange es nur knusprig blieb. Das Geräusch beim Reinbeißen in dieses Brötchen war das schönste Geräusch am ganzen langen Schultag. Nach der Schule trieb ich mich oft in Pferdeställen herum, weil ich Pferde vergötterte, und wie sie liebte ich trockenes Brot. Es gab Säcke von altem Brot für die
Pferde, aus denen ich mich gern bediente und an den Rinden nagte wie ein Hund an einem Knochen.
Als ich zum Studium nach Amerika ging, verließ ich das Brotparadies und konnte nicht fassen, dass es in ganz Amerika kein Brot mit Kruste und Knust gab. Stattdessen Brot so weich und weiß wie ein Kissen. Ich litt. Toastete English muffins,
bis sie fast verkohlt waren, um eine Kruste zu produzieren. Auch Bagel waren nur ein sehr schwacher Trost.
Zum Ausgleich kam ich später in München ins wahre Brotparadies. Der Himmel der Brezn, des Schwaben- oder Frankenlaibs, des Sonnenblumenbrots und Vinschgerls. Und alles resch. So hieß knusprig hier. Ich aß jahrelang fast nur noch Brot, und es ist bis heute das Lebensmittel, auf das ich am schwersten verzichten kann.
In Japan werde ich manchmal dazu gezwungen, zumindest auf dem Land. Ich halte das drei Wochen lang ganz gut aus, und dann überfällt mich die Sehnsucht nach knusprigem Brot. Ein Brot! Ein Brot! Ein Königreich für ein Brot! In den japanischen Städten gibt es inzwischen phantastische Bäckereien, und auch in den USA
wachsen junge fanatische Brotbäcker heran, trotz verbreiteten Glutenalarms.
Nichts tröstet so gut wie ein frisches knuspriges Brot. Und wenn ich Angst habe, dass ich bei einer endlosen Veranstaltung darben muss, stecke ich mir ein Stück trockenes Brot in die Handtasche, am liebsten natürlich einen Knust.