BAHNHOF MIT BLUMENSTRAUSS
Seit ziemlich genau zwanzig Jahren esse ich, wann immer ich kann, mittags eine Phở
in einem vietnamesischen Imbiss in Schwabing. Als er aufmachte, hieß er »Viet Fun«, ein wirklich genialer Name. Doch irgendwann benannte man ihn um, keine Ahnung, warum. Damals hatten alle über die Größe der Suppenschalen gestaunt. Die waren so groß wie hierzulande Suppenterrinen, und man durfte die Suppe aus ihnen sogar trinken. Ich gab mächtig damit an, mit der Sitte des Suppentrinkens vertraut zu sein. Kurz zuvor war ich nämlich in Vietnam gewesen und hatte mich in die Phở
verknallt.
Die erste Phở
meines Lebens wurde mir bei 35 Grad am frühen Morgen auf der Dachterrasse eines kleinen Hotels in Hanoi serviert. Eine glühend heiße Suppe bei glühender Hitze fand ich ziemlich absurd. Tropenprofis wissen natürlich, dass man bei großer Hitze am besten Heißes trinkt. Die Suppe schmeckte herrlich würzig nach
Sternanis, Ingwer und Muskat. In der kräftigen Fleischbrühe schwammen breite Reisnudeln und Hühnerfleisch, dazu wurde ein ganzer Teller Kräuter gereicht, von denen ich nur Koriander und Thaibasilikum kannte. Darüber hinaus gab es ein wenig Zitrone sowie Chili, Pfeffer und Salz aus einem Schälchen. Die Nudeln aß man mit Stäbchen, die Suppe wurde getrunken. Es ist erstaunlich, wie viel Suppe man zu sich nehmen kann, wenn man sie trinken darf. Danach schwitzte ich zwar beeindruckend, aber es umwehte mich eine kühle Brise, die damit zu tun hatte, dass ich meine Körpertemperatur auf gefühlte 45 Grad hochgeheizt hatte. Nach der Suppe gab es kalte, zuckersüße Mango – und ich hatte mein Lieblingsfrühstück entdeckt.
Von da an aß ich morgens, mittags und abends Phở
. Ich konnte gar nicht genug bekommen von dieser feinen und frischen Zusammensetzung der verschiedenen Geschmäcker. Es gab sie als Rindsuppe, Phở
bò, als Hühnersuppe, Phở
Ga, und als Suppe mit Tofu, Phở
dau. Ich lernte, dass in Hanoi die Nudeln breit und in Saigon schmal sind und dass dieser Unterschied das Land mehr teilt als alles andere. Doch jedes Mal, wenn ich Phở
ga bestellte, erntete ich Gelächter. Netterweise erklärte mir jemand, dass ich es aussprach wie: »Einmal Bahnhof mit Blumenstrauß.«
Zurück in München suchte ich überall nach der Phở
, wie ich sie kennengelernt hatte, fand aber nur lächerliche Süppchen in Teeschalen. Wenn ich nach der originalen Phở
fragte, wurde mir traurig mitgeteilt, die Deutschen verstünden so eine riesige Suppe nicht.
Doch dann machte das »Viet Fun« auf. Und da die neuen Besitzer wenig über Deutschland wussten, gab es vietnamesische Suppenschüsseln und eine annähernd originale Phở
. Anfangs nur mit Petersilie und ohne Zitrone, aber weil ich vehement auf der Originalversion bestand, fügte man zögerlich ein Gewürz nach dem anderen hinzu, inzwischen liegen fast alle Kräuter auf dem Teller wie in Vietnam, samt Zitrone.
Wenn ich länger weg gewesen bin, stelle ich oft fest, dass es die Petersilie wieder zurück in die Suppe geschafft hat, dass es keinen Chili mehr gibt, keine Kräuter und keine Zitrone. Dann meutere ich so lange, bis die Besitzer ein Einsehen haben und die originale Phở
zurückkehrt – was ein bisschen so ist wie die Originalversion eines Films, die ja auch immer besser ist als die synchronisierte. Man muss sie nur wirklich wollen.