APFELSINEN & ORANGEN
Bei uns im Norden hießen Orangen Apfelsinen, was sich von »Apfel aus China« herleitet, und sie hatten immer mit Winter zu tun und dem Gefühl unter den Fingernägeln, wenn man sie schälte. Manchmal brannte es wie Feuer, wenn man einen kleinen Schnitt an der Fingerkuppe hatte, zur Belohnung bekam man aber nicht nur die Frucht, sondern auch den Geruch, diesen unvergleichlichen Geruch nach Süden und Sonne, während draußen die Welt in einem tiefen Mausgrau versank.
Man erzählte uns, dass man im Winter Apfelsinen essen musste, um nicht Skorbut zu bekommen wie die Seefahrer, und das war natürlich in Hannover eine naheliegende Gefahr. Für mich gehörten Orangen also zu Winter und Weihnachten, und als ich in Spanien meinen ersten Orangenbaum sah, war ich verwirrt. Mitten im Dezember hingen bei strahlender Sonne Orangen in den Bäumen wie Weihnachtskugeln. Für jedes Nordlicht wird ein Orangenbaum ein ewiges Wunder bleiben.
Er sieht aus wie ausgedacht, wie eine Kinderzeichnung. Im Frühjahr blühen neben den Orangen schneeweiß die azahar, die Blüten, die morgens und abends so betörend riechen, dass man weiche Knie bekommt. Soll man auch beziehungsweise die nachtaktiven Insekten, die so zur Bestäubung angelockt werden sollen. Kommt aber keins vorbei, kann sich die Orangenblüte auch selbst bestäuben. Wer einmal abends in einer warmen, weichen Nacht durch Sevilla gegangen ist, wenn die Orangen blühen, wird sich sofort selbst ein bisschen unwiderstehlich fühlen. Nachtaktiv eben.
Für uns ist eine Orange nur dann eine Orange, wenn sie orange ist, aber sie braucht auch im Süden kalte Nächte, sonst bleibt sie grün. Weil wir aber nur die orange Orange für eine reife Frucht halten, wird sie für uns »entgrünt«, das heißt, mit Methylen behandelt. Wir bestehen auf der Farbe, denn sie signalisiert für uns Wärme und Lebensfreude, was sich periodenweise auch auf die Mode auswirkt, bis dann wieder jeder merkt, dass er nicht rumlaufen will wie eine Orange auf zwei Beinen. Manche färben sich die Haare orange, was ebenfalls eine Zumutung ist. Ich habe mal ein paar Monate lang in einer Wohnung gewohnt, in der alles orange war, alle Wände waren orange gestrichen, selbst das Klo war orange, die Bettwäsche, das Geschirr, einfach alles. Die Wohnung gehörte einer Anhängerin des Gurus Osho, dessen Gefolgschaft von Kopf bis Fuß in Orange gekleidet war, was niemand schön fand außer sie selbst. Von dieser Wohnung aus ging ich in einem Supermarkt einkaufen, wo ich eines Tages einem alten, schmächtigen und sehbehinderten Mann half, sein Geld abzuzählen. Er lud mich in seine kleine Wohnung in der Nähe ein, fragte mich, ob ich Spanisch spräche, und als ich zögernd bejahte, machte er mich sofort zu seiner Sekretärin und diktierte mir einen Brief an Fidel Castro, in dem er den Preis für Orangen auf Kuba diskutierte, der seiner Ansicht nach unbedingt gesenkt werden müsse. Der Mann war nicht verrückt, sondern der berühmte Anarchist Augustin Souchy, der schon in den sechziger Jahren Kuba bereist und eine Landreform gefordert hatte. Während ich den Brief über die Orangen an Fidel Castro schrieb, machte er einen Kopfstand. Er war neunzig Jahre alt. Während er auf dem Kopf stand, brachte er mir den spanischen Spruch über den richtigen Verzehr von Orangen bei: Morgens Gold, mittags Silber, und abends bringt sie dich um.