EIN KÖRNCHEN TOLERANZ
Ein altes Kölner Karnevalslied fängt so an: Sie will ja, sie will ja, sie will ja nach Sevilla … Wir scheinen die Aussprache des spanischen »11« von diesem Lied gelernt zu haben, beharrlich sagen wir Sevilja und Paelja. Die Paelja also, die der Deutsche fast so gern in Spanien bestellt wie Sangria, weil sie wirklich überall auf der Karte steht, ist eine eher mühsame Angelegenheit. Man kann sie nur ab zwei Personen bestellen, was ja schon ein Hindernis darstellen kann. Und dann wartet man ewig, aber die Vorfreude ist oft das Schönste, bis die riesengroße runde Pfanne mit dem gelben Reis auf den Tisch gehievt wird und man ein wenig misstrauisch begutachtet, was sich auf und unter dem Reis verbirgt und nach unseren Vorstellungen doch so wenig zusammengehört: Huhn und Muscheln, Scampi, Kaninchen und Fisch. Oft ist der Geschmack eher enttäuschend: der Reis halbgar, die Scampi müffeln schon ein bisschen, an den Kaninchenknochen nur wenig Fleisch, die Miesmuscheln generell
verdächtig. Diese »paella mixta«
nennen die Valencianer, aus deren Region die Paella ursprünglich stammt und wo sie nur mit Fleisch zubereitet wird, »Touristen-Paella«. Das ist uns egal, hartnäckig bestellen wir immer wieder unsere Paelja in der Hoffnung, doch einmal eine gute zu erwischen – denn wenn sie gut ist, ist sie umwerfend gut. Da ist dann unten am Reis vorschriftsmäßig die Kruste, die nur entsteht, wenn sie geduldig lange auf dem Feuer stehen bleibt, der Reis ist narzissengelb, weil wirklich Safran ihn gefärbt hat und nicht billiger Kurkuma. Um ein Kilo Safran zu gewinnen, braucht man ungefähr 200000 Blüten, sie können nur per Hand gepflückt werden, und am Tag schafft man allerhöchstens 80 Gramm. Kein Wunder also, dass Safran teuer ist. Im Mittelalter hat man noch gewusst, wie man von Safran high werden kann. Man hat ihn in Wasser aufgelöst getrunken und sich dann Berichten zufolge totgelacht. Paella und Safran und Lachen gehören also zusammen, aber was high macht, ist vielleicht eher, dass man sie niemals allein isst, dass man stundenlang zusammen am Tisch sitzt, am liebsten den ganzen Nachmittag, nur nie abends, weil sie dafür zu schwer ist.
Wenn man die großen Familien in Spanien am Wochenende beobachtet, die stundenlang zusammensitzen und essen und quatschen und lachen
und streiten, bekommt man ein Gefühl dafür, was wir zu verlieren drohen oder schon verloren haben. Natürlich starren in Spanien die Jungen auch auf ihre Smartphones, aber da sie am Tisch sitzen bleiben müssen, schnappen sie doch die Geschichten auf über die schöne Tante, die schon wieder einen Neuen hat, und über den alten Vetter, der endlich sein Coming-out hatte, und die Großmutter mütterlicherseits, die mit dem Gewehr in der Hand auf der Seite der Anarchisten gekämpft hat, und über den Großvater väterlicherseits, der ein verdammter Franco-Anhänger war … Man kann gar nicht anders, als das komplizierte Geflecht aus privaten und politischen Geschichten aufzunehmen, die Ambivalenz des Menschen zu begreifen und als einzigen Ausweg aus all dem unordentlichen Schlamassel die Toleranz zu wählen. Meine Theorie ist, dass es gefährlich ist, wenn wir nicht mehr regelmäßig in großen Runden essen und unsere Geschichten erzählen und hören. Es macht uns auf jeden Fall nicht gerade toleranter, und als weitere negative Begleiterscheinung verkümmert unsere Fähigkeit zu erzählen. Vielleicht ist es kein Zufall, dass Spanien toleranter mit Fremden umgeht als fast jedes andere europäische Land. Vielleicht liegt es an der Paella. Ich will ja, ich will ja, ich will ja nach Sevilla.