LIEBLING LINDA
Seltsam, dass man eine Kartoffel vermissen kann. Die kleine, hübsche, feste Linda, die perfekte Salatkartoffel, verschwand eines Tages. 2004 wurde Linda von der Firma Europlant der Sortenschutz und damit so etwas wie die Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland entzogen. Damit sollte verhindert werden, dass mit einem Mal jeder Linda hätte anbauen können – und so gab es Linda einfach nicht mehr. Gehörte Linda nicht uns allen? Wie konnte es sein, dass eine Firma meine Linda einfach verschwinden lassen konnte? Es gab eine Gruppe »Rettet die Linda«, aber auch sie hatte keinen Erfolg. Ich habe mich gefragt, ob Linda nun in einem dunklen Kartoffelkeller saß und im Schatten der Nacht und aus bleichen Trieben vor sich hin weinte? (Nachtschattengewächs – was für ein schönes Wort!) Ich vermisste meine Linda sehr, denn nur mit ihr gelingt meiner Meinung nach der perfekte Kartoffelsalat: als Pellkartoffeln nicht zu lange kochen, vorsichtig abpellen, in dünne Scheiben schneiden. Mit feingeschnittenen Zwiebeln, Öl, Essig und Salz vermischen, dabei nicht die Kartoffelscheiben zerquetschen! Ziehen lassen. Eventuell nachsalzen. Fertig. Jetzt gibt es natürlich jede Menge Einwände: Ein perfekter Kartoffelsalat braucht Speck oder Gürkchen oder Mayonnaise oder alles zusammen, die Scheiben müssen dick sein, mehlig und was weiß ich nicht alles. Nein und noch mal nein. Wahre Stammesfehden kann man in Deutschland mit verschiedenen Kartoffelsalat-Überzeugungen anfachen. Wir sind nun mal die Kartoffelfresser, die »potatoe heads«, eine Diskussion um den perfekten Kartoffelsalat lässt uns sofort das Blut zu Kopf steigen. In Bayern, finde ich, gibt es einfach keine guten Kartoffeln. Alle zu groß und zu mehlig. Keine Linda. Kein perfekter Kartoffelsalat.
Eine ökologische Kartoffelbauern-Kooperative in Bhutan, die auch eine Reiseagentur betreibt, hatte mich letztes Jahr eingeladen, einen Schreibworkshop zu unterrichten, weil Kartoffeln und Kultur zusammengehören. Logisch, denn wer immer die Idee hatte, eine ungenießbare Knolle in kochendes Wasser zu legen, läutete mit dem Übergang vom Rohen zum Gekochten einen fundamentalen Wandel in Lebensart und Kultur ein. Die Kooperative in Bhutan stellt Kartoffelchips her, die sie »happy chips« tauf‌ten. Staunend fuhr ich durch dieses sehr besondere kleine Land und übernachtete auf einem Bauernhof, wo die Bäuerin mich persönlich bekochte.
Ich erwartete Exotisches – und bekam einen Kartoffelsalat serviert. Und dieser war – wie soll ich es anders sagen? – perfekt. Jetzt wusste ich, was mit Linda passiert war: Sie war reinkarniert. In Bhutan. Inzwischen gibt es sie auch wieder bei uns. Europlant hatte ein Einsehen. Liebling Linda wird wieder angebaut. Manchmal gibt es ein Happy End. Aber es bleibt die Frage: Wem gehört unser Gemüse?