NO MILK TODAY
Ich sitze gern neben Kühen auf der Weide und höre ihnen zu, ihrem Schnauben und Schnaufen, Malmen und ihren abgrundtiefen Seufzern. Vielleicht seufzen sie, weil es so mühsam ist, grünes Gras in diese pure, weiße, seidene Flüssigkeit zu verwandeln, vielleicht aber, weil die Milch eine so komplexe Angelegenheit geworden ist.
Als Kind wurde ich noch mit der Milchkanne zum Milchladen geschickt. Aus einem Hahn schoss die Milch in einem breiten Strahl in die Kanne, und der Kick bestand darin, die volle Milchkanne so zu schlenkern, dass keine Milch verschüttet wurde. Eigentlich mochte ich keine Milch, außer als Kakao. Meine Großmutter schmierte uns die schrumpelige Haut der Milch aufs Brot und behauptete, es sei eine Delikatesse. Meine Mutter stellte kleine Schalen mit Milch auf die Fensterbank, und nach einem Tag war daraus Stippmilch geworden, die man mit Zucker und Zimt aß. Zur Geburt der Kinder bekam man einen Milchstein geschenkt, den
man in den Milchtopf legte, um zu verhindern, dass die Milch überkochte. Die Rohmilch sollte man wegen der Krankheitserreger abkochen, in Amerika ist sie bis heute verboten. Dort lernte ich einen französischen Käseschmuggler kennen, der kofferweise Rohmilchkäse einführte und auf Hollywoodpartys teuer verkaufte. Jeder Amerikaner trank bis vor einigen Jahren unvorstellbar viel Milch. Wer keine Milch trank, konnte nicht groß und stark werden. Das glaubten auch wir – bis irgendwann ein langes neues Wort die Runde machte: Laktoseunverträglichkeit. Mit einem Mal hatte die fast jeder und stieg um auf Soja-, Mandel-, Kokos-, Hafermilch. Ich fand das lächerlich. Auch die Behauptung, der erwachsene Mensch vertrage gar keine Milch. Die Chinesen trinken jetzt Milch, weil es schick ist und weil sie auch groß und stark werden wollen, obwohl sie nachweislich keine Milch vertragen, denn in Asien hat fast jeder eine Laktoseunverträglichkeit. Buddha allerdings wurde, als er schon ganz krank und schwach war von zu viel Askese, von einer jungen Frau gerettet, die ihm eine Schale Milch gab.
Jetzt gibt es in China gigantische Kuhställe, Millionen von Kühen pupsen CO
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in die Luft. Die Milch als globales Problem. Wir produzieren in Europa zu viel Milch und wollen nichts für sie
zahlen. Die kleinen Milchbauern werden von den großen Molkereien ruiniert. Wir zerstören die Gesundheit der Milchkühe durch absurd hohe Milchleistung. Wir schicken sie nicht mehr auf die Weide, und unsere Landschaft verödet. Wir exportieren unsere Milch als Milchpulver und treiben die Milchwirtschaft anderer Länder in den Bankrott. No milk today, my love has gone away
sang ich als Teenager. Inzwischen habe ich eine Laktoseunverträglichkeit. Ja, tatsächlich. Jahrelang hatte ich morgens immer Bauchweh. Seit ich die Milch im Kaffee weglasse, geht es mir gut. Aber ich vermisse die Milch. Ich sitze neben den Kühen im Gras, lasse mir ihre warmen Seufzer in den Nacken pusten und seufze mit ihnen. Muss denn alles so verdammt komplex werden? Selbst die Milch? No milk today.