EIN QUANTUM TROST
Deutschland liegt mit zwölf Kilo verspeister Schokolade pro Kopf im Jahr an der Spitze des weltweiten Schokoladenkonsums, und daran ist allein mein Vater schuld. Er isst mehr Schokolade als jeder andere Mensch auf der Welt. Schokolade nach dem Mittagessen und Schokolade nach dem Abendessen. Nicht ein lächerliches Stückchen oder einen Riegel, sondern ganze Tafeln. Immer schwarz. Schokolade wurde nach jedem Essen ausgeteilt wie überlebenswichtige Medizin. Ich bin mit Herrenschokolade groß geworden wie andere mit Muttermilch. Warum heißt schwarze Schokolade Herrenschokolade? Weil Herren bitter sind und Damen süß? Ich habe keine Ahnung, aber auf jeden Fall kann ich Milchschokolade nicht ausstehen. Und schwarze Schokolade soll ja auch so viel gesünder sein. Wie abhängig ich von meiner täglichen Ration Schokolade bin, merke ich besonders in Ländern, wo kaum Schokolade gegessen wird, wie zum Beispiel in China. Die Chinesen verzehren lächerliche 200 Gramm pro Kopf im Jahr. Ihnen fehlt einfach mein Vater.
Besonders schmerzhaft habe ich allerdings meine Schokoladensucht festgestellt, als ich einen Film in einem Zen-Kloster in Japan gedreht habe. Wir hatten dem Abt versprochen, während der Drehzeit das Kloster nicht zu verlassen und auch sonst alle Regeln zu befolgen: Meditation und Sutrensingen um drei Uhr früh, stundenlanges Putzen (Putzen!), endlose Teezeremonien, Barfußlaufen bei eisiger Kälte, meditatives Waldfegen, nichts als Reisbrei und nur einmal in der Woche ein heißes Bad. Das war alles recht hart, aber am schwersten fiel mir, auf Kaffee und Schokolade zu verzichten. An Kaffee heranzukommen war undenkbar, aber unser Produzent, der aus guten Gründen nicht mit ins Kloster eingezogen war, sondern in einem Sushi-Restaurant Quartier bezogen hatte, kam jeden Abend in der Dunkelheit an die Klostermauer, wir gaben ihm das Filmmaterial, und er reichte uns Schokolade herüber. Es war immer die gleiche Schachtel mit Mandeln in Milchschokolade, aber darüber meckerte ich nicht. Jeden Abend lag ich auf meinem brettharten Futon, sah meinem Atem zu, der in kleinen Wölkchen in die eiskalte Luft davonsegelte, und lutschte achtsam und total im Hier und Jetzt die Schokolade von jeder Mandel, bis die Schachtel leer war. Und es versöhnte mich. Mit fast allem. Selbst mit der gellenden Glocke, mit der wir pünktlich um 2.30 Uhr in der Früh geweckt und zur Meditation gescheucht wurden. Die Aussicht auf die Schokoladenpackung am Abend ließ mich durchhalten. Manchmal tröstet die Schokolade über erlittene Unbill hinweg, über Pleiten, Scheitern, Kummer, aber ich finde, man kann sie auch als Trost auf Vorrat essen. Und dann sind dem Verzehr eigentlich keine Grenzen mehr gesetzt – ausgenommen die vielen Kalorien, bestimmte Marken, die man aus politischen Gründen meiden sollte, weil sie Kinder bei der Arbeit einsetzen und in riesigen Kakaoplantagen die Umwelt zerstören. Nichts ist mehr einfach, noch nicht einmal das Essen von Schokolade. Also vielleicht doch nur ein Stückchen, ein kleines Stückchen. Und nur Herrenschokolade natürlich.