VON KOHL ZU KALE
Kaum etwas ist so deutsch wie Kohl, und ganz früher müffelten besonders im Winter unsere Häuser danach. Ich konnte den Geruch nicht ausstehen, er erinnerte an das dumpfig-dampfige Eingesperrtsein in der kalten Jahreszeit, an feuchte Wollsocken, beschlagene Fenster und die Sehnsucht nach helleren und frischeren Zeiten. Besonders übel war Grünkohl, der schleimig vor sich hin faulte, wenn er Frost abbekommen hatte, die Steigerung Grünkohl und Pinkel, was viele im Norden zwar lieben, ich aber als Kind nicht nur kulinarisch, sondern auch optisch als Affront empfand.
Außer Kohlrouladen fällt mir kein Gericht mit Kohl ein, das ich mochte, und wenn es die gab, konnte man sie schon von weitem riechen. Als dann immer mehr frisches Obst und Gemüse auch im Winter in die Läden kam, verschwand in Deutschland dieser Geruch, aber in Peking überfiel er mich unverhofft wieder, wo riesige Kohlhalden im Winter auf dem Balkon gelagert werden, der sogenannte Chinakohl. Überall auf den Märkten schier unüberwindliche Berge von Kohl, die eiskalten Landstriche in Zentralchina verwandeln sich im Winter in eine Art Kohl-Andachtsgebiet, nur übertroffen von Korea, wo jeder glaubt, dass es ohne Kimchi kein Leben auf diesem oder irgendeinem anderen Planeten geben kann. Das geht seit fast dreitausend Jahren so. Jüngst wurde Kimchi zum koreanischen Kulturgut erhoben, jede Familie hat ihr überliefertes Rezept, und gemeinsam Kimchi herzustellen bringt »Jeong« hervor, was Liebe, Gefühl, Sympathie, Teilen und Menschsein bedeutet. Vielleicht ein Rezept für politische Spannungen? Einfach mal zusammen Kimchi herstellen. Die Riesensauerei mit roter scharfer Paprika macht auch noch Spaß, so ähnlich wie Fingerfarbenmalen im Kindergarten, und gleichzeitig kapieren wir vielleicht durch den erstaunlichen Verwandlungsprozess der Gärung, dass Bakterien sehr viel mächtiger sind als wir. Was lange gärt, wird endlich gut, denn im Kimchi verdoppeln sich tatsächlich die Vitamine von Woche zu Woche, ein gutes Kimchi ist also nahezu unschlagbar.
Seit einiger Zeit kann man auf Netf‌lix eine koreanische Zen-Nonne dabei beobachten, wie sie total entspannt im Hier und Jetzt in großen irdenen Töpfen ihr eigenes Kimchi herstellt. Genauso philosophisch und entspannt könnten wir dem Universum bei der Arbeit zuschauen, wenn wir Sauerkraut zubereiten würden, was im Prinzip genau das Gleiche ist, nur nicht so mega angesagt wie Kimchi. Wir könnten einen Rotkohl in der Mitte durchschneiden und die verwirrend schöne lila-weiße Farbgebung studieren, die uns einiges über Fraktale und die Chaostheorie näherbringen könnte. Und unser stinkiger alter Grünkohl begegnet uns jetzt als ultrahipper »Kale« wieder, der in Kalifornien als Wonderfood zu absurd teuren Kale-Chips und Kale-Smoothies verarbeitet wird.
Alles Kohl von gestern – oder Zen, Chaos und das Wunder im Kohl. Ich esse ihn jetzt sogar richtig gern. Prinz Philip soll seine Frau, die Königin von England, zärtlich »Cabbage« nennen – ein liebevolleres Kompliment ist fast nicht vorstellbar, oder?