VON HÜHNERN UND MENSCHEN
Wenn ich so mein Frühstücksei betrachte, stellt sich die Frage, wie das Huhn, das das Ei gelegt hat, wohl lebt. »Ich wollt’, ich wär’ ein Huhn, ich hätt’ nicht viel zu tun, ich legte jeden Tag ein Ei und sonntags sogar zwei«, sang mein Vater unter der Dusche. Ich höre die Hühner Deutschlands unisono und sehr tief seufzen. Das Leben eines Huhns ist grässlich, seit wir beschlossen haben, nicht wissen zu wollen, wie es lebt. Selbst das »Biohuhn« hat es nicht viel besser. Wieso finden wir uns seit Jahrzehnten mit Legebatterien und Kükenschreddern ab? Was ist los mit uns? Sind wir noch bei Trost?
Ein Ei ist ein Wunder. Es gibt kaum ein so perfektes Lebensmittel wie das Ei. Verpackung samt Inhalt. Und es beschert einem noch dazu einen ziemlich verlässlichen Charaktertest, um z.B. eine neue Liebe einzuschätzen: Wie isst sie/er sein/ihr Ei? Fest gekocht oder weich? Festkocher haben Angst vorm Risiko. Lieber zehn Minuten kochen als riskieren, dass das Ei am Ende noch ein wenig flüssig ist. Die Weichkocher können sehr empfindlich sein mit Hang zur Pedanterie. »Ich hab’ doch vier Minuten gesagt und nicht viereinhalb!« Wer erinnert sich nicht an Loriots berühmte Szene mit dem Ei? Also, früh aufpassen: Wer köpft sein Ei? Wer klopft es? Die Köpfer sind entschlossen, aber auch etwas rücksichtslos. Die Klopfer dagegen eher zögerlich, vielleicht auch feige?
Bei Spiegeleiern gibt es die Langbrater und Kurzbrater. Die Langbrater sind geduldig, denn es verwundert doch jedes Mal wieder, wie lange ein Spiegelei braucht, um an den Rändern richtig braun zu werden. Die Kurzbrater schnell gestresst. Rührei kann leicht in einen Glaubenskrieg ausarten: mit Milch? Ohne? Mit Sprudelwasser? Sahne? Schaumig geschlagen? Oder glatt? Und dann die wichtige Frage: Wie feucht oder trocken soll es sein?
Zu meinen schönsten Kindheitsmomenten gehörte, wenn meine Mutter mir nach der Schule ein Rührei machte, mit Butter natürlich. Die war damals noch unschuldig, und jetzt ist sie es zum Glück wieder, nachdem sie lange in der Ecke stehen musste, als hätte sie etwas verbrochen. Meine Mutter beherrschte das perfekte Rührei: noch leicht feucht, cremig, aber nicht zu schaumig.
In Amerika klingen Bestellungen für Spiegeleier wie Filmtitel: »Eggs over easy« oder »Sunny side up« . Das braucht man an trüben Tagen: die Sonnenseite bitte oben. Schon ist man glücklich.
Mit einem zeitweise glücklichen Huhn habe ich einmal einen ganzen Winter verbracht. Es war braun und hieß deshalb Brownie. Als es im Winter im Hühnerstall zu kalt wurde, nahm ich es mit ins Haus, legte alles mit Zeitungspapier aus, und von da an saß Brownie abends neben mir auf der Couch und sah fern. Ab und zu gluckte Brownie zustimmend. Actionfilme mochte die Henne nicht, ansonsten habe ich selten eine geduldigere Zuschauerin erlebt. Sie legte nicht jeden Tag ein Ei, geschweige denn sonntags zwei. Manchmal schenkte sie mir aber ganz überraschend ein Ei wie eine besondere Geste: Hier, für dich. Nur für dich. Als sie mit einem Mal damit aufhörte, nahm ich es persönlich. Hatte ich etwas Falsches gesagt oder getan? Die Bäuerin von nebenan befand, das Huhn sei »glucksch« und lege deshalb nicht mehr. Ich folgerte, Brownie sei nicht mehr glücklich, sondern trübsinnig. Die Bäuerin steckte mein Huhn kurzerhand in einen Eimer mit kaltem Wasser. Die Therapie half. Brownie legte wieder Eier. Ich verstand Brownie, manchmal bin ich auch glucksch. Sogar ziemlich. Dann mag ich einfach nicht mehr. Jetzt weiß ich: Kalt duschen hilft.