EINE FRAGE DER HALTUNG
Ich war nie eine Teetrinkerin, bis ich nach Japan kam. In der Sommerhitze zum Umfallen erschöpft, rettete mich immer wieder eine Tasse grüner Tee wie ein Zaubertrank. Dieser Duft, diese unvergleichliche Farbe! Ich trank so viel Tee, dass ich so gut wie gar nicht mehr schlafen musste – oder konnte –, und kaum zurück in München, gab ich mächtig damit an, dass ich Genmaicha, Sencha und Matcha auseinanderhalten konnte. Ich erinnerte mich voller Wonne und Sehnsucht an versteckte Teehäuser in Bambuswäldern, wo alte Damen gekonnt den kleinen Bambusbesen für den perfekten Schaum im Matcha schwangen, den sie in berückend schönen Teeschalen servierten, in denen zu allem Überfluss auch manchmal noch ein Goldblättchen schwamm. Die Teekultur Japans beschreibt ein ganzes Universum, das man kaum jemals endgültig ergründen kann, und sie ist, könnte man meinen, fast darauf angelegt, den Fremden draußen zu halten. Zum Beispiel mit der Teezeremonie: In ihr soll die Flüchtigkeit und Vergänglichkeit unseres Seins vergegenwärtigt werden, unsere Zeit verrinnt, es gibt kein Entrinnen, nur im achtsam erlebten Augenblick liegt Erkenntnis. So weit die Theorie. Als wir uns zu den Dreharbeiten für den Film Erleuchtung garantiert in einem Zen-Kloster aufhielten, wurden wir eines Tages nach der Morgenmeditation (die um drei Uhr nachts begann!) von der Ankündigung überrascht, es gebe heute eine Teezeremonie. In Vorfreude auf eine heiße Tasse Tee im eiskalten Kloster ließen wir uns bequem auf unseren Sitzkissen nieder, worauf wir sofort streng ermahnt wurden, uns gefälligst ordentlich auf die Knie zu setzen, in den Seiza-Sitz, der mir nach nur fünf Minuten höllische Schmerzen bereitete. Die Teezeremonie, die in Wirklichkeit keine Zeremonie ist, sondern einen Lebensweg illustriert, dauert zwischen einer und sechs Stunden und soll die Teilnehmer die Enge von Raum und Zeit vergessen lassen und zu entspannter Heiterkeit führen. Oder heiterer Entspanntheit. Am besten zu beidem. Für mich völlig undenkbar. Nie war ich weiter vom Ziel entfernt, innere Stille und Gelassenheit zu erreichen. Von Sekunde zu Sekunde wollte ich aufspringen, mich wie eine Dreijährige auf die Tatamis werfen und brüllen: Wann bekomme ich meinen verdammten Tee? Und wann darf ich ihn austrinken, damit bitte, bitte Schluss ist mit dieser Höllenqual? Endlos langsam vollführte der Teemeister in abgezirkelten, sorgsam choreographierten Bewegungen seine Kunst, die ich als reine Folter empfand, und als ich endlich, endlich die winzige Tasse Tee an die Lippen setzen durf‌te, war ich so erschöpft von meinen Schmerzen, meiner Ungeduld und Wut, dass ich gar nichts mehr schmecken konnte.
Von da an fürchtete ich jeden Morgen, eine weitere Teezeremonie stünde ins Haus, und ich habe seitdem einen großen Bogen um Einladungen zu einer solchen gemacht. Und dennoch: Bis heute trinke ich eine Tasse grünen Tee mit deutlich mehr Aufmerksamkeit als eine Tasse Kaffee und freu mich, dass ich dabei nicht knien muss.