FLOSSEN WEG!
Manchmal habe ich die Vision, dass nach meinem Tod all die Tiere, die ich mein Leben lang verspeist habe, vor mir stehen und mich vorwurfsvoll ansehen: all die Hühner, Gänse, Enten, Rinder und Schweine, ein Stubenküken aus der Schweiz, ein paar sehr vorwurfsvolle Zikaden aus Mexiko, Ameisen und Würmer, eine Schlange aus Vietnam, Kaninchen, Lämmer, ein Känguru, sogar ein Vogel Strauß, Hirsche, Rehe, ein Rentier, das mir in Finnland als Rentierbratwurst serviert wurde – und dann all die Muscheln, Scampi, Garnelen, Hummer und Fische. So viele Fische! Als Kind habe ich nie einen wirklichen Fisch auf meinem Teller gesehen – er kam immer als Fischstäbchen oder als Fischauf‌lauf mit Kartoffelbrei und Sauerkraut auf den Tisch. Mein Vater liebte Sardellen, aber an einen größeren ganzen Fisch kann ich mich nicht erinnern. Auch Karpfen zu Weihnachten gab es bei uns nicht. Dafür kannte ich lebende Fische unter Wasser recht gut, denn mein Vater liebte das Schnorcheln mit der ganzen Familie. Geplagt vom ständigen Geplapper seiner fünf Frauen war es unter Wasser so schön still mit uns allen, und so verbrachten wir ganze Sommerferien mit der Taucherbrille auf dem Kopf. Ich sah durchsichtige Krabben herumstolzieren, neugierige Fische, die mich beäugten und vorsichtig beknabberten, riesige Fischschwärme, die synchron und magisch ihre Richtung änderten, um mir auszuweichen. Aber so wunderbar diese Welt unter Wasser auch war – eine wirkliche Verbindung zu den Fischstäbchen auf meinem Teller zog ich nicht. Als Studentin liebte ich das »Schlemmerfilet«, was mir heute rätselhaft ist. Ich aß Stockfisch im Biergarten und Renken aus dem Starnberger See und später dann natürlich Sushi. All die Fische, die ihr Leben für mittelmäßige Sushi lassen müssen! All der Lachs auf Frühstücksbuffets, der Thunfisch in schaurigen Thunfischsalaten! Und ich hatte noch nie in meinem Leben einen Fisch geangelt. Das sollte sich während einer Amerikareise ändern, denn da machte ich mit Mann und Kind einen Ausflug auf eine winzige kanadische Insel mit Blockhütte, die als Angelparadies gilt. Wir wurden von hünenhaften Wildhütern dorthin gebracht, die uns dringend auf‌forderten, die Fischabfälle gesondert einzusammeln, um keine Bären anzulocken. Man gab uns einen »f‌ish priest«, einen Holzhammer, mit dem die vielen Fische, die wir angeln würden, zu töten seien, und zeigte uns das Kanu, die Angel und die Köder. Und dann waren wir allein. Eine ganze Woche lang. Und wir fingen keinen einzigen Fisch. Sie sprangen vor uns aus dem Wasser, sahen uns an, grinsten uns an – aber bissen nicht an. Nie. Kein einziges Mal. Wir aßen eine Woche Reis und Bohnen, und eigentlich war ich ganz froh, dass ich keinem Fisch den Hammer auf den Kopf hauen musste. Als wir wieder abgeholt wurden, sollten wir unsere gesammelten Fischabfälle abgeben, und als wir nur eine leere Tüte vorzuweisen hatten, sah man uns verwirrt an. Wir hatten keinen einzigen Fisch gefangen? Das konnte doch nicht sein! Um unsere Schmach zu lindern, platzte ich heraus, dass wir aus religiösen Gründen keine Fische äßen. Die Wildhüter wirkten nun mitleidig. Kein einziges Mal habe ich den Fischpriester angewandt, werde ich den Fischen sagen, wenn sie mich so vorwurfsvoll ansehen. Sie werden seufzen, denn ich esse weiterhin Fisch – aber ich habe eine Fisch-App, kaufe Fisch nur noch mit Bio-Label, esse vorwiegend Süßwasserfische und Sushi (fast) nie mehr. Ob’s hilft?