SCHLAUER TINTENFISCH
Es tut mir wirklich leid, wenn ich Ihnen immer wieder ein Lebensmittel vermiese. Ich kann nichts dafür. Eine Information ereilt mich – und prompt bereue ich, etwas aus Ignoranz so lange gegessen zu haben. Jetzt also der Oktopus, Tintenfisch, Kalmar, Krake. Wer kennt schon genau den Unterschied, wenn er in frittierten Ringen auf den Tisch kommt, die ich heiß geliebt habe, auch wenn sie (zu) oft an gebratenen Gummi erinnern. Aber wenn sie knusprig und weich gleichzeitig nach Himmel und Meer schmecken, sind sie himmlisch.
Dann allerdings las ich mehr über sie. Sie sind alle Tintenfische, und der Oktopus ist der intelligenteste unter ihnen. Er hat acht Arme – einer davon ist sein »Lieblingsarm«. Er verändert bei Stress und psychischen Befindlichkeiten seine Farbe. Wenn er schlecht drauf ist – und kurz vor seinem Tod –, wird er ganz blass. Wenn er lustig und gut drauf ist, wechselt er dagegen im Minutentakt Farbe und Muster, ganz nach Hintergrund. Er
langweilt sich ungern. Dann schraubt er lieber verschlossene Gläser so geschickt auf, dass man ihn sich als permanente Küchenhilfe wünscht. Er haut aus Aquarien ab und zwängt sich durch die engsten Türschlitze. Er erkennt Menschen und verteilt ganz klar Anti- und Sympathien. Aus purem Übermut sprüht er Freunden Wasser ins Gesicht. Als ich das las, war es um mich geschehen. Ich dachte, ich bin die Einzige, die als erwachsene Frau immer noch ab und zu den Mund voll Wasser nimmt und dem Nächsten eine Dusche verpasst. Ich könnte mich jedes Mal totlachen. Der Tintenfisch ist mein Gleichgesinnter! Er will nur spielen. Jetzt kann ich keinen Tintenfisch mehr essen. Wer spielt, hat bei mir immer gewonnen. Im Spiel liegt Schönheit. Wie die Spielenden verehre ich die, die Schönheit verbreiten, obwohl sie sinnlos ist und noch dazu viel Arbeit macht.
Zum Beispiel Menschen, die endlos lange kochen und dann auch noch die Teller so wunderhübsch garnieren, dass man sie unbedingt fotografieren und auf Instagram posten muss. Dort stolperte ich dann auch über den japanischen Kugelfisch. Der wühlt wie besessen und ohne sichtbaren Grund mit den Flossen im Sand herum, eine ganze Woche lang, 24 Stunden am Tag, und legt ein kompliziertes Muster an, eine Art Sandmandala von komplexer
Schönheit, das er am Ende auch noch mit Muscheln verziert. Nie, nie, nie könnte ich diesen Fisch essen. Das wäre fast so, als würde ich Michelangelo frittiert zum Abendessen verspeisen. Bei Tieren haben wir keinerlei Blick für ihre künstlerische Arbeit. Deshalb hat der Kugelfisch wohlwissend vorgesorgt. Sein Verzehr ist hochgiftig, und jedes Jahr sterben in Japan Menschen daran. In Restaurants allerdings gilt das Gericht aus seinem Fleisch, besonders der Leber, als Delikatesse. Es heißt Fugu, und man muss zwei Jahre als Koch in einem Fugu-Restaurant gelernt haben, bevor man eine Lizenz für die Zubereitung bekommt. Der Kugelfisch dachte sich, er sei relativ gut geschützt, aber er hat die Rechnung ohne den Menschen gemacht: Inzwischen gibt es Züchtungen ohne Gift. Armer Kugelfisch. Ich werde ihn trotzdem nicht essen. Wegen der sinnlosen Schönheit, für die er sich so viel Arbeit macht.