GOETHE IN NEAPEL – OHNE PIZZA
Mein Traum als Kind: eine Pizza nur für mich allein, denn für uns vier Geschwister gab es maximal zwei Pizzas (ja, ja, der korrekte Plural von Pizza ist Pizze …). Es gibt nur zwei Sorten Menschen: Die einen lieben die Pizzaränder, die anderen lassen sie liegen. Ich liebe die Ränder und Pizza Margherita, denn alle anderen Beläge verschleiern die einfache, klare Schönheit der Pizza. Mein Traum als Erwachsene: einmal eine Pizza in Neapel essen, wo sie erfunden wurde. Darauf habe ich lange warten müssen, aber neulich war ich da, in der Stadt, die Goethe erst sehen und dann in ihr sterben wollte, ohne eine Pizza gegessen zu haben: Sie soll zum ersten Mal am 11. Juni 1889 vom Pizzabäcker Esposito für König Umberto und seine Frau Margherita gebacken worden sein. Esposito hatte sie mit Zutaten in den Nationalfarben belegt: rote Tomaten, grünes Basilikum und weißer Mozzarella. Er war wohl gar nicht der einzige Pizzabäcker, es heißt, die Königin habe 35 verschiedene Pizzas in den Palast bestellt. Eine echte Pizzaliebhaberin also und die Erfinderin von »Call a Pizza«. Nun meine ich, dass eine bestellte Pizza niemals gut sein kann. Sie verträgt die Reise nicht: Immer ist die Mitte schon matschig, und die Ränder sind weich. Tiefkühlpizzas sind auch enttäuschend. Ich habe mit Pizzasteinen und Pizzablechen hantiert, und manchmal bekomme ich ein ganz anständiges Ergebnis zustande, aber natürlich nie das vermeintliche Original. Jetzt also dann in Neapel. An jeder Pizzeria steht, dass nur hier die einzige, wahre Pizza serviert wird, jeder also Nachfahre von Esposito, dem Pizzabäcker der Königin. Esposito, der XXXXMDII ., grüßt mich majestätisch mit »Salve!«, ganz in Weiß gekleidet, erinnert er an einen Chefarzt. Bei der ersten Pizza glaube ich an eine Touristenfalle. Bei der zweiten an einen verliebten oder betrunkenen Pizzabäcker. Bei der dritten sehe ich ein, dass die echte, wahre Pizza Napoli eine sehr weiche, dicke, fast labbrige Angelegenheit ist – überhaupt nicht knusprig. So, werde ich pikiert aufgeklärt, backen die Römer ihre Pizza, aber das ist nicht die wahre Pizza! Ein wunder Punkt. An einer Hauswand gegenüber steht: »Roma merda« . Ich sehe Schulkinder, die sich in der Mittagspause eine riesige Pizza für 2,50 Euro kaufen, die dann wie ein großer Waschlappen zusammengefaltet wird. Mit einer römisch knusprigen Pizza unmöglich: Sie würde zerbrechen. Die Vorstellung von den Dingen verdirbt die Erfahrung der Dinge. Ich gebe meinen Traum von der knusprigen Pizza auf. Der vierte Versuch: Auf der Pizza schwimmt im dicken roten Sugo eine Pfütze goldgelbes Olivenöl, der babypopoweiße Mozzarella ist taufrisch, das tiefgrüne Basilikum duftet. Ich falte die Pizza wie die Schulkinder zusammen – und erst so entfaltet sie ihren komplexen, wunderbaren Geschmack. Nach einer neapolitanischen Pizza braucht der Ungeübte einen Mittagsschlaf. Ich halte ihn in der Frühlingssonne auf einer kleinen Piazza. Möwen schreien. Neapolitaner diskutieren. Handys klingeln. »Neapel ist ein Paradies, jedermann lebt in einer Art von trunkner Selbstvergessenheit. Mir geht es ebenso, ich erkenne mich kaum, ich scheine mir ein ganz anderer Mensch.« Goethe. Ohne Pizza im Bauch. Und ich. Mit derselben. Nicht knusprig. Wunderbar.