BAUMKUHU
Als ich klein war, durfte ich manchmal mit meinem Großvater in Hannover in die »Holländische Kakao-Stube« gehen. Das war etwas ganz Besonderes: Ich bekam einen heißen Kakao, mein Großvater aß eine Königinpastete. Die wahre Spezialität des Hauses war aber der Baumkuchen, eine zarte und teure Kostbarkeit, die ich über alles liebte. Besonders die mit Zartbitterschokolade glasierten Baumkuchenspitzen, jede Teigschicht dünner als ein Taschentuch. Rings an den Wänden hingen blau-weiße Delfter Kacheln mit Windmühlen, die Kellnerinnen trugen weiße Spitzenschürzchen, und über uns schwebte das riesige Gemälde eines Schiffs in stürmischer See. Alles wirkte sehr gediegen – und alt.
Tatsächlich hatte bereits 1921 der Konditormeister Friedrich Bartels das »Van Houten’s Cacao-Probe-Local« übernommen, und der jetzige Besitzer heißt heute in der dritten Generation immer noch Friedrich Bartels. Der Baumkuchen war für
mich immer Synonym für die »Kakao-Stube« und Hannover, bis ich in Japan zu meinem großen Erstaunen überall Baumkuchen entdeckte. »Baumkuhu«, wie man es auf Japanisch ausspricht, gibt es in jeder Kaffeekette, jedem Supermarkt, jedem Bahnhof, jedem Flughafen. Er scheint wie gemacht für Japan: zart, kaum süß, aufwendig in der handwerklichen Herstellung, was in Japan besonders geschätzt wird. Der Bäcker Juchheim hat ihn eingeführt. Er kam vom Mittelrhein und hatte 1914 in China unter deutscher Kolonialherrschaft als Bäcker gearbeitet. Als er als Kriegsgefangener nach Japan gebracht wurde, backte er dort die ersten Baumkuchen, die so einen Erfolg hatten, dass er ein Café und eine Baumkuchenbäckerei eröffnete. 1923, im großen Erdbeben von Kanto, verlor er alles, baute wieder auf, starb jedoch 1945, und seine Frau Elise wurde von den Amerikanern deportiert. Aber der Baumkuchen war nicht mehr aus Japan wegzudenken. Ehemalige Angestellte backten weiter und setzten sich dafür ein, dass Elise Juchheim 1953 nach Japan zurückkehren durfte.
Von da an gab es kein Halten mehr für den Baumkuchen. Heute bekommt man ihn in hundert Varianten, als Matcha-Version oder mit Kokosnuss und Kirschblüten, der 4. März ist der offizielle »Tag des Baumkuchens«, keine Hochzeit gibt es ohne
Baumkuchen mit so vielen Schichten des Glücks wie den Ringen eines Baumstamms. Außerdem wird er zu Weihnachten in rauhen Mengen vertilgt. Billig aus dem Supermarkt oder absurd teuer aus den Fressabteilungen der großen Kaufhäuser. Die durchschlendere ich gern wie ein Museum, die unglaublichsten Feinschmeckereien aus der ganzen Welt werden dort wie Kunstwerke präsentiert. Und neulich stieß ich dort tatsächlich auf einen Ableger der »Holländischen Kakao-Stube« aus Hannover.
Die japanischen Verkäuferinnen trugen die gleichen Spitzenschürzchen wie in meiner Kindheit, die blau-weißen Delfter Kacheln mit den Windmühlen auf der Verpackung waren identisch, es gab Kakao und Baumkuchen. Und obwohl draußen Tokio bei 38 Grad im Schatten fast verglühte, trank ich eine heiße Schokolade, aß eine Baumkuchenspitze und war in Hannover mit meinen Großvater – und er aß eine Königinpastete.