GRÜNES GOLD
Ich weiß gar nicht mehr, wann ich meine erste Avocado gegessen habe. Als ich klein war, gab es keine Avocados. Aber als mein Kind klein war, durchlief es eine Phase, in der es nichts außer Avocados aß. Ich konnte das gut verstehen, denn ich liebe Avocados. Als ich vor vielen Jahren zum ersten Mal in Mexiko war, aß ich Guacamole Tag für Tag, und zwar mit dem Esslöffel. Die Avocado ist inzwischen überall. In unseren Supermärkten gibt es abgepackte »Guacamole Sets«, Avocado, Limette und Zwiebel.
Das Lieblingsessen der Hipster ist der Avocado-Toast. Für Gesundheitsbewusste gibt es Avocado-Smoothies und für Kosmetikbewusste Avocado-Gesichtsmasken. Die Avocado ist dermaßen in. Und ja auch so gesund! So voller guter Fette! Ein super Superfood! Dass sie unglaubliche Mengen Wasser braucht, um heranzureifen, wollen wir lieber nicht wissen. Vor kurzem ließ ich in einem Schreibworkshop in Mexiko meine Studenten Avocado-Geschichten schreiben. Jeder Mexikaner hat eine Avocado-Geschichte so wie jeder Deutsche wahrscheinlich eine Kartoffel-Geschichte. In Mexiko heißt Avocado »Aguacate«, was ursprünglich aus dem Nahuatl kommt, einer indigenen Sprache. Schon immer war bekannt, wie nahrhaft die Avocado ist. Aber jetzt wird sie »Oro verde« genannt (grünes Gold). Mir wurde erzählt von einem Ehepaar, das sich scheiden ließ, weil er die Avocado liebte und sie nicht. Ein Mann erzählte, er sei unter einem Avocadobaum geboren, und seiner Mutter seien während der Geburt die Avocados auf den Kopf gefallen. Viele berichteten von den riesigen Avocadobäumen ihrer Kindheit. Wer von uns kennt dagegen nicht die frustrierende Erfahrung, einen Avocadokern an Zahnstochern in ein Wasserglas zu hängen und zu hoffen, dass er keimt. Stattdessen gammelt er dann über Wochen vor sich hin, bis man ihn enttäuscht entsorgt. Neidvoll hörte ich einer jungen Frau zu, die erzählte, sie brauche nur aus dem Küchenfenster zu greifen, um sich vom Baum eine Avocado zu pflücken. Eine Studentin mit guatemaltekischen Wurzeln berichtete von ihrer Mutter, die Avocado mit Zucker und Milch zubereitet. Alles schöne Avocado-Geschichten. Bis eine junge Frau von ihrem Onkel erzählte, der eine Avocadoplantage besitzt und von den Drogenbossen vor einem Jahr entführt wurde. Ihre Tante pflegt treu die Avocadoplantage weiter, aber von ihrem Mann hat sie nichts mehr gehört. Die anderen Studenten nickten wissend. Viele kannten ähnliche Geschichten. Weil die Avocado weltweit so beliebt geworden ist, hat der Drogenhandel sich jetzt auch der Avocado bemächtigt. Selbst in Mexiko ist der Preis für Avocados deutlich angestiegen.
Zurück in Deutschland schaue ich im Supermarkt auf die Avocado in meiner Hand, das grüne Gold, die Avocado-Geschichten schwirren in meinem Kopf herum, alles hängt mit allem zusammen, der Berliner Hipster, der Avocado-Toast, der Drogenkrieg, meine Guacamole-Leidenschaft. Nichts ist unschuldig. Wie soll man damit umgehen? Auf der Avocado klebt das Schildchen »Hass«. Meinen mexikanischen Studenten habe ich die Bedeutung dieses Wortes erklärt. Das fanden sie sehr komisch. Die Hass-Avocado ist eine hybride Züchtung: Aus ihr wird nie ein Avocadobaum.