RÄCHERIN DER MEERE
Ich kann mich noch genau an sie erinnern. Blasspink und hübsch lag sie inmitten all der anderen auf meinem Teller und tat ganz unschuldig, schien mich, obwohl definitiv tot, mit ihren schwarzen Äuglein hinterlistig anzublinzeln, und als ich sie in den Mund schob, wusste ich noch in demselben Augenblick, dass sie schlecht war. Dennoch
schluckte ich sie hinunter und redete mir ein, ich hätte mich geirrt.
Keine zwei Stunden später wusste ich endgültig, dass dem nicht so war. Ich wollte sterben. Oder dachte, ich müsste sterben. Zu meinem großen Glück hatte ich ein Hotelzimmer mit eigenem Bad. Eine genauere Beschreibung erspare ich Ihnen. Eine einzige kleine spanische Garnele haute mir die Beine weg und schwächte mich so sehr, dass ich nur auf allen vieren vom Bett ins Bad kriechen konnte und zurück. Jeder, der diese Erfahrung gemacht hat, weiß, wie man auf dem kalten Fliesenboden vor der Kloschüssel liegt und staunt, wie wenig es
doch braucht, um einen völlig aus dem Verkehr zu ziehen. Eine einzige Muschel, eine einzige Garnele.
Als Kind habe ich Garnelen beim Schnorcheln zugesehen, wie sie auf den Felsen herumstaksten und so durchsichtig waren, als seien sie gar nicht wirklich existent. Ihre Existenz machte mir nun eine einzige unmissverständlich klar. Aber wer ist auch so
blöd, an einem Sonntag bei dreißig Grad im Schatten Gambas oder Garnelen zu essen? Ich konnte einfach nicht widerstehen. Anzukommen in Spanien, die heiße Sonne, das Meer, die Farben, der Geruch, die Meeresfrüchte … All das schien unauflöslich zusammenzugehören als Versprechen auf das große Sommer- und Ferienglück, und schon riss ich mir die Kleider vom Leib, saß im Bikini in einem Strandlokal, bestellte Gambas a la plancha
und forderte mein Schicksal heraus. Im jüdischen Glauben gelten Schalentiere als nicht koscher. Wer sie isst, muss mit ihrer Rache rechnen. Bei mir ist es so, als ob sie nur darauf lauerten. An einem Weihnachtsfest hatte mein Vater sich in den Kopf gesetzt, Austern zu servieren. Ich war begeistert. Eine Rächerin der Meere aber hatte sich unter sie gemischt. Direkt nach dem herrlichen Austernmahl fuhr ich im Nachtzug wieder zurück nach München. Was soll ich sagen? Es gibt angenehmere Aufenthaltsorte als eine Zugtoilette. Aber selbst dieses
traumatische Erlebnis konnte mir den Verzehr von Schalentieren nicht vermiesen. Bis vor kurzem ging ich für Spaghetti alle vongole
kilometerweit, liebte Miesmuscheln, Pfahlmuscheln, Jakobsmuscheln, Krebse, Shrimps, Garnelen, Hummer. Aber jetzt habe ich erfahren, wie viel Mikroplastik Schalentiere aufnehmen und speichern. Mit einer Portion Muscheln verzehre ich ungefähr das Äquivalent von drei Kreditkarten. Ab jetzt sind alle Schalentiere sicher vor mir. So lange, bis wir endlich unseren Plastikwahnsinn in den Griff bekommen. Ich hoffe, das schaffen wir. Es sieht im Moment nicht so aus.
Was ist die Rache einer einzigen Gamba im Vergleich zu der Verseuchung aller Meerestiere? Sollten wir das Plastik jemals wieder aus dem Meer bekommen, wäre ich sofort bereit, mich zu opfern: Her mit der kleinen, fiesen Gamba, die sich an mir rächen will für alles, was wir ihr und ihren Artgenossen angetan haben! Sie hat ja so recht.