EINE TÜTE NOSTALGIE
Als Kind kannte ich keine Maroni, nur Kastanien, die ich bis heute begeistert sammle, weil ich ihre unterschiedlichen Formen und die spiegelglatte, tiefbraune Oberfläche so mag. Jedes Jahr wieder wurden Kastanienmännchen und -igel gebastelt, mit einem Kinderbohrer emsig Löcher gebohrt und Streichhölzer hineingesteckt, die entweder abbrachen oder ständig herausfielen. Nach wenigen Tagen alterten zudem Igel und Männchen enttäuschend, wurden runzlig und unansehnlich.
Von Maroni hörte ich zum ersten Mal in meinem Lieblingskinderbuch Die kleine Hexe
von Otfried Preußler. Bis heute erinnere ich mich an ein buckliges, schwer erkältetes Männchen, das in einer Maronibude mit Bullerofen steht und vor sich hin niest. Es schenkt der kleinen Hexe eine Tüte Maroni und beklagt sich über seinen fürchterlichen Schnupfen und darüber, dass es sich ständig die Finger an den heißen Maroni verbrennt. Beides wird ihm netterweise sofort von der kleinen Hexe
weggehext. Lange nach der Lektüre der Kleinen Hexe
habe ich zum ersten Mal in München Maroni gegessen. Ab da gab es keinen Winter ohne Maroni mehr für mich und ohne Maroni keinen Winter. Im November, wenn die Maronibuden aufmachen, trösten sie mich zuverlässig über den bevorstehenden Winterblues hinweg, und ich freue mich auf die schon lang bekannte nette Maronifrau, die zum Glück einen Heizlüfter in ihrer Bude stehen hat, auf den verbrannten, leicht beißenden Geruch, den man von ferne schnuppern kann, auf die warme Tüte in der Manteltasche und die weichen, süßen Maroni, die sich leicht aus der Schale pellen lassen.
Unzählige Male habe ich versucht, Maroni zu Hause zu rösten, mit wenig Erfolg. Sie wurden meist hart und bitter, hingen störrisch an ihrer Schale, und ich verbrannte mir wie das Maronimännchen sämtliche Finger. Ich habe sie in Wasser eingelegt, mit einem Maronimesser eingeschnitten, in eine extra angeschaffte Maroniform gelegt – aber es gibt einfach Dinge, die man den Fachleuten überlassen sollte. Außerdem gehört ein bisschen Frieren auf der Straße dazu, während man auf seine Maroni wartet – am besten unter leichtem Schneerieseln vom tiefschwarzen Winterhimmel. Ich habe Maronistände in Spanien entdeckt, in Italien und Mexiko, wo sie auf offenem Feuer gebraten
werden, selbst in Japan, wo sie aus einer Art Dampflokomotive kommen, und überall prompt Heimat- und Weihnachtsgefühle bekommen. Früher waren Maroni keinesfalls eine romantische Angelegenheit. Sie galten als Armenspeise – »Brot des kleinen Mannes« wurden sie genannt – und waren oft die einzige Kohlenhydratquelle, besonders im Winter. Die Reichen aßen keine Maroni, wenn es sich vermeiden ließ, weil es hieß, sie führten zu Verdauungsproblemen und zu einem unkontrollierten Sexualtrieb. Wer das wohl getestet hat? Die Armen träumten dafür vom blütenweißen Weizenmehl der Reichen. Inzwischen ist Weizen in Verruf geraten, dafür werden Maroni als Könige der glutenfreien Ernährung gepriesen, Verdauungshilfe, gesunde Diät und natürliches Aufputschmittel (so heißt es jetzt also …). Ist mir alles wurscht, ich brauche nur die Maronibude, den Geruch, die warme Tüte in meiner Manteltasche, den Geschmack von süßen Maroni – und schon ist der Winterblues praktisch weggehext.