MELONEN-MOMENTE
Ich erinnere mich an heiße Sommer als Kind, an lange Strandtage, an denen es mittags nichts zu essen gab, weil meine Mutter auch mal eine Pause bekam, aber wenn dann am Nachmittag eine kalte Wassermelone aufgeschnitten wurde, gab es nichts Schöneres auf der Welt, als durchsonnt und überhitzt im Bikini in dieses überwältigend rot leuchtende Fruchtfleisch zu beißen, so dass einem der Saft übers Kinn lief und auf die nackten Knie tropfte. Die Wassermelone als Inbegriff von Sommer, das Aufschneiden der Frucht wie ein Schnitt in einen Körper, wenn das Fruchtfleisch aufklafft fast wie bei einer Operation, vom Operieren wurde zwischen meinen Ärzteeltern oft geredet, und so ungefähr stellte ich mir das vor. Fruchtfleisch. So saftig, so viel, so rot. Es fällt mir kaum eine andere Frucht ein, die von außen so anders aussieht als von innen. Wenn sie noch faul und warm auf den Feldern liegt, ähnelt sie einem vergessenen, gammeligen Ball. Ursprünglich kommt sie aus Afrika, liebt
trockene Sandböden, sie besteht zu achtundneunzig Prozent aus Wasser, aber braucht selbst nur wenig zum Wachsen. Wie kann das sein? Ein Wunder. Eine Wassermelone ist ein Wunder, davon war ich als Kind überzeugt und bin es immer noch. Der Kenner klopft und horcht auf einen hohlen Ton. Ich klopfe auch immer, weil es fachmännisch aussieht, aber höre im Grunde genommen nichts. Als Kind dachte ich, es wird geklopft, weil man auf Antwort wartet, weil es sein konnte, dass jemand in der Wassermelone wohnte. Ein kleines Tier? Ein Zwergenkind? Gut vorstellbar, denn allein konnte man sie kaum nach Haus schleppen.
Eine Wassermelone muss groß sein, zu groß, nur dann ist sie richtig. Ich halte nichts von Zwergmelonen. Eine richtige Wassermelone muss einen überfordern. Sie passt in keinen Kühlschrank, sie verlangt nach einer ganzen Horde Kinder, um sie aufzuessen. Und sie will Hitze. Eine Wassermelone an verregneten, kühlen Tagen? Kein Gedanke dran. Sie braucht das Licht, die Sonne, um richtig zur Geltung zu kommen. Am besten vor Blau. Dunkelblauem Himmel, türkisblauem Wasser – oder einer azurblauen Wand. Eine Zeitlang habe ich direkt neben dem Haus von Frida Kahlo in Coyoacán in Mexiko gewohnt, das zum Schutz gegen böse Geister blau gestrichen ist. Jeder kennt inzwischen Frida
Kahlo, ihre Bilder, ihre buschigen Augenbrauen, ihre farbigen Kostüme, ihre schmerzensreiche Geschichte.
Die meiste Zeit verbrachte sie in einem Gipskorsett, am Ende ihres Lebens lag sie in ihrem blauen Haus in einem winzigen Bettchen, beinamputiert, gepeinigt, verzweifelt. Und dennoch malte sie weiter. Ihr letztes Bild ist ein leuchtendes Stillleben mit aufgeschnittenen Wassermelonen. Der Titel: Viva la vida
. Es lebe das Leben. Ich verbrachte viele Stunden in ihrem verwunschenen Garten vor dem blauen Haus. Um die Mittagszeit kam eine Gruppe von Kindergartenkindern. Die Kindergärtnerin schleppte eine Wassermelone herbei, schnitt sie auf, aber bevor die Kinder sie aßen, malten sie sie. Im schönsten Karmesinrot und Dschungelgrün vor dem azurblauen Haus. Oben in Fridas Schlafzimmer steht gleich neben ihrem Bett ein präkolumbianisches Gefäß mit ihrer Asche. Vom Garten aus kann man es (fast) sehen. Und Frida sieht vielleicht die Kinder, die in ihrem Garten Wassermelonen malen. Und essen. Viva la vida.