SIND WIR NOCH GANZ DICHT?
Tut mir leid, wenn ich Sie nerve, aber das Thema Milch treibt mich erneut um. Als wir vor vielen Jahren aufs Land zogen, waren unsere Nachbarn Milchbauern mit etwa zwanzig Kühen, die Rosi, Berta und Flora hießen. Wenn sie abends von der Weide kamen, wirkten sie ziemlich glücklich. Von der Bäuerin, die all ihre Kühe ganz genau kannte, bekamen wir frische Milch. Die Kälbchen standen neben ihren Müttern, und wenn sie größer wurden und die Milchleistung naturgemäß nachließ, bekamen die Mütter eine Pause. Wie lange, habe ich damals nicht gefragt. Dass eine Kuh nur Milch gibt, wenn sie kalbt, habe ich als Stadtkind nicht kapiert. Jeden Morgen, wenn der Milchwagen kam, drehte ich mich noch einmal im Bett um, froh, keine Bäuerin zu sein. Der Milchpreis sank und sank, immer mehr Bauern gaben auf, die Kühe verschwanden aus dem Ort. Es gab kein leises Muhen mehr, keine Kuhkarawane am Abend, keine frische Milch mehr, keine dampfenden Kuhklackse auf der
Straße. Damals konnte ich mir keinen Kaffee ohne Milch vorstellen, keinen Kuchen ohne Schlagsahne, kein Wiener Schnitzel ohne Kalbfleisch. Die Bauern selbst aßen nie Kalbfleisch. Das gab ich, nachdem ich so oft die Kälber gestreichelt und sie mir mit ihren rauhen Zungen den Arm geschleckt hatten, auch auf. Aber trotz Laktoseunverträglichkeit aß ich weiterhin Käse, Butter, Joghurt.
Was wir jedoch heutzutage unseren Milchkühen antun, ist so grausam, dass es mir den Appetit verschlägt. Wir quälen unsere fast vier Millionen Milchkühe mit absurden Milchleistungen, wovon sie krank werden und immer kürzer leben. Vor dreißig Jahren, als wir aufs Land zogen, gab eine Kuh etwa 2800 Liter Milch im Jahr, jetzt sind es durchschnittlich fast 10000. Wir behandeln die Kuh wie eine Maschine, nicht mehr wie ein Lebewesen. Das betrifft alle Nutztiere, aber bei der Milch hatte ich lange ein fast unschuldiges Gefühl, weil sie nichts mit der Schlachtung eines Tieres zu tun hat. Lange habe ich mich mit Biomilch getröstet, aber auch für sie wird die Kuh in einer Dauerschwangerschaft gehalten. Die Kuh ist eine nette Mutter, nach der Geburt steckt sie mehr Energie in die Herstellung der Milch für ihr Kind als für sich selbst. Bei der ständigen Milchproduktion wird sie deshalb oft schwerkrank, ihre Klauen, ihr Euter,
ihre Immunabwehr gehen vor die Hunde, nach etwa fünf Jahren ist sie fertig. Früher wurde sie fast dreimal so alt. Jedes Jahr bekommt sie ein Kalb, damit die Milchproduktion nicht versiegt. Aber wohin mit all den Kälbern? Ein Kalb kostet zurzeit nur noch um die neun Euro! Sind wir noch ganz dicht? Will ich das im Ernst weiter mitmachen?
Also stehe ich vor dem Regal mit den Ersatzmilchprodukten, und um die Wahrheit zu sagen: Keines schmeckt mir. Aber ich muss mich wohl dran gewöhnen – im Gedenken an meine Nachbarin, die Milchbäuerin, an Rosa und Berta und Flora, die noch einigermaßen glücklich waren, und ihr tägliches Wunder, grünes Gras in schneeweiße Milch zu verwandeln.