DAS GROSSE FRESSEN
Seltsam, eigentlich bin ich die Letzte, die sich über fehlende Tischmanieren aufregt. Neuerdings jedoch reagiere ich immer heftiger auf Mitmenschen, die sich quer über den Tisch legen und ungeniert in sich hineinfressen, den Unterarm vorm Teller, die Gabel in der Faust, das Handy gleich daneben. Was regt mich daran so auf? Zum einen sieht es wirklich nicht schön aus, es ist so ziemlich das glatte Gegenteil von graziös oder elegant, aber das erwarte ich gar nicht. Was mich stört, ist die Missachtung des Essens und des Vorgangs, es sich einzuverleiben. Es scheint völlig wurscht zu sein, was man in sich hineinschaufelt, Hauptsache, es schmeckt irgendwie nach irgendwas, während man sich eigentlich mit etwas anderem beschäftigt.
Ja, es kann ziemlich langweilig sein, allein zu essen, und mühsam, da auch noch Manieren zu haben, und wer hätte nicht in Ermangelung eines Handys oder einer Zeitung schon die Aufdrucke von Milch- und Müsliverpackungen studiert, die anscheinend nur für den einsamen Esser gedichtet werden. »Heumilch aus dem frischen Heu, von der Kuh extra für dich.« Echt jetzt? »Schmeck dich frisch!« Wie geht das? Inzwischen gibt es ganz andere Möglichkeiten, sich nicht beim Essen zu langweilen: In Korea machen junge Leute Karriere, die allein am Tisch vor sich hin essen und sich dabei filmen. Sie machen nichts weiter, als Unmengen von Essen in sich hineinzustopfen und auf Youtube zu stellen. Seltsam? »Meokbang« heißt dieser Trend. Sie sprechen noch nicht einmal dabei. Essensgenossen, die genauso allein essen wie sie selbst, schauen ihnen dabei zu. Auf Tischmanieren verzichten sie dabei – wie ihre Zuschauer wohl auch.
Ellenbogen vom Tisch! Sitz gerade! Mit dem Essen spielt man nicht! Iss langsam! Schling nicht so! Lad dir nicht so viel auf den Teller! Warte, bis alle am Tisch sitzen! Fang nicht als Erste an! Beide Hände auf den Tisch! Ich höre diese Ermahnungen aus meiner Kindheit bis heute. Ich fand sie lästig, wollte mich, immer hungrig wie ein Wolf, am liebsten ungehindert aufs Essen stürzen und es verschlingen, aber durch die ständige Wiederholung zwangen sie mich, das Essen als Ritual mit bestimmten, unumstößlichen Regeln zu begreifen. Es ist zugegebenermaßen schwer, diese Regeln aufrechtzuerhalten, wenn wir nicht mehr regelmäßig zusammen essen; immer mehr »to go« als »to sit down« . Aber verlieren wir nicht etwas ganz Entscheidendes, wenn wir den Essensvorgang nicht mehr ritualisiert wahrnehmen?
Ich denke, wir isolieren uns auf diffuse Weise von der Welt, wenn wir uns nicht jedes Mal wieder klarmachen, wie viele Menschen, Tiere und Pflanzen daran beteiligt waren, um dieses Essen vor mir auf den Teller zu bringen. Da könnte ich jetzt echt mal den Ellenbogen vom Tisch nehmen, ein klein wenig Grazie in mir hervorkramen – und mich vielleicht sogar vor meinem gefüllten Teller verbeugen. Nur ganz kurz. Wäre ja sonst seltsam.