KAPITEL 1

Letzte Nacht habe ich geträumt, ich sei wieder im Mandalay. Nicht in dem schönen alten Landhaus aus Daphne du Mauriers Roman Rebecca, sondern in dem sehr viel moderneren und pompöseren Mandalay Bay Hotel in Las Vegas. Das Hotel, in dem Charlie und ich unsere Flitterwochen verbracht haben.

Wie es scheint, träume ich fast jede Nacht von Charlie. Manchmal sind es schöne Träume, so wie dieser. Wir sitzen am Pokertisch, verlieren Geld und lachen. Der Trauring an meinem Finger glänzt, so neu ist er. Das Hotel erfährt von der Neuigkeit und überlässt uns eine ihrer Honeymoon-Suiten. In dem Traum kann ich sein Aftershave riechen und fühlen, wie heiß seine Haut unter meinen Fingerspitzen ist.

In anderen Nächten träume ich von dem Tag, als er verschwand. In diesem Alptraum habe ich immer noch den Geruch aus dem Zitronenhain in der Nase, wenn ich mit klopfendem Herzen erwache. Und in so mancher Nacht quält mich mein Unterbewusstsein im Traum auch mit dem verwesenden Leichnam.

Sogar diese Träume hinterlassen bei mir eine seltsame Zufriedenheit, die dann den Großteil des Vormittags anhält. Bedeuten sie doch, dass ich ihn nicht vergesse. Sie bedeuten, dass er immer in meinen Gedanken ist, immer.

Am Morgen riss mich die Türklingel aus dem Las-Vegas-Traum. Gerade hatte ich noch unter den Satinlaken des goldenen Honeymoon-Betts in Charlies Armen gelegen, während die Sonne durchs Fenster schien, um mich im nächsten Moment allein in meiner Zwei-Zimmer-Wohnung in Islington wiederzufinden. Ich brauchte eine Weile, um mich zu orientieren, um zu begreifen, warum ich wach war. Wieder klingelte es. Ich schwang mich aus dem Doppelbett und warf meinen Bademantel über, stinksauer auf denjenigen, der mich aus diesem Traum gerissen hatte, und das ausgerechnet heute.

Ein kleiner Mann lugte hinter einem großen Blumenstrauß hervor, als ich die Tür aufriss.

»Blumen für Kate Grey?«

Weiße Rosen und große rote Blumen, die ich nicht kannte. »Von wem sind die?«

»Eine Karte ist dabei, Miss. Könnten Sie bitte hier unterschreiben?«

Als ich wieder allein in der Wohnung war, riss ich den Umschlag auf. Meine Hände zitterten wie die eines nervösen Ansagers bei der Oscar-Verleihung. Der Tag, an dem Charlie gestorben war, lag genau ein Jahr zurück, und ich hielt noch immer Ausschau nach Hinweisen.

Für Kate. Ich weiß, dass heute ein schwerer Tag für dich ist. Für mich auch. Ich wollte dich bloß wissen lassen, dass ich an dich denke und dass ich heute Abend Zeit habe, falls du Gesellschaft brauchst. Alles Liebe, Luke.

Einen kurzen Moment lang war ich enttäuscht, dann musste ich lachen. Was hatte ich denn erwartet? Etwa eine rätselhafte Nachricht von Charlie – eine Nachricht von einem Toten? Warte auf mich, Liebling, ich bin gar nicht weit weg ...

Es war lieb von Luke, an mich zu denken. Mir war klar, dass auch ich an ihn hätte denken müssen. Ich hatte Charlie nur zwei Jahre gehabt; Luke aber war mit ihm aufgewachsen.

Ich musste nicht zur Arbeit. Genau genommen hatte ich seit Charlies Tod gar nicht mehr gearbeitet; mein Arzt hatte mich für mehrere Monate krankgeschrieben, und dann war das Geld von der Lebensversicherung eingetroffen, und mir war klargeworden, dass es ausreichen würde, um ein paar Jahre davon zu leben. Das bedeutete, dass ich der Umwelt noch nicht wieder gegenübertreten musste, dass ich weiter in meinen Erinnerungen an Charlie schwelgen und versuchen konnte, mit meinem Verlust klarzukommen.

Nach dem Mittagessen kaufte ich bei einem Floristen Sonnenblumen und fuhr zum Friedhof in Highgate. Charlies Grabstein war schlicht, die Aufschrift darauf kurz und knapp. Es standen nur sein Geburtsdatum und der Todestag knappe vierunddreißig Jahre später darauf sowie die Worte Watching the slow door. Wenn jemand danach fragte, sagte ich nur, dass sie aus einem Gedicht stammten. Sollten die Leute doch selber entscheiden, ob sie es nachschlagen wollten.

Die Beerdigung hatte ich damals nur schwer durchgestanden. Sie hatte einen Monat nach Charlies Tod stattgefunden, weshalb ich nicht den Vorteil der frisch Trauernden hatte: wie betäubt zu sein. Bei den meisten Trauergästen handelte es sich um Freunde und Kollegen von uns; Charlies Eltern waren tot, er hatte keine Geschwister, und die wenigen entfernten Verwandten, die Luke hatte auftreiben können, schienen nicht bereit zu sein, Hunderte von Dollar für einen Flug auszugeben, nur um einen Sarg in der Erde verschwinden zu sehen. Ich hatte mich mit meinen Eltern überworfen, als ich noch ein Teenager war, und wir hielten nach wie vor Abstand zueinander. Ich wusste, dass sie von Charlies Tod und der Beerdigung erfahren hatten, aber sie meldeten sich nicht bei mir, und sie schickten auch keine Blumen. Es war mir egal. Zu diesem Zeitpunkt war mir so ziemlich alles egal.

Ich tauschte die vertrockneten Blumen in der Vase gegen die Sonnenblumen aus. Die spätnachmittägliche Augustsonne brachte die Blütenblätter zum Leuchten. Ich setzte mich im Schneidersitz vor Charlies Grab und streichelte über den Grabstein aus Granit. Ein Mann, der mit seinem Hund spazieren ging, kam vorbei und sah mich aus dem Augenwinkel an. Als sich unsere Blicke kreuzten, tippte er mit dem Finger an seine Schirmmütze und nickte grüßend.

»Ich habe heute Nacht vom Mandalay Bay geträumt«, sagte ich und fuhr mit den Fingerspitzen seinen Namen nach, der in den Grabstein gemeißelt war. Ich rede ständig mit Charlie, aber meist nur in Gedanken. Ich bin mir allerdings ziemlich sicher, dass es eine Sondergenehmigung dafür gibt, laut mit seinem toten Ehemann zu sprechen, wenn man an seinem Grab sitzt. Deshalb gilt man noch lange nicht als Bekloppter.

»Ich hab davon geträumt, dass ich wieder mit dir zusammen war. Erinnerst du dich noch daran, wie wir in die Wüste gefahren sind und zu den Sternen aufgeblickt haben?« Am Wüstenhimmel schien es viel mehr Sterne zu geben, die in der Dunkelheit aufblitzten wie entfernte Leuchttürme. »Erinnerst du dich noch an die Frau in der Hochzeitskapelle, die unsere Daten aufgenommen hat?« Mindestens achtzig war sie gewesen, und genauso viele Pfunde hatte sie auch zu viel auf den Rippen gehabt. Sie hatte eine dicke Schicht Make-up und Puder getragen, und ihre Augen hatten wie Spinnen ausgesehen, so dick war die Wimperntusche. Na, ihr zwei Turteltäubchen, hatte sie gesagt. Seid ihr hier, um die Sache offiziell zu machen? Hoffentlich hattet ihr nicht zu viele Piña Coladas. Wir waren nicht einmal angesäuselt. Das war es nicht, warum wir uns entschlossen hatten, den Bund fürs Leben einzugehen, obwohl wir uns erst seit drei Tagen kannten.

Ein paar Regentropfen ließen kleine Staubwolken von der trockenen Erde auf Charlies Grab aufwirbeln. Ich blieb noch eine Weile sitzen.

Samantha brüllte: »Ich komme!« durch die massive Haustür, und ich hörte sie die Holztreppe heruntereilen. Sie riss die Tür auf, ihre goldblonden Locken flogen, und sie umarmte mich zur Begrüßung.

»Wow, wie braun du bist«, sagte ich.

Sie drehte sich um die eigene Achse. »Nicht schlecht, was? Aber wir sind auch erst vorgestern zurückgekommen, und bald bin ich wieder blass.«

Hinter ihr tauchte David auf, auch er beneidenswert braun. »Hi, Kate. Lässt du sie jetzt mal rein, Sam, oder muss sie dich noch länger bewundern?«

Angeregt durch ihren Besuch in Miami, hatte Samantha sich für ein scharf gewürztes Abendessen entschieden. Während wir Burritos verspeisten, erzählte sie mir von Davids neuem Kollegen in der Anwaltskanzlei.

»Er ist echt hübsch, oder, Dave?«

David verdrehte die Augen. »Keine Ahnung. Wenn du meinst.«

»Doch, ist er. Und mit seiner Karriere läuft es anscheinend auch nicht schlecht, sonst würde er ja nicht in die Kanzlei mit einsteigen, obwohl er noch keine vierzig ist. Er ist ziemlich lustig, und er steht auf gefährliche Sportarten. Ihr zwei habt also was gemeinsam.«

»Sam, er hat vor vier Jahren einmal zusammen mit jemandem einen Fallschirmsprung gemacht«, protestierte David. »Nicht gerade Evel Knievel.« Amüsiert sah ich David an, und sein Mund formte ein »Sorry«.

»Also, wie wär’s?«, drängte Samantha.

Ich schüttelte den Kopf und drehte an meinem Ehering. »Kommt nicht in Frage.«

»Kate ... wie lange ist das jetzt her – über ein Jahr?«

»Heute auf den Tag ein Jahr, um genau zu sein.«

»Und den Ehering trägst du immer noch«, sagte sie. Die Tatsache, dass sich Charlies Todestag heute jährte, wie ich gerade erwähnt hatte, schien sie gar nicht registriert zu haben. »Du hast noch nicht mal einen anderen Mann angesehen.«

Ich bemerkte, wie David auf der anderen Tischseite warnend den Kopf schüttelte.

»Ich bin verheiratet, Samantha«, sagte ich.

»Aber was hast du denn vor, willst du etwa den Rest deines Lebens nie wieder eine Beziehung haben?«

Ich starrte sie an. »Ich bin verheiratet

Ein Schweigen folgte, und dann begann David, den Tisch abzuräumen. »Als Nachtisch gibt es einen Schokoladenkuchen«, sagte er. »Und dazu Eis von Ben und Jerry’s. Wie wär’s, wenn du die Fotos holst, Sam, und wir lenken Kate mit dem Nachtisch ab, während wir sie zwingen, unsere langweiligen Urlaubsbilder anzusehen?«

Die Fotos hatten alle das Standardformat 13 x 18 und schwankten in der Qualität, je nachdem, ob David oder Samantha sie gemacht hatte. Ihre waren alle sehr scharf und nett kadriert. Seine waren geradezu lächerlich, fast alle waren aus einem schlechten Winkel aufgenommen oder bestanden zum Großteil aus seinem Daumen. Mein Lieblingsfoto zeigte Samantha im Sea World neben einem Delfin. Man sah den ganzen Delfin – genau genommen sah man noch mehr als einen Meter links von ihm –, aber Samantha war nur zur Hälfte drauf, und zwar genau zur Hälfte.

»Ich versuche, es nicht persönlich zu nehmen«, sagte Samantha, als sie es mir reichte. Ich biss mir auf die Unterlippe, um nicht zu lachen, denn ich wusste, dass David empfindlich war, was seine Unfähigkeit in Sachen Fotografieren anging. Ich reichte ihm das Foto weiter, und er sortierte es sorgfältig in der richtigen Reihenfolge mit den schon angesehenen ein.

»Und da sind wir in dem tollen Restaurant in South Beach, wo wir am letzten Abend der Reise gegessen haben«, sagte Samantha und reichte mir ein Foto von einer türkis gestrichenen Hausfront, die mit bunten Lichtern behängt war. »Es wird von einer Familie geführt, die in den sechziger Jahren aus Kuba geflohen ist. Anscheinend haben sie es schon eine ganze Weile, und bei den Einheimischen ist es sehr beliebt. Es heißt El Cangrejo Dorado – die Goldene Krabbe.« Noch ein Foto von der türkisblauen Mauer; dieses Mal stand Samantha in einem Sarong und einem weißen Shirt davor und deutete lachend auf das Schild, auf dem El Cangrejo Dorado stand, obwohl nur die Buchstaben El Cangrej auf dem Foto zu sehen waren. Wieder biss ich mir auf die Lippe.

»Drinnen war es echt nett«, sagte sie. »Die Säulen sind mit Jasmin umrankt, und es duftet himmlisch. Wir haben da wirklich tolle Meeresfrüchte gegessen – und die besten Mojitos unseres Lebens getrunken.«

Sie reichte mir ein anderes Foto, das vielleicht einer der Kellner gemacht hatte, denn darauf waren Samantha und David an ihrem Tisch zu sehen. Sie hatten die Köpfe zusammengesteckt und grinsten in die Kamera. Ich suchte den Rest des Fotos nach den jasminumrankten Säulen ab, und was ich sah, ließ die Zeit stillstehen.

»Der Kellner hat das Foto gemacht«, erklärte Samantha gerade. Ich dachte, mein Herz hätte aufgehört zu schlagen. Ich atmete nicht. Sie redeten weiter und bewegten sich um mich herum, während ich wie gebannt dasaß und das Foto anstarrte.

»Das ist er«, wollte ich sagen, aber mir fehlte die Luft, um es auszusprechen. Samantha versuchte, mir das nächste Foto zu reichen. David hatte meinen Gesichtsausdruck bemerkt und fragte, ob mit mir alles in Ordnung sei. Es gelang mir, nach Luft zu schnappen, und ich spürte, wie mein Herz einen Hüpfer machte und weiterschlug.

»Das ist er«, sagte ich laut und sah auf den Mann im Hintergrund des Fotos, das vertraute dunkle Haar, die vertrauten blauen Augen, das vertraute Lächeln.

»Das ist Charlie.«