»Dieser Typ?«, fragte ich hastig und deutete auf Charlie.
»Nein, dessen Name kenne ich nicht. Aber der Typ auf der anderen Tischseite, das ist Alejandro, einer unserer Stammgäste.«
Ich übersah den drohenden Blick geflissentlich, den der Besitzer in seine Richtung schickte, und fragte den Kellner, wo ich diesen Alejandro finden könne.
»Der hat ein Möbelgeschäft in Little Havana«, erklärte er und schrieb mir die Adresse auf die Rückseite eines der Ausdrucke. »Ich muss mich dann mal an die Arbeit machen«, sagte er schließlich. »Die Gäste werden bald eintrudeln. Wollen Sie auch hier essen?«
»Ich befürchte, nein«, antwortete ich und schenkte dem Besitzer ein liebenswürdiges Lächeln.
»Pech für Sie«, sagte der Kellner, bereits auf dem Weg zum hinteren Teil des Restaurants und zur Küche. »Wir haben nämlich die besten Krabben in ganz Miami. Hasta luego!«
Wir blieben allein mit dem Besitzer zurück, der die Achseln zuckte, als ich ihn ansah.
»Offenbar ein Stammgast«, sagte ich.
»Sie haben nicht gefragt, ob ich Alejandro kenne«, verteidigte er sich.
»Haarspalterei.«
»Ich denke, Sie gehen jetzt besser.«
Als wir wieder auf dem Ocean Drive waren, drehte ich mich zu Luke um. »Was ist los?«, fragte ich.
Er sah mich stirnrunzelnd an, ging aber weiter. »Was meinst du damit?«
»Du hast die ganze Zeit kein Wort gesagt. Ein bisschen Testosteron zum Einschüchtern hätte uns vielleicht weitergeholfen.«
»Ich dachte mir, ich warte erst mal ab, wie weit du mit der sanften Frauentour kommst, bevor ich mich einmische. Mir war nicht klar, dass du so direkt vorgehen würdest.«
»Wie gut, dass dieser Kellner genau in dem Moment aufgetaucht ist, sonst hätten wir nämlich nada.«
Luke nickte. »Ja, wie gut. Wenn wir dem nicht über den Weg gelaufen wären, hättest du nicht so viel Spanisch gelernt.«
»Hablo mucho español, vielen Dank«, versicherte ich ihm. »Du scheinst nicht gerade aus dem Häuschen zu sein.«
Er schob sich entschlossen die Sonnenbrille vor die Augen. »Weshalb sollte ich aus dem Häuschen sein? Das Ganze bringt überhaupt nichts, und am Ende leidest du einmal mehr an gebrochenem Herzen.«
Little Havana lag auf dem Festland, in der Nähe von Downtown Miami. Dort waren in den Sechzigern eine Menge Flüchtlinge aus Kuba gelandet, nachdem Castro an die Macht gekommen war, und sie hatten versucht, ihr eigenes kleines Kuba auf den Straßen von Miami zu errichten. Die Gegend war ruhig, mit ordentlichen Häusern und bunten Ladenfronten, die alle spanische Namen trugen. Von den wenigen Bewohnern, die wir sahen, bestand ein Großteil aus älteren Männern, die vor den Kaffeehäusern Domino spielten. Wir kamen an Einkaufszentren, Floristen, Autohändlern und Hotels vorbei, die aussahen, als steckten sie in einer Zeitschleife aus den Fünfzigern fest.
»Was ist das für ein Geruch?«, fragte ich und sog den schweren Duft ein.
»Tabak«, erklärte Luke. »Hier gibt es eine Menge Fabriken, in denen Zigarren gerollt werden. Aber wie oft soll ich dir noch sagen, dass die Klimaanlage nicht funktioniert, solange das Fenster offen ist?«
Wir fuhren durch das Latin Quarter, wo die Straßen von Olivenbäumen gesäumt waren. Die Gebäude hier schienen in einem wesentlich besseren Zustand zu sein; sie hatten weißen Stuck an den Wänden und rote Ziegeldächer. Alejandros Möbelgeschäft – Muebles d‘Alejandro – war in einem dieser Gebäude untergebracht. Seine Ledersofas und Holztische waren in den Fenstern ausgestellt.
Wir hielten davor.
»Willst du, dass ich hier die Machonummer abziehe, von der du vorhin gesprochen hast, oder willst du es erst mit Flirten versuchen?«, fragte Luke.
»Ich bin mir nicht sicher, ob Flirten zu mir passt«, entgegnete ich. »Aber ich kann es ja mal probieren, wenn du willst.«
Alejandro persönlich – ich erkannte ihn vom Foto wieder – kam uns aus dem Hintergrund des Geschäfts entgegen, um uns zu begrüßen.
»Buenas tardes! Cómo está?«, fragte er.
»Bien, gracias. Y usted?«
»Muy bien. Inglésa?«
»Sí.«
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte er, nun auf Englisch und mit starkem Akzent.
»Ich fürchte, wir sind nicht als Kunden gekommen«, sagte ich. »Wir müssen einen Freund von uns wiederfinden, und einer der Kellner im Cangrejo Dorado hat uns gesagt, dass Sie vor einer Woche dort mit ihm zu Abend gegessen haben.«
»Wirklich?«, fragte Alejandro und glättete seinen Schnauzbart, der seltsamerweise so gestutzt war, dass er an zwei Blutegel erinnerte, die sich an seiner Oberlippe festgebissen hatten. »Können Sie mir mehr über diesen Freund erzählen? Ich esse nämlich ständig im Cangrejo und fast nie allein.«
Ich reichte ihm das Bild von Charlie. Er betrachtete es und nickte entschieden.
»Ja, mit dem habe ich letzten Donnerstag gegessen. Er ist ein Freund von Bruno. Wie hieß er doch gleich ...«
»Charlie«, half ich nach.
Er sah mich befremdet an. »Nein, nein, ich bin sicher, nicht Charlie.«
»Etwas Ähnliches vielleicht?«
Er dachte angestrengt nach und strich über die Blutegel. »Joe. Ich bin ziemlich sicher, dass dieser Kerl Joe hieß.«
Am liebsten hätte ich mich auf eines von Alejandros schweren Ledersofas sinken lassen. »Haben Sie während des Essens viel mit ihm gesprochen?«
»Nicht wirklich – wir waren an den entgegengesetzten Enden des Tisches. Schien aber ein netter Typ zu sein. Ist etwas mit ihm?«
»Nein, nichts Wichtiges. Wir haben nur eine Neuigkeit für ihn, von der er wissen sollte.«
»Na ja, er und Bruno schienen gut miteinander befreundet zu sein. Wenn ich mich recht erinnere, sagte Bruno, Joe sei ein Freund von ganz früher. Es gab eine Menge Anspielungen, eine Menge Geschichten von früher.«
»Als hätten sie sich eine ganze Weile nicht gesehen?«, hakte ich nach.
»Möglicherweise. Ich bin sicher, Bruno kann Ihnen mehr sagen.«
»Können Sie uns sagen, wo wir diesen Bruno finden?«
Alejandro musterte Luke und mich von oben bis unten. So wie Luke gekleidet war und wie er beiläufig im Türrahmen lehnte, hätte man ihn gut für einen Polizisten in Zivil halten können. Wie schade, dass ich diesen Eindruck mit meinem ungeschminkten Gesicht und der zerknitterten Jeans zunichtemachte.
»Wenn Sie mit dem Gentleman befreundet sind«, fragte Alejandro, »wieso kannten Sie dann seinen Namen nicht?«
Ich war nicht sicher, was ich darauf erwidern sollte, weshalb ich Alejandro nur ratlos ansah. Luke trat näher.
»Um ehrlich zu sein, er hat etwas von einem Spieler. Ein netter Junge, aber wenn er ihm gelegen kommt, benutzt er den ein oder anderen Decknamen, falls Sie verstehen, was ich meine.«
Alejandro nickte bedächtig. »Hört sich nach einem guten Mann an. Ich kann verstehen, warum Sie angeblich mit ihm befreundet sind ...« Es gefiel mir gar nicht, meinen Ehemann zu verleumden, auch wenn diese Lüge notwendig geworden war, weil ich zu schnell mit Charlies Namen herausgeplatzt war.
»Wir sind mit ihm aufgewachsen«, erklärte Luke. »Wir versuchen, ihn auf den richtigen Weg zurückzuholen, aber das ist ganz schön schwer, wenn man ihn nicht findet.«
Der Besitzer des Möbelgeschäfts schien ein Einsehen mit uns zu haben. »In Ordnung, ich suche Ihnen Brunos Adresse raus. Ich hab sie bestimmt in meinem Blackberry. Bitte warten Sie kurz.«
Wir warteten schweigend im Ausstellungsraum und bewunderten die kunstvoll geschnitzten Spiegelrahmen und handgefertigten Ledersessel. Ich biss in meinen Daumennagel, weil ich nicht darüber nachdenken wollte, dass der Mann, nach dem wir suchten, nicht den Namen meines Mannes trug.
Ich wollte natürlich sofort zu Brunos Haus in Coral Gables fahren, doch Luke bestand auf einem Mittagessen. »Es ist schon zwei, und ich bin am Verhungern«, sagte er. »Außerdem bist du vermutlich noch nie in den Genuss der kubanischen Kochkunst gekommen.«
Wir fanden einen freien Tisch in einem Restaurant in der Calle Ocho und bestellten Schweinebraten, Palomilla-Steaks, Kochbananen und Paella für zwei. Das Ganze war eine komische Kombination, aber Luke bestand darauf, dass ich alle seine Lieblingsgerichte probierte.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte er nach einer Weile. »Du bist so still.«
Ich schob den Reis mit der Gabel auf dem Teller herum. »Mmm«, machte ich.
»Liegt es daran, dass Mr Muebles meinte, der Name des Kerls sei Joe? Jetzt fragst du dich allmählich doch, ob du fast einen halben Monatslohn für einen Flug hierher zum Fenster rausgeworfen hast, nur um irgendeinen Joe aus irgendeinem Kaff aufzuspüren, oder?«
Ich schob den Stuhl zurück und stand auf. »Ich muss mal.«
Ich ging auf die Toilette, obwohl ich nicht wirklich musste, und wusch mir die Hände mit lauwarmem Wasser. Die Fliesen rund um den Spiegel waren stumpf und gesprungen, und der Spiegel selbst war mit den Jahren angelaufen. Unter den Eisenschrauben in den Ecken war er rostig.
Ich starrte mein Spiegelbild an. Meine Augen waren normalerweise hellgrau, aber heute schienen sie trüb und unscharf zu sein. Ausgelaugt lehnte ich mich näher und näher, bis meine Stirn die kühle Fläche berührte. Die Innenseiten meiner Arme juckten unter den Ärmeln, und ich kratzte sie sanft mit den Fingernägeln. Ich schloss die Augen und dachte an Charlie.
Wie er mich nach dem Bungee-Sprung an diesem Schwimmbecken umarmt und sich über meine Ausgelassenheit gefreut hatte.
»Geh mit mir essen«, sagt er. Ich befreie mich aus seiner Umarmung und sehe an meinem tropfenden T-Shirt hinunter.
»Wo?«, frage ich. »Kennst du ein Restaurant, in dem abends Wettbewerbe stattfinden, wer das schönste feuchte T-Shirt hat?«
»Ich wüsste keines, aber das ist eine super Geschäftsidee«, entgegnet er lächelnd. »Komm schon, vertrau mir.«
»Kann ich mich erst noch umziehen?«, frage ich.
»Nein. Und mach dir keine Sorgen um den Dresscode.«
Es gelingt uns, ein Taxi zu ergattern, dessen Fahrer nicht zu bemerken scheint, dass die Rückbank ziemlich nass wird. Charlie nennt ihm eine Adresse, die ich nicht kenne. Mir wird bewusst, dass ich einen anderen Mann so etwas nie machen lassen würde. Bereits jetzt vertraue ich ihm blind.
Wir fahren eine ganze Weile und verlassen Las Vegas in Richtung Wüste. Irgendwann wird der Fahrer langsamer und biegt von der Straße ab. Da ist ein kleiner Imbiss, neben einer Tankstelle. Das einzige Dekor, mit dem dieses Etablissement auftrumpfen kann, ist ein Neonlicht, ein Teller mit Spaghetti und eine bewegliche Gabel, die ein paar Nudeln anhebt.
Charlie zahlt das Taxi, das wieder in die Richtung verschwindet, aus der wir gekommen sind.
»Und, warum sind wir hier?«, frage ich sanft. Charlie nimmt mich bei den Schultern und dreht mich um. Am Horizont ist ein Nebel aus Licht und Farbe zu sehen, der in der Dunkelheit glüht. Ich kann den grünen Schimmer des MGM Grand erkennen, die glänzenden, goldenen Fenster des Mandalay Bay und den Laserstrahl, der aus der Pyramidenspitze des Luxor ins All schießt. Dazwischen blinken die Millionen Lichter der Vororte von Las Vegas und darüber die Sterne am klaren Nachthimmel.
»Wunderschön, nicht?«, sage ich. Charlie legt von hinten die Arme um mich und stützt das Kinn auf meine Schulter. Wir stehen da und betrachten die Wüste mit dieser Oase der Farben im Hintergrund. Ich kann seinen Atem an meinem Ohr spüren, und die Berührung unserer Körper erregt mich.
»Ist dir kalt?«, fragt er mich. In Vegas war das nasse T-Shirt wegen der Hitze ganz angenehm; hier draußen in der Wüste fange ich leicht an zu zittern. Er richtet sich auf, zieht sein Hemd aus und reicht es mir. Ich wünschte, er trüge nichts darunter, doch er hat ein enges weißes T-Shirt an, das die Rundungen der Muskeln an seinen Armen und Schultern zur Geltung bringt.
Es hat wenig Sinn, das trockene Hemd über mein feuchtes T-Shirt zu ziehen, also streife ich Letzteres ab, wobei ich ihn unverwandt ansehe. Ich stehe in nichts als meinem BH und der Jeans vor ihm, doch er lächelt mich weiter an, ohne den Blickkontakt abzubrechen. Als wollte er damit sagen, dass mein Körper nicht von Bedeutung ist; er ist nicht entscheidend. Aber es wirkt nicht asexuell oder wie bei einem Gentleman, denn er sieht mich an, als würde er mich in Gedanken bereits in den Sand werfen und mir die restlichen Kleider vom Leib reißen. In der Wüstenluft knistert es elektrisch.
Ich schlüpfe in sein Hemd und knöpfe es langsam zu. Ich kann seinen Geruch am Kragen wahrnehmen. Er hält mir eine Hand hin.
»Komm«, sagt er. »Lass uns essen.«
Die Tür zur Damentoilette flog auf, und der Griff knallte gegen die Wand. Ich fuhr aus meiner Träumerei auf und nahm die Stirn vom Spiegel, an dem ein kleiner Fleck zu sehen war.
»Está mareada?«, fragte ein kleine, alte Kubanerin, die nur etwa einen Meter zwanzig groß zu sein schien.
»Nein«, sagte ich. »Soy bien, gracias.«
Luke saß an unserem Tisch und sprach in sein Handy. Er sah mich kommen und legte auf.
»Was Wichtiges?«, fragte ich.
Er schüttelte den Kopf. »Hab nur meine Mailbox abgehört.«
»Oh. Ich dachte, ich hätte dich sprechen sehen.«
Er blickte mich schief grinsend von der Seite an. »Ich hab meine Ansage geändert. Alles klar bei dir?«
Ich sah von einem blassblauen Auge zum anderen. »Alles klar.«
»Du warst ganz schön lange da drin. Hast du etwa schon eine Lebensmittelvergiftung?«
»Nein, du Blödmann. Hab nur eine Runde mit den Einheimischen geschwatzt.« Ich bemerkte die kleine Kaffeetasse vor mir. »Espresso?«, fragte ich.
»Was in der Art«, erwiderte Luke. »Probier’s.«
Vorsichtig nahm ich einen Schluck. Der Kaffee schien halb Koffein, halb Zucker zu sein und fuhr wie ein Blitz in mein Gehirn.
»Wow«, sagte ich.
»Kein Koks und kein Speed nötig, wenn du einen Café Cubano zur Hand hast«, erklärte Luke mir augenzwinkernd.
»Offensichtlich nicht.« Ich kippte den Rest des Fingerhuts, griff nach der Rechnung, legte ein paar Zwanzig-Dollar-Scheine darauf, beschwerte das Ganze mit dem Pfefferstreuer und sagte: »Diesmal zahle ich.«
»Bereit zum Aufbruch?«
Coral Gables lag nur ein paar Straßenzüge von Little Havana entfernt. Prächtige Tore öffneten sich auf ruhige Straßen, die fast mediterran anmuteten. Die Gegend war üppig grün, und vor jedem der Häuser im Kolonialstil erstreckte sich sorgfältig gepflegter Rasen.
Wir kamen an einem Gärtner vorbei, der einen Strauch in Form einer Schachfigur stutzte.
»Ganz schön protzig«, bemerkte ich.
»Du solltest mal die Gärten auf der anderen Seite der Häuser sehen. Da ankert bei der Hälfte unten eine fette Motoryacht.«
Ich warf einen weiteren Blick auf die Karte, während wir langsam dahinkrochen. »Wo zum Teufel sind wir? Ich kann keinen einzigen dieser verdammten Straßennamen lesen.« Ob nun aus unangebrachter Begeisterung für Ästhetik oder doch eher aus dem Wunsch heraus, die Gegend für niedere Eindringlinge verwirrender zu gestalten: Die Straßennamen standen jedenfalls auf winzigen weißen Steinbrocken dicht über der Erde. »Deine Mietwagenwahl ist hier eher ein Nachteil.«
Luke hing fast mit der Hälfte des Körpers aus dem Wagenfenster. »Savona«, las er auf einem Steinblock.
»Dann musst du am Ende der Straße links abbiegen.«
Brunos mit Terrakottaziegeln gedecktes Haus war riesig und ragte über dem breiten Rasen und der geschwungenen Auffahrt in die Höhe. Auf der Terrasse neben dem Eingang schoss eine Fontäne empor, die auch gut auf die Plaza España in Sevilla gepasst hätte.
»Nett«, sagte ich und stieg aus dem Auto.
»Sehr nett«, stimmte Luke zu.
»Man könnte fast meinen, dieser Bruno sei steinreich, hm?«
Eine schwarze Frau im grauen Kleid einer Hausangestellten tauchte im Türrahmen auf. Das Haar trug sie in einem strengen Dutt.
»Sie sind hier, um Mister Luna zu sehen?«, fragte sie mit einem Akzent, der halb französisch, halb ostafrikanisch klang. »Er erwartet Sie.«
Wir schlugen die Autotüren zu und folgten ihr durch ein Haus mit dunklen Holzmöbeln, gefliesten Böden und geschlossenen Fensterläden. Bruno Luna saß in seinem weitläufigen Garten in einem Meer aus kurz geschnittenem, tiefgrünem Gras. Von dem Rankgitter neben ihm hingen Hibiskusblüten herab. Er war etwa fünfundvierzig, gebräunt und stämmig, und er rauchte eine fette Zigarre.
Er stand auf und musterte uns aus Augen, die im Schatten der Krempe seines Panamahutes lagen. Dann grinste er breit. »Alejandro hat angerufen, um mir zu sagen, dass Sie vorbeikommen würden.«
Luke streckte die Hand aus. »Luke Broussard«, sagte er. »Und das ist Kate Grey.«
Ich schüttelte Bruno Lunas Rechte. Der feuchte Stumpen seiner Zigarre drückte gegen meine Hand.
»Entschuldigen Sie unser Eindringen«, sagte ich. »Wir würden Sie nicht stören, wenn es nicht wichtig wäre.«
»Bitte«, sagte er. »Setzen Sie sich doch. Möchten Sie etwas trinken? Einen Kaffee vielleicht?«
»Das ist sehr freundlich«, erwiderte ich, »aber ich glaube, ich hatte genug Koffein, um für einige Jahre wach zu bleiben.«
Er lachte heiser. »Ah, dann haben Sie wohl das kubanische Zeugs probiert, was? Möchten Sie vielleicht lieber etwas Kaltes? Eine Limonade?«
»Das wäre schön, danke.«
»Und Sie, Mr Broussard?«, fragte er Luke.
»Klingt gut.«
Bruno schickte das Hausmädchen weg, um drei Limonaden zu holen, und setzte sich wieder auf seinen Stuhl. Wir nahmen auf den ziemlich unbequemen Gartenstühlen aus verschnörkeltem Eisen Platz. Er betrachtete uns und sog an seiner Zigarre.
»Mein Freund Alejandro hat mir erzählt, Sie seien auf der Suche nach Joe«, sagte er.
»Wenn Joe der Mann auf diesem Foto ist«, erwiderte ich und legte den Ausdruck des Fotos aus dem Cangrejo Dorado auf den Gartentisch. Er zog es näher heran und nickte.
»Das ist Joe. Darf ich fragen, warum Sie nach ihm suchen – und warum Sie Alejandro gesagt haben, der Name Joe sei nur ein Deckname? Ich schätze es nicht, wenn jemand schlecht über meine Freunde redet.«
Er war nicht begeistert, und mir wurde allmählich klar, dass seine zuvorkommende Begrüßung vielleicht nur dazu da war, uns zu überrumpeln.
»Der Mann auf dem Foto sieht meinem Ehemann zum Verwechseln ähnlich«, erklärte ich Bruno. »Ich hatte gehofft, Sie könnten uns mehr über ihn erzählen.«
»Was, denken Sie etwa, Joe führt ein Doppelleben?«, lachte Bruno und stieß Wolken von Zigarrenrauch aus. »Glauben Sie mir, das ist höchst unwahrscheinlich.«
»Wieso?«, hakte ich nach.
»Joes Frau und Kinder würden vermutlich etwas merken, wenn er für längere Zeiträume verschwinden würde. Er arbeitet schließlich nicht auf einer Ölplattform oder so was – er ist im Baugewerbe, arbeitet von acht Uhr morgens bis zum Einbruch der Nacht. Ich glaube, die wenigen Tage, die er hier war, waren so ziemlich der erste Urlaub, den er sich seit drei Jahren gegönnt hat – abgesehen von Weihnachten natürlich.«
Luke übernahm. »Ist Joe noch hier?«
»Nein. Er ist vorgestern nach Phoenix zurückgekehrt. Seine Frau ist hochschwanger, und er wollte es nicht riskieren, zu lange wegzubleiben.«
Luke griff sich eines meiner geliebten Fotoalben von meinem Schoß und reichte es Bruno Luna.
»Ist das Joe?«, fragte er.
Das Hausmädchen kam mit unseren Getränken und stellte sie vor uns ab. Sie schob den Ausdruck beiseite, damit genug Platz für die gekühlten Gläser war. Ich beobachtete ihren Arbeitgeber, während er die Fotos von Charlie genau betrachtete. Seine Kehlkopf wölbte sich unter dem stoppeligen Kinn. Er gluckste.
»Da ist eine große Ähnlichkeit«, gab er zu. »Sehr groß sogar. Die beiden könnten Brüder sein. Aber nein, das ist nicht Joe.«
Er sah mich an und bemerkte, dass ich zitterte. »Entschuldigen Sie meine Bemerkung, Kate, aber Sie scheinen nicht besonders erleichtert darüber zu sein, dass Ihr Mann doch kein Doppelleben führt.«
»Mein Mann ist vor einem Jahr gestorben«, sagte ich und umklammerte die Armlehnen, damit meine Hände aufhörten zu zittern. »Er ist ertrunken.«
Bruno sah noch verwirrter aus. »Das verstehe ich nicht. Hat man seine Leiche nicht gefunden?«
»Doch, hat man«, erwiderte ich. »Er wurde identifiziert. Ich wollte ... einfach sicher sein.«
Er nickte, runzelte aber die Stirn, als könne er nicht verstehen, warum ich gekommen war. »Das tut mir sehr leid für Sie.«
»Vielen Dank, dass Sie uns empfangen haben«, sagte Luke, nachdem er mir einen Blick zugeworfen und gesehen hatte, in was für einem Zustand ich mich befand. »Ich glaube, die Limonade trinken wir besser ein andermal.«
»Wie heißt Joe mit Nachnamen?«, fragte ich Bruno mit heiserer Stimme, denn ich stand kurz davor zu weinen.
»Cantelli«, sagte er ernst.
»Nicht Benson?«
»Nein, Kate. Nicht Benson.«
»Hat er Verwandte?«
»Natürlich. Aber Joe stammt aus einer italienischstämmigen Familie, da hat keiner einen Nachnamen wie ›Benson‹. Warum? Würde sich etwas ändern, wenn er ein Verwandter Ihres Mannes wäre? Er ähnelt ihm, sicher, aber er gäbe keinen guten Ersatz ab. Er hat bereits eine Frau und Kinder.«
»Deshalb frage ich nicht«, sagte ich ruhig. »Mir ... mir ist nur nicht viel von ihm geblieben. Seine Eltern sind tot, und er hatte weder Brüder noch Schwestern. Manchmal kommt es mir vor, als würde er mir entgleiten, aber wenn da vielleicht ein Verwandter wäre, jemand, der wie er aussieht, der seine Eigenheiten hat ... dann würde das helfen, ihn für eine Weile zurückzubringen.«
Jetzt war es vorbei mit Bruno Lunas Mitleid. Er drückte seine Zigarre aus, ohne mich anzusehen. »Ich bin sicher, dass die Ähnlichkeit reiner Zufall ist und nicht genetisch bedingt. Ich kenne Joe seit langem und habe auch seine Familie häufig getroffen. Ich bin überzeugt, dass Sie bei einem persönlichen Treffen mit Joe entdecken würden, wie groß die Ähnlichkeit auf dem Papier ist, dass aber seine Art ganz anders sein würde. Schlagen Sie sich Joe Cantelli aus dem Kopf und sehen Sie zu, dass Ihr Leben weitergeht.«
Ich wischte mir die Tränen aus den Augenwinkeln, bevor sie fließen konnten, und nahm dann mein Fotoalbum wieder an mich.
»Danke für Ihre Zeit«, sagte ich bitter, stand auf und ging in Richtung Haus. Luke folgte mir nicht; zweifelsohne glättete er die Wogen nach meinem etwas abrupten Abschied.
In dem dunklen Flur hingen gerahmte Familienporträts, und ihr Lächeln schien unerträglich selbstgefällig zu sein, als ich an ihnen vorbeiging und über meine zerstörten Träume nachsann.
»Miz Grey?«, sagte eine Frauenstimme hinter mir. Es war das Hausmädchen, das zögernd auf der Treppe stand. Nervös blickte sie in die Richtung, aus der ich gekommen war, und bedeutete mir, näher zu treten. »Sind Sie auf der Suche nach dem Mann von dem Foto?«
Ich schlug das Album auf und deutete auf ein Foto von Charlie. »Ja, nach diesem Mann hier.«
Sie tippte mit dem Finger auf das Bild, und ihre schwarzen Augen zogen sich zusammen. »Ja, den Mann habe ich gesehen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Laut Ihrem Boss nicht. Laut ihm hatten Sie nur einen Gast, der wie er aussieht.«
Sie schnaubte durch die Nase. »Er erzählt Lügen. Dieser Mann ist ein Lügner durch und durch. Treffen Sie sich heute Abend mit mir, dann erzähle ich Ihnen die Wahrheit.« Sie hielt ein Stück Papier in der Hand, das sie in die Brusttasche meines Shirts steckte. »Sagen Sie Ihrem Freund nichts.«
Wir hörten Lukes Schritte im Flur, und das Hausmädchen tat, als sei sie gerade die Treppe heruntergekommen.
»Danke für Ihr Kommen«, sagte sie und schob uns zur Tür hinaus. »Passez une bonne journée.«