KAPITEL 6

Charlie war es nur gelungen, zwei Wochen von seiner Arbeit fortzukommen, indem er Gefälligkeiten einforderte und rund um die Uhr arbeitete, um seinen Anteil am aktuellen Projekt abzuschließen, und er war völlig erschöpft. Ich saß neben ihm im Flugzeug und lauschte seinem niedlichen Schnarchen.

Kurz bevor der Kapitän den Landeanflug ankündigte, ließ etwas Charlie aus dem Schlaf hochschrecken. Verwirrt sah er sich um und kniff die Augen zusammen, als er mich ertappte, wie ich kicherte.

»Ich komme mir vor wie neben einem Warzenschwein«, erklärte ich ihm. »Ernsthaft. Ich wusste gar nicht, dass man Tiere mit in den Flieger nehmen darf. Ich dachte immer, die müssten in den Frachtraum.«

Er stieß mir in die Rippen. »Das sagt ja die Richtige. Ich höre mich wenigstens nicht an wie ein Öltanker. Mich rufen die Seismologen nicht an, wenn sie mal wieder eine Neun auf der Richterskala haben und sichergehen wollen, dass ich wach bin, um ihre Messungen nicht zu beeinflussen.«

Wir nahmen uns einen Mietwagen, und ich überließ Charlie das Steuer, da er langjährige Übung darin hatte, auf der falschen Straßenseite zu fahren. In Sizilien war es heiß, obwohl sich der Sommer bereits dem Ende zuneigte, doch über den Hügeln hingen auch große weiße Wolken.

»Es ist viel grüner hier, als ich dachte«, sagte Charlie.

»Geht mir genauso. Ich dachte, es wäre alles viel verdorrter, eher so wie in Südspanien.« Die Hügel waren dicht mit Gras und Pappeln bewachsen. »Vielleicht haben wir beide einfach zu oft Der Pate gesehen.« Als Michael Corleone nach Sizilien kommt, ist dort alles ganz staubig und trocken.

Charlie machte gekonnt einen auf Al Pacino. »Aber dann würde Ihre Tochter den Vater verlieren«, sagte er, »statt einen Ehemann zu bekommen.«

Der einzige Spruch von Al Pacino, den ich mehr schlecht als recht nachmachen konnte, stammte aus Scarface. »Auf euch wartet meine kleine Freundin«, sagte ich grinsend zu Charlie.

»Wenn wir im Hotel sind, wartet mein kleiner Freund auf dich«, versicherte er mir und tätschelte mein Knie. Ich hatte eine kurze Hose an, und seine Handfläche fühlte sich heiß an auf meiner Haut.

Das Hotel lag am Rand von Cefalù, umgeben von einer großen Gartenanlage. Man musste auf die Klingel drücken, um von der Rezeption aus eingelassen zu werden. Die Anlage war hügelig, überzogen von Fußwegen und blühendem Hibiskus, und von dem Infinity-Pool neben der Außenbar reichte der Blick über die am Hang darunter liegenden Apartments bis hin zum Meer. Es war wunderschön, und ich drückte vor Freude Charlies Arm.

Am Empfang erhielten wir die Schlüssel zu unserem Apartment, zusammen mit einer Karte der Anlage.

»Hey, da gibt’s ja einen abgefahrenen Golfplatz«, sagte Charlie glücklich und deutete auf die Karte.

»Du freust dich über die komischsten Sachen«, erwiderte ich, aber ich musste lächeln.

Das Apartment war sauber und komfortabel. Von der Terrasse aus hatte man einen schönen Blick auf einen Zitronenhain, der an den hoteleigenen Strand grenzte. Wir packten schnell aus, da wir noch ein oder zwei Stunden am Pool verbringen wollten, bevor es Abend wurde. Charlie war zuerst fertig und wartete ungeduldig mit Badehose und Handtuch, während ich meine Sachen in eine Badetasche stopfte.

»Wir wollen nicht an den Nordpol, Kate. Zieh einfach deinen Bikini an und schnapp dir ein Handtuch, dann können wir los.«

»Vielleicht kriegen wir Durst«, gab ich zu bedenken. »Und sollten wir nicht was zum Lesen mitnehmen?«

Er zog mich an sich und fing an, meine Bluse aufzuknöpfen. Dann machte er meinen BH auf.

»Willst du vielleicht eine Kleinigkeit zu essen?«, hakte ich nach. »Ich hab schon ein bisschen Hunger.«

Als Nächstes waren meine Shorts und die Unterhose dran. Charlie trat einen Schritt zurück und musterte meinen nackten Körper mit einem ironischen Grinsen.

»Denk nicht mal dran«, sagte ich. »Vor dreißig Sekunden hast du mir noch Vorwürfe gemacht, weil ich noch nicht auf dem Weg zur Tür war.«

»Ich weiß, ich weiß.« Er durchwühlte meine Schublade mit den Badesachen und warf mir einen blau-weiß gestreiften Bikini zu. »Wenn es darum geht, dich auszuziehen, bin ich gut. Aber das Anziehen überlasse ich lieber dir.«

Rasch zog ich den Bikini an. »Du weißt schon, dass man sich mindestens zwanzig Minuten, bevor man in die Sonne geht, eincremen sollte?«

Er beugte sich vor und warf mich über die Schulter. Als er zur Tür hinausging, tätschelte er meinen Hintern.

»Vergiss den Schlüssel nicht!«, rief ich vergebens, da die Tür bereits hinter uns ins Schloss fiel.

Das Hotel hatte ein schönes Restaurant mit Terrasse, wo wir ein spätes Abendessen zu uns nahmen, umgeben von schweren weißen Gardinen und dicken Kerzen. Wir lauschten den Wellen des Mittelmeers, die sich am Strand weit unter uns brachen. Charlie trug ein schwarzes Hemd, genau wie an dem Tag in Las Vegas, an dem ich ihn kennen gelernt hatte.

»Stell dir mal vor, schon zwei Jahre«, sagte ich sanft.

Er lächelte, während er unter dem Tisch meine Hand hielt. »Einerseits kommt es mir vor wie zwei Wochen. Andererseits wie ein ganzes Leben.« Mein Gesichtsausdruck ließ ihn lachen. »Ich meine das nicht negativ. Es kommt mir nur so vor, als wären wir schon immer zusammen. Wenn ich auf die Jahre zurückschaue, die ich ohne dich verbracht habe, erscheint es mir seltsam, dass ich nicht mit dir zusammen war. In meiner Erinnerung warte ich ständig darauf, dich zu treffen.«

»Das ist so ziemlich das Schmalzigste, was ich dich je habe sagen hören«, zog ich ihn auf.

Der Ober kam mit unserem Essen und fragte etwas auf Italienisch. Wir blickten beide verständnislos drein, und er gab auf und sagte einfach: »Risotto?«

Charlie hob die Hand. Der Ober reichte ihm sein Risotto mit Prosciutto und Parmesan, dann stellte er meine Pizza Quattro Formaggi vor mir ab. Der Wein kam in einer Glaskaraffe.

»Genau mein Ding«, sagte Charlie. »Vino in der Kanne.« Er schenkte mir ein Glas ein. »Und, wie findest du es hier?«

»Großartig. Sizilien ist wunderschön, und ich freue mich schon auf einen Stadtbummel.«

Er nickte. »Dir gefällt Italien, was?«

»Na klar!« Ich dachte an die Städte, die ich bereits besucht hatte, und sagte: »Venedig ist unglaublich. Florenz gefällt mir auch, und Rom ist einfach fantastisch. Wieso, gefällt’s dir nicht?«

Er zuckte die Achseln. »Das ist meine erste Reise hierher. Ich glaube zwar, dass meine Eltern mal mit mir in Italien waren, als ich noch ein Baby war, aber daran erinnere ich mich natürlich nicht.«

»Warum hast du es dann ausgewählt?« Charlie hatte die Anlage entdeckt und den Urlaub gebucht.

»Schon mal vom sizilianischen Madenkäse gehört?«

»Was?«

»Einer meiner Großonkel, der im Zweiten Weltkrieg in Europa stationiert war, hat mir davon erzählt. Man lässt den Käse draußen liegen, damit die Fliegen ihre Eier darin ablegen können. Und wenn die Maden geschlüpft sind, isst man den Käse. Eine Delikatesse. Eine nette Kombination aus Fleisch und Käse.«

»Bist du sicher, dass das nicht eher ein besonders fantasievolles Märchen deines Großonkels ist? Wie die Story von der Frau, die angeblich einen Finger in ihrem Grillhähnchen gefunden hat?«

»Das war ein genau dokumentierter Fall«, erklärte Charlie.

»Also hast du diesen Urlaub mit dem Vorsatz ausgesucht, einen Madenkäse aufzutreiben und zu essen?«

»Himmel, nein«, sagte er. »Na ja, ihn aufzutreiben geht ja noch. Du kannst dann das Essen übernehmen und mir erzählen, wie es war.«

Ich sah ihn an. »Ich liebe dich«, sagte ich.

Er grinste. »Ich liebe dich auch, Katie.«

Später kam der Ober, um unsere leeren Teller abzuräumen. »Dessert?«, fragte er mich.

»Sono piena«, verkündete ich in dem Versuch, ihm auf Italienisch zu sagen, dass ich satt war. Ich klopfte auf meinen Magen. Charlie prustete, und der Ober grinste mich an.

»?«, sagte er. »Congratulazioni

»Ich glaube, du hast ihm gerade erzählt, dass du schwanger bist«, sagte Charlie.

Der Ober ging zu seinen Kollegen zurück und berichtete dem Oberkellner von meiner höchst amüsanten Verwechslung. Leise lachend kam der Oberkellner herbei und versteckte theatralisch die Weinkaraffe vor mir. Er sprach ziemlich gut Englisch; Charlie fing an, mit ihm zu plaudern, und bevor ich mich versah, war das Restaurant geschlossen, und wir wurden an einen anderen Tisch zu den Bedienungen und ein paar Jungs aus der Küche gesetzt. Ich nannte das den »Charlie-Effekt«. Er freundete sich immer sofort mit allen an, egal wo wir waren.

Um Mitternacht hatte auch die Rezeptionistin aus und kam mit einer halbvollen Flasche Amaretto zu uns an den Tisch. Sie winkte mir grinsend damit zu.

»Ja, gern«, sagte ich, und sie setzte sich auf einen Stuhl neben mir.

»Wie heißen Sie?«, fragte sie.

»Sie heißt Katerina«, warf der Oberkellner, Gian-Luca, ein. »Und das ist Carlo.«

»Charlie«, korrigierte er ihn, fast schon im Befehlston.

»Und Sie?«, fragte ich und sah ihn stirnrunzelnd an.

Sie deutete auf ihr Namensschild. »Sofia.«

»Sofia ist aus Mailand«, sagte Gian-Luca. »Deshalb hat sie auch so einen komischen Akzent.«

Sie gab ihm auf Italienisch eine rüde Antwort und drehte ihren Stuhl so, dass sie mich ansah und ihm den Rücken zuwandte. Er grinste mich an und nahm das Gespräch mit Charlie und unserem Kellner wieder auf, wobei er sich als Übersetzer nützlich machte.

Sofia und ich wurden immer betrunkener, während wir über die größten Unterschiede zwischen italienischen und englischen Männern redeten (was die Amerikaner betraf, wollte ich lieber nicht auf mein Fachwissen pochen, da Charlie meine einzige Erfahrung in dieser Domäne war). Sie sah mich verständnislos an, als ich sie nach dem Madenkäse fragte (was Charlie später darauf schob, dass sie keine Einheimische war), schwärmte aber von einigen Städtchen und Kirchen in der Umgebung, die wir besuchen sollten. Außerdem schrieb sie mir den Namen eines Restaurants für Meeresspezialitäten auf eine Serviette.

»Was ist denn in dich gefahren?«, schimpfte Gian-Luca sie. »Warum schickst du sie in ein anderes Restaurant als unseres?«

»Du weißt genau, dass man dort den besten Fisch auf ganz Sizilien kriegt«, sagte Sofia zu ihm und stach spielerisch mit einem ihrer künstlichen Nägel auf ihn ein.

Gegen ein Uhr morgens spielten wir Karten und waren zu Whisky und Brandy übergegangen. Gegen zwei hatte unser Kellner uns sämtliches Bargeld abgeluchst, das wir dabeihatten, und wir kehrten in unser Zimmer zurück. Es fiel Charlie und mir schwer, den Weg zurück über die abschüssigen Wege der Anlage zu finden, denn sie waren viel zu steil für Leute, die so viel getrunken hatten wie wir. Charlie gab es auf zu gehen; er kniete nieder, um eine Rolle vorwärts zu machen, und ich musste mir den Mund zuhalten, damit mein Lachen nicht all die armen Leute weckte, die zu vernünftiger Stunde ins Bett gegangen waren.

Endlich waren wir wieder in unserem Apartment, das ein freundlicher Portier früher am Abend für uns aufgeschlossen hatte, nachdem wir uns ausgesperrt hatten. Ich trank einen halben Liter Wasser aus der Flasche im Kühlschrank und legte mich stöhnend aufs Bett. Charlie schaltete den Fernseher ein und zappte. Es gab keine englischen Sender, aber wir stießen auf eine italienisch synchronisierte Episode von Walker, Texas Ranger, die weit fesselnder war als alles, was ein englischer Kabelkanal hätte bieten können. Einer von Walkers indianischen Kumpeln hatte sich auf der Flucht vor einer tödlichen Auseinandersetzung in den Wäldern versteckt, und Walker schien ihn aufspüren zu wollen, indem er sich einen Stoffstreifen um den Kopf band, das Hemd auszog und irgendein komisches Kraut rauchte.

»Das Lustige an den Italienern ist«, sagte ich leicht lallend, »dass sie die Namen immer übersetzen wollen.«

»Was meinst du damit?«, fragte Charlie.

»Ich sag zu ihnen, dass ich Kate heiße, und sofort machen sie Katerina daraus. Du sagst zu ihnen, du heißt Charlie, und sofort bist du Carlo. Aber wenn wir in England einen Italiener treffen, würden wir nicht sagen: ›Dein Name ist Giovanni, aber wir nennen dich Johnny.‹ Gian-Luca würde nicht John-Luke genannt werden.«

Charlie beugte sich vor und drückte meinen großen Zeh, ohne den Blick von Chuck Norris abzuwenden, der gerade mit einem Kerl kickboxte, der aus einem Hubschrauber gesprungen war.

»Wir haben bei der Arbeit gerade einen neuen Auftragnehmer«, sagte er zu mir. »Er kommt aus Japan und heißt Takeshi. Weißt du, wie ihn alle im Team nennen? Tom.«

»Na gut«, sagte ich und gähnte. »Aber wehe, wenn du mich Katerina nennst. Dann zieh ich dir eins über.«

Am nächsten Morgen wachte ich vor Charlie auf. Ich drehte mich auf die Seite und beobachtete ihn beim Schlafen. Er sah so süß und sexy aus mit seinem verwuschelten Haar. Nach ein paar Minuten kratzte er sich an der Seite, rollte sich herum und kehrte mir den Rücken zu. Ich rutschte zu ihm hinüber und schmiegte mich an seinen Körper. Mit dem Zeigefinger strich ich über den Haaransatz in seinem Nacken. Dort wuchsen seine Haare eher schräg als gerade, etwas, das mir besonders gut an ihm gefiel.

Er bewegte sich, streckte die Hand nach hinten und umfasste mein Bein. Ich schlang es um seine Hüfte, zog ihn an mich und küsste seinen Nacken.

»Daraus schließe ich, dass dein Kater erträglich ist, oder?«, sagte Charlie in sein Kissen.

»Ja. Und deiner?«

Er drehte sich auf den Rücken und sah mich aus einem Auge an. Das andere hatte er zum Schutz vor der Morgensonne zugekniffen. Ich rieb seine Brust und fuhr mit den Fingernägeln über seine Rippen. »Ich werd’s überleben«, sagte er schließlich.

»Wie wär’s mit ein bisschen Frühsport?«

Er gähnte. »Ich bleib einfach liegen. Du kannst mit mir machen, was du willst.«

»Tut mir leid, aber Mehlsäcke haben mich noch nie angemacht«, sagte ich trocken und kletterte aus dem Bett. Nackt schlenderte ich zur Dusche. Ich wusste, dass er mir hinterhersah.

Das Wasser war heiß, und schon bald war das ganze Bad in feuchten Dampf gehüllt. Ich hörte, wie er hereinkam und eine Weile stehen blieb. Dann zog er den Vorhang der Dusche zurück und trat zu mir.

Als wir abgetrocknet und fertig für den Strand waren, ging ich noch einmal ins Bad und sah, dass er »Carlo & Katerina« auf den beschlagenen Spiegel geschrieben hatte.

Die Nächte schienen heißer zu sein als die Tage. Charlie stand am Rand des Weges, der am Meer entlangführte, lehnte sich über das Geländer und beobachtete die letzten Streifen von Rot und Rosa am Horizont. Die warmen Farben betonten sein gebräuntes Gesicht; die warme Brise spielte mit der Haarsträhne, die ihm in die Stirn fiel. Sein Gesichtsausdruck war schwer zu interpretieren, doch mir kam er traurig und wehmütig vor.

Ich rieb ihm mit der Hand über den Rücken und küsste ihn auf die Schulter, um ihn zu mir zurückzuholen. Einen Moment später sah er zu mir herunter und lächelte, dann zog er mich an sich. Ich vergrub den Kopf an seinem weißen Hemd und atmete seinen Geruch ein, als müsste ich solch eine Intimität stehlen. Manchmal kam es mir vor, als sollte ich so viel wie möglich von ihm erfassen; vielleicht hatte ich so eine Art Vorahnung von dem, was da kommen sollte ... eine Warnung, dass mir bald nur noch Andenken an ihn bleiben würden und ich mich an alles erinnern musste.

»Könntest du dir vorstellen, an einem Ort wie diesem zu leben?«, flüsterte er mir ins Ohr.

Die Frage überraschte mich. »Vielleicht, wenn wir in Rente sind«, sagte ich ausweichend.

»Würde es dir nicht gefallen, jeden Abend hier draußen zu verbringen, Prosecco zu schlürfen und Fisch zu essen, der nur eine Meile von hier gefangen wurde?«

Die Vorstellung, aus London wegzugehen, versetzte mich fast in Panik. »Kein Kino mehr? Keine Clubs? Kein Theater? Und was ist, wenn du mal wieder mitten in der Nacht Lust auf Bagel bekommst oder ich mir plötzlich unbedingt alle Tarantino-Filme ausleihen will? Hast du wirklich Lust, dir jeden Abend Walker, Texas Ranger anzusehen?«

Er schüttelte den Kopf. »Aber du reist doch gerne und siehst andere Länder. Ich hätte nicht gedacht, dass du so an England hängst.«

»Nicht unbedingt an England«, gab ich zu. »Obwohl es mir gefällt, Jahreszeiten zu haben. Ich könnte auch in New York oder San Francisco leben. In jeder Stadt, in der es möglich ist, indisches Essen oder ein Steak zu bekommen.«

»Ist das für dich das Hauptargument?«, fragte er lachend. »Die Möglichkeit, an indisches Essen zu kommen?«

»Das ist doch wichtig! Falls du meinst, ich würde für den Rest meines Lebens frischen Fisch essen, liegst du schwer daneben.«

»Also kommen Kleinstädte nicht in Frage.« Er sagte das lächelnd, aber ich konnte erkennen, dass er leicht genervt war.

»Zumindest im Moment. Tut mir leid, aber ich brauche einfach die Abwechslung. Wenn wir älter sind oder Kinder haben, ändert sich meine Einstellung vielleicht, und alles, was mich dann noch interessiert, sind die Verbrechensrate und die Qualität der örtlichen Schule.«

»Also könntest du dir vorstellen, in eine kleinere Stadt zu ziehen, wenn wir Kinder haben?«

Stirnrunzelnd sah ich ihn an. »Wieso, willst du mich etwa schwängern, nur damit wir aus London fortziehen können? Ich dachte, dir gefällt es in London.«

Seine blauen Augen wirkten bei Nacht immer dunkler. »Mir gefällt es in London. Aber mir würde es überall gefallen, solange du dabei bist.«

Ich schob ihn weg und ging weiter. »Versuch nicht, mir das Wort im Mund umzudrehen.«

»Wie denn?«

»Bei dir hört es sich an, als würde ich nicht um dich kämpfen, auch wenn ich dich genauso liebe wie du mich.«

»So hab ich das nicht gemeint«, protestierte er.

»Wie zum Teufel sind wir eigentlich auf dieses Thema gekommen? Gerade essen wir noch Eis und schauen uns den Sonnenuntergang an, und dann reden wir plötzlich übers Auswandern, um uns als Fischer durchzuschlagen!«

Charlie platzte lachend heraus. »Ich habe nichts davon gesagt, dass wir Fischer werden sollen.«

»Umso besser, ich habe nämlich gehört, dass das eine ziemlich übel riechende Angelegenheit sein soll. Glaub bloß nicht, dass ich dich jeden Abend ranlasse, wenn du nach Fischdärmen stinkst.«

Er legte den Arm um mich und küsste mich auf den Kopf.

Wir entdeckten eine Kellerbar, in der Livemusik gespielt wurde, und tanzten bis zum frühen Morgen. Als wir durch die engen Gassen zum Auto zurückgingen, kamen wir an kleinen Schreinen vorbei, die in die Hauswände eingelassen waren. Kleine Lämpchen beleuchteten die Heiligenfiguren. In Teegläsern standen ein oder zwei Wildblumen, und oft tauchte unter dem Schrein der Name eines Schiffes auf; Gebetsstätten für die Männer, die zur See fuhren.

Mit Absatzschuhen und vom Tanzen wunden Füßen über das Straßenpflaster zu laufen war nicht gerade lustig. Also nahm Charlie mich huckepack und trug mich zum Auto zurück, während die High Heels an meinen Händen baumelten.

Das Hotel war menschenleer, als wir zurückkamen – keine Kellner, kein Barmann, keine italienischen Geschäftsreisenden, die nach ihrer Konferenz noch Karten spielten. Wir winkten dem verschlafenen Rezeptionisten zu, als wir an seinem Tisch vorbeigingen, und er stand auf.

»Mr Benson?«, sagte er. »Da ist eine Nachricht für Sie.«

»Für mich?«, fragte Charlie. Wir sahen einander an. »Wahrscheinlich von Luke«, meinte er.

Eine Nachricht von zu Hause zu erhalten, wenn man im Urlaub ist, bedeutet in der Regel nichts Gutes, also wartete ich besorgt darauf, dass Charlie sie mir vorlas. Ich entspannte mich erst, als er anfing zu lächeln.

»Die ist von den Crestenzas«, sagte er. »Alte Freunde meiner Eltern. Sie sind hier im Urlaub und haben von Luke erfahren, dass wir auch hier sind. Macht es dir was aus, wenn wir sie morgen treffen? Ich habe sie seit der Beerdigung meiner Eltern nicht gesehen.«

»Natürlich machen wir das«, erwiderte ich, glücklich darüber, ihn so aufgeregt zu sehen. Neugierig auf die Crestenzas war ich natürlich auch, denn mal abgesehen von Luke wusste ich kaum etwas über Charlies früheres Leben in den Staaten. Aber ich war auch sehr, sehr müde. »Ich würde allerdings mit dem Anruf bis morgen warten, Schatz. Falls sie nicht einen wirklich üblen Jetlag haben, sind sie nämlich noch für einige Stunden im Reich der Träume.«

»Gute Nacht, Mr und Mrs Benson«, sagte der Mann an der Rezeption. »Schlafen Sie gut.«