Dr. Sabrina Bianchi traf um 8.16 Uhr im Leichenschauhaus ein. Ich saß vor dem gedrungenen, hässlichen Gebäude in einem Café, in dem ich seit halb acht am Morgen diverse Espressi bestellt hatte. Zu behaupten, dass ich einen Koffeinschock durchlebte, war noch eine milde Umschreibung, und als ich die Pathologin in ihrem schicken silbernen Auto ankommen sah, war ich fast schon aus dem Café, bevor mir einfiel, dass ich noch nicht gezahlt hatte.
Ich warf ein paar Euromünzen auf den Tisch, rannte über die Straße und fing Bianchi ab, bevor sie Gelegenheit hatte, die Tür zum Gebäude der Rechtsmedizin aufzuschließen, das offiziell erst um neun öffnete.
Sie trug ihren Arztkittel noch nicht, sondern einen modischen Hosenanzug und jede Menge Goldschmuck. Der Haaransatz war nicht länger dunkel; die nun sorgfältig gefärbten Haare ließen sie wie eine echte Blondine aussehen, und das trotz ihrer dunklen Brauen und dunkelbraunen Augen.
»Doctor Bianchi?«, sagte ich, als ich sie eingeholt hatte.
»Sì?«, entgegnete sie und drehte sich zu mir um. Ich sah, dass sie mich wiedererkannte, aber sie machte den Fehler, so zu tun, als wisse sie nicht, wer ich war, obwohl ertrunkene Touristen sicher selten genug vorkamen und es unwahrscheinlich war, dass sie mich nur zwölf Monate später bereits vergessen hatte.
»Ich bin die Witwe von Charles Benson«, erklärte ich ihr, aber mein Lächeln besagte ganz klar, was ich von ihr hielt. »Sie haben ihn letzten August obduziert.«
Sie neigte den Kopf, als versuche sie, sich zu erinnern.
»Er ist ertrunken«, sagte ich.
»Ah, ja, natürlich, Signora Benson. Tut mir leid. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Darf ich reinkommen?« Ich deutete auf die Glastür, die zum Empfangsbereich des Gebäudes führte.
»Oh.« Sie sah sich um, als hoffe sie, ein Kollege würde auftauchen und sie retten, aber wir waren allein auf der Straße. »Na gut, kommen Sie.«
Das Erdgeschoss der Rechtsmedizin sollte beruhigend wirken, daran erinnerte ich mich noch – weicher Teppichboden, helles Holz, sanfte Farben. Abstrakte Drucke in Aluminiumrahmen. Bianchi tippte einen Code ein und schloss die Tür hinter uns wieder.
»Mein Büro ist da hinten«, sagte sie. Ich folgte ihr über einen Korridor mit cremefarbenen Wänden zu einem ähnlich gestalteten Büro. Die grelle Morgensonne wurde von den Wänden zurückgeworfen, und sie schloss die Jalousien, um das Licht auszusperren. Auf ihrem Gesicht lagen gestreifte Schatten.
»Was kann ich für Sie tun, Mrs Benson?« Sie wich meinem Blick aus, indem sie die Post und die anderen Papiere durchging, die auf ihrem Schreibtisch lagen. Als Kind hatte mein Vater mir beigebracht, wie man das Verhalten anderer durchschauen konnte. Ich hielt nach verräterischen Zeichen Ausschau – Regungen, die einen winzigen Moment aufscheinen, bevor sie wieder unterdrückt werden. Nur ein kleiner Teil der Bevölkerung bemerkt solche Dinge, aber allein die Tatsache, dass ich überhaupt danach suchte, erhöhte meine Chancen.
»Graziani hat mir gestern eine Kopie vom Autopsiebericht meines Mannes gegeben«, sagte ich. Ich konnte erkennen, wie sehr es ihr missfiel, dass ich ihn einfach nur Graziani nannte, nicht Detective oder Signor. Sie fragte sich, wo mein Mangel an Respekt herrührte ... Ich redete nicht weiter, sondern ließ sie zappeln.
Sie hatte die Beine übereinandergeschlagen, und der spitze Absatz ihres unteren Schuhs drückte sich in den Teppich. »Ja?«, sagte sie schließlich.
»Ich hatte gehofft, Sie würden mir verraten, warum Sie ihn geändert haben.«
Wir belauerten uns über den Schreibtisch hinweg.
»Ich kann mich nicht erinnern, etwas geändert zu haben«, sagte sie vorsichtig.
Ich legte meine Kopie des Berichts vor ihr auf den polierten Schreibtisch. Dann tippte ich mit dem Finger auf Seite neun.
»Auf dieser Seite haben Sie etwas geändert.«
Sie überflog die Seite, als versuche sie, sich zu erinnern, was genau sie da abgeändert haben könnte.
»Bedaure, aber ich glaube, Sie irren sich. Das hier sieht mir alles korrekt aus.«
Ich begnügte mich damit, auf das vom Drucker hinzugefügte Datum auf Seite acht zu deuten, dann auf das veränderte Datum auf Seite neun, bevor auf Seite zehn wieder das ursprüngliche kam.
Bianchi wirkte erleichtert und lächelte sogar kurz. »Das kann alles Mögliche gewesen sein. Eine Seite, die im Drucker eingeklemmt war. Oder vielleicht habe ich da einen Tippfehler bemerkt und korrigiert.«
»Was verbirgt sich hinter dieser Seite?«
»Ich verstehe Sie nicht.«
»Was sagt sie über den Leichnam?«
»Aber natürlich, Sie sprechen ja kein Italienisch.« Bei dieser Erkenntnis sah sie noch glücklicher aus, und ich verriet ihr nicht, dass ich die Seite bereits übersetzt hatte. Ich hoffte, dass sie beim Vorlesen absichtlich etwas auslassen würde, denn dann würde ich wissen, dass, was auch immer sie wegließ, von Bedeutung war.
Sie griff nach dem neunten Blatt. »Mageninhalt ...«, übersetzte sie und überflog die Seite. »Rotwein. Teilweise verdaute Pasta. Tomatensoße. Keine Spur von Toxinen oder Rauschmitteln. Die Schlussfolgerung liegt nahe, dass die Person einige Stunden nach der Mahlzeit gestorben ist. Inhalt des Dünndarms ... vollständig verdautes Essen. Keine Toxine.«
Bianchi blickte wieder zu mir. Sie hatte alles so übersetzt, wie ich es bereits getan hatte. »Haben Sie am Tag des Verschwindens mit Ihrem Mann zu Mittag gegessen?«, fragte sie mich.
Ich nickte.
»Und hat er Pasta mit Pomodoro-Soße gegessen und dazu Rotwein getrunken?«
Ich nickte erneut.
»Dann verstehe ich nicht, wo das Problem liegt. Ich habe in seinem Magen nichts Verdächtiges gefunden.«
Ihr Blick aus mahagonibraunen Augen traf meinen, und dieses Mal weigerte sie sich wegzusehen. Sie war nicht länger in der Defensive, weil sie sich jetzt sicher war, dass ich nicht wusste, welche Rolle sie gespielt hatte, als es darum ging zu verbergen, was auch immer mit Charlie passiert war. Ich würde sie weiter provozieren müssen.
»Mein Mann wurde ermordet«, sagte ich unverblümt.
Bianchi lachte etwas zu schrill. »Da liegen Sie falsch, Mrs Benson. Ich habe die Autopsie durchgeführt. Alle Beweise deuten auf Ertrinken hin.« Ihre sorgfältig manikürten Hände lagen auf den Lehnen ihres Stuhls. Es heißt immer, dass Menschen beim Lügen unbewusst ihren Mund verdecken oder das Gesicht beschirmen, aber Dad hatte mir beigebracht, dass das Gegenteil der Fall war. Menschen, die versuchen, einen mit einer Lüge zu überzeugen, trachten danach, offen und ehrlich zu wirken, weshalb sie auch den bewussten Versuch unternehmen, das Lügen nicht durch ihre Körpersprache zu verraten. Daher sind solche Menschen immer ruhiger und gestikulieren weniger als solche, die die Wahrheit sagen.
»Sie lügen«, sagte ich mit mehr Überzeugung, als ich tatsächlich empfand. »Was auch immer ursprünglich auf Seite neun des Autopsieberichts gestanden hat, beweist, dass er ermordet wurde. Was haben Sie herausgefunden, Doctor Bianchi?«
Sie stand auf. »Ich möchte, dass Sie jetzt gehen, Mrs Benson.« Als ich nicht reagierte, griff sie zum Telefon. »Das Polizeirevier ist gleich um die Ecke«, erinnerte sie mich.
»Also gut.« Ich stand auf, sammelte die Seiten des Berichts auf ihrem Schreibtisch ein und verließ ihr Büro in Richtung Eingangsbereich. Sie legte auf und folgte mir, um mir aufzuschließen. »Sie sind doch Ärztin«, sagte ich, während ich hinaus in den sizilianischen Morgen trat. »Wie können Sie so etwas machen?«
Da war er, der verräterische Ausdruck – das Schuldbewusstsein spiegelte sich einen Sekundenbruchteil auf ihrem Gesicht, und ich wusste, dass ich recht hatte; was auch immer mit Charlie passiert war, sie hatte dabei mitgemacht.
Sie knallte die Tür zu, sperrte ab und starrte mich durch das Glas an. Ich ging über die Piazza zurück zu dem kleinen Café. Verstohlen blickte ich mich um, um zu sehen, ob sie mir noch nachsah, aber sie war in ihr Büro zurückgekehrt. Was hätte ich in diesem Moment dafür gegeben zu sehen, was sie als Nächstes tat. Rief sie jemanden an? Wollte sie jemanden warnen, dass ich ihnen auf den Fersen war?
Als ich wieder im Café saß, bestellte ich Orangensaft – ich hatte genug Kaffee für mindestens eine Woche getrunken. Dann setzte ich mich wieder an denselben Tisch. Ich wusste nicht, wie viel Zeit mir blieb, bevor diejenigen, die sie deckte, mir nachstellen würden. Bianchi wusste etwas, so viel war sicher, und wenn ich ihr nicht im Guten beikommen konnte, musste ich eben härtere Maßnahmen ergreifen.
Ich hatte eines von den Prepaid-Handys, die wir in England gekauft hatten, in meiner Tasche. Ich machte es an, erhielt eine Info-SMS des örtlichen Netzanbieters und wählte aus dem Gedächtnis eine Nummer.
»Ja?«, antwortete eine tiefe, männliches Stimme.
»Ich bin’s«, sagte ich. »Ich brauche deine Hilfe.«
Mein Halbbruder Kytell neigt zu beeindruckenden Auftritten. Er ist über eins neunzig groß und so kräftig wie ein Gorilla. Auch wenn es kalt ist, trägt er ärmellose Shirts, damit seine massigen Oberarme und breiten Schultern zur Geltung kommen. Seine Haut hat im Winter die Farbe von Milchschokolade, im Sommer dagegen ist er dunkelbraun. Seine grünbraunen Augen verraten aber, dass unter seiner Verwandtschaft auch ein Weißer ist.
Kytell kam in unsere Familie, als er etwa zehn und ich sieben war. Seine Mutter war gestorben, und Dad hatte ihn aufgenommen. Damals war mir nicht klar, dass er mein Halbbruder war, doch meine Mutter hatte sofort kapiert, dass dieser kleine Mischling das Ergebnis von einer der »Vergünstigungen« war, die Dads Arbeit mit sich brachte. Sie war total ausgeflippt. Das machte aber keinen Unterschied – was Dad sagte, wurde gemacht. Wenn ich jetzt so zurückblicke, wird mir bewusst, was er da Unglaubliches von ihr verlangt hat – sie musste den unehelichen Sprössling ihres untreuen Mannes aufziehen –, aber das gab ihr nicht das Recht, ihre Wut an Kytell auszulassen. Sie hat ihn nie geschlagen oder so, aber er bekam immer die kleinste Essensportion, die abgetragenen Sachen der anderen, obwohl wir alle die neueste Mode trugen, und zu Weihnachten das popeligste, unpassendste Geschenk: ständige kleine Bosheiten, um ihn wissen zu lassen, dass er nicht so gut wie wir anderen war.
Schon damals provozierte ich sie gerne, und deshalb erklärte ich Kytell zu meinem Liebling – zumindest war das am Anfang der Grund. Sie nahm es mir übel, dass er der Erste war, zu dem ich am Morgen hallo sagte, und dass meine krakeligen Zeichnungen immer nur ihn und mich zeigten. Ich tauschte mein Stück Pizza mit ihm, damit er das größere hatte. Meine offenkundige Zuneigung zu ihm ließ ihn sicherer werden, und seine wahre Persönlichkeit kam hinter der abweisenden, verschlossenen Fassade zum Vorschein. Er begann zu lachen, Witze zu machen, mir Geheimnisse anzuvertrauen. Wenn meine anderen Brüder mich ärgerten, verteidigte er mich, obwohl er damals kleiner war als sie. Als wir älter wurden, brachte er mich nachts nach Hause, wenn ich zu lange aus gewesen war und zu betrunken oder zu bekifft, um sicher zurückzukommen. Als man mir damit drohte, mich von der elitären Privatschule zu werfen, auf die Dad mich geschickt hatte, besuchte Kytell die Direktorin mit einem Strauß Blumen und versuchte, sie zu überreden, meine Strafe abzumildern. Als das nicht funktionierte – die Frau gehörte zu den Menschen, die nur die einschüchternden Muskeln und die dunkle Haut sahen –, hatte er mit einem Schraubenschlüssel ihre Windschutzscheibe zerschlagen.
Kytell war der Einzige aus meiner Familie, dem ich Charlie vorgestellt hatte. Anfangs war Kytell ihm gegenüber misstrauisch und unglücklich darüber, dass ich jemanden geheiratet hatte, den er noch nicht einmal getroffen hatte. Er nahm ihn mehr oder weniger ins Kreuzverhör, nach dem Motto: »Was willst du von der Kleinen?« Aber je besser sich die beiden kennen lernten, desto mehr verstand Kytell, was ich in Charlie sah: einen wirklich guten Mann. Sobald er sicher war, dass Charlie für mich sorgte und mich beschützen würde, wie Kytell es bereits tat, entspannte er sich, und die beiden wurden echte Freunde.
Der Eingang des Cafés schien zu schrumpfen, als Kytell hereinkam. Er musste seinen massigen Körper regelrecht hindurchquetschen. Die Kellnerin bemerkte die melonengroßen Bizepsmuskeln und die dicke goldene Halskette und wurde sichtlich nervös. Kytell ignorierte sie und kam geradewegs zu mir. Ich stand auf, und er riss mich an sich, wobei ich deutlich vom Boden abhob.
»Nicht so stürmisch, Tiger«, sagte ich. Er stellte mich wieder ab und zwängte sich mir gegenüber zwischen unseren Tisch und den Nachbartisch, um sich zu setzen.
»Alles in Ordnung?«, fragte er mit seinem tiefen Bass. Wenn Kytell redete, hatte man manchmal den Eindruck, eher Vibrationen zu spüren, als Laute zu hören.
»Alles bestens, bis auf die Tatsache, dass meine Blase jeden Augenblick platzt. Ich muss schon seit fünf Stunden aufs Klo.« Ich deutete auf das Gebäude der Rechtsmedizin auf der anderen Seite des Platzes. »Ruf mich, wenn du eine blonde Frau in einem dunkelgrauen Hosenanzug aus dem Gebäude kommen siehst. Ihr gehört der silberne Lexus dort an der Straßenecke.«
Kytell nickte und konzentrierte sich sofort auf das, was vor dem Fenster des Cafés geschah.
Endlich pinkeln zu können war, als sänke ich nach drei schlaflosen Nächten in ein weiches Federbett. Ich stieß einen tiefen Seufzer der Befriedigung aus. Es schien ewig zu dauern, bis meine Blase sich geleert hatte, doch als ich zu meinem Tisch zurückkam, konnte ich erkennen, dass Kytell sich keinen Millimeter gerührt hatte, seit ich ihn gebeten hatte aufzupassen.
»Hast du am Flughafen einen Mietwagen genommen, wie ich es dir gesagt habe?«, fragte ich.
»Ja – steht gleich da draußen. Erzählst du mir jetzt mal, was zum Teufel eigentlich los ist?«
Ich sah mich nach der Bedienung um, die immer noch in den Anblick von Kytells Muskeln vertieft war. »Nicht hier«, sagte ich und warf einen Blick auf meine Uhr. »Lass uns im Auto warten. Sie könnte bald rauskommen.«
Kytells Augen wurden groß, als er die Rechnung sah. »Drei Dr. Pepper, zwei Säfte, zwei Eistee und drei Stück Pizza?«, las er.
»Ky, ich bin seit mehr als acht Stunden hier«, sagte ich. »Was hast du denn gedacht – dass ich einen Kaffee bestelle und jede halbe Stunde einen Schluck trinke?«
»Wenn du mal wieder jemandem auflauern willst, rate ich dir, ein bisschen weniger Flüssigkeit zu dir zu nehmen. Das ist alles, was ich sage ...« Er zuckte mit seinen mächtigen Schultern.
Kytells Mietwagen war ein schwarzer Audi vernünftiger Größe mit getönten Scheiben. Wir parkten ihn auf dem Platz zwei Wagen von Bianchis Lexus entfernt und lehnten uns auf den bequemen Vordersitzen zurück. Während wir warteten, erzählte ich meinem Bruder alles über die Geschehnisse der letzten Tage.
Er hörte sich alles an, ohne eine einzige Frage zu stellen, doch als ich mit meinem Bericht fertig war, fragte er, wie ich so sicher sein konnte, dass Bianchi mich angelogen hatte.
»Die einleuchtendste Erklärung ist tatsächlich, dass es ein Tippfehler war«, sagte er. »Warum glaubst du, dass es etwas Schlimmeres war?«
»Sie hat Angst, und sie wirkt schuldbewusst«, erklärte ich. »Du kennst mich, Ky. Ich bin nicht paranoid. Du musst mir einfach vertrauen, wenn ich sage, sie lügt.«
»Ich vertraue dir ja«, erwiderte er seufzend. »Aber Luke anscheinend nicht. Apropos, wo steckt der eigentlich?«
»Ich weiß es nicht«, sagte ich und starrte aus dem Fenster. Zwischen den Gebäuden konnte man einen Streifen der dunkelgrünen See erkennen, die ich so hasste. »Ich habe ihn seit gestern Nachmittag nicht mehr gesehen. Er muss wohl nach Hause geflogen sein.«
Falls mein Bruder es nicht gut fand, dass Luke mich im Stich gelassen hatte, so behielt er es für sich. »Wie sieht dein Plan aus?«, wollte er wissen. Doch bevor ich Gelegenheit hatte, ihm das zu erläutern, trat Sabrina Bianchi aus dem Gebäude der Rechtsmedizin.
Trotz der getönten Scheiben rutschten wir tiefer in unsere Sitze und schauten zu, wie sie in unsere Richtung kam. Obwohl ihr Gesichtsausdruck nachdenklich war, machte sie lange, selbstbewusste Schritte, wie ein Model, das über den Laufsteg stolziert. Eine lederne Handtasche mit einem goldenen G für Gucci baumelte an ihrem Arm. Sie griff hinein, um ihre Schlüssel hervorzuholen, und öffnete die Türen des Lexus mit der Fernbedienung.
Kytell ließ den Audi an, und als sie losfuhr, scherten wir aus der Parklücke und folgten ihr.
»Bleib mindestens drei Wagen hinter ihr«, sagte ich.
»Das sagst du mir?«, erwiderte er und gluckste.
»Aber verlier die Schlampe nicht.«
»Willst du fahren?«, entgegnete er.
Bianchi leitete uns zum Stadtrand und dann hinaus aufs Land. Nach einer halben Stunde fragte ich mich allmählich, ob sie wirklich nach Hause fuhr, doch dann bog sie links ab, an den Straßen tauchten einzelne Häuser auf, und schließlich kamen wir in eine andere Stadt mit moderneren Gebäuden und breiteren Straßen.
Sie beschleunigte hügelauf und hielt dann vor einem zweigeschossigen Haus, das von einem hohen Zaun umgeben war. Sie hielt eine weitere Fernbedienung in Richtung des Tores, das aufschwang, um sie in die Einfahrt zu lassen, und sich hinter ihr wieder schloss. Wir sahen bei laufendem Motor aus einiger Entfernung zu, dann fuhr Kytell am Haus vorbei und weiter, bis wir einige Felder erreichten und außer Sicht waren. Er parkte den Wagen unter ein paar Bäumen.
»Hast du da irgendwas Brauchbares in deiner Tasche?«, fragte er mich.
»Was denn, etwa einen Dietrich? Nein.«
»Hinten sind eine Baseballkappe, Handschuhe und ein paar Klamotten.«
Ich drehte mich um und schnappte mir die blaue Yankeeskappe, die ich mir tief in die Stirn zog. Das dunkelblaue Shirt klemmte ich mir unter den Arm. Kytell hatte seine eigene schwarze Baseballkappe.
»Glaubst du etwa, dass du damit weniger auffällst?«, fragte ich amüsiert. »Wie viele über eins neunzig große Schwarze gibt es hier wohl, deiner Meinung nach? Wir sind nicht in London, Ky.«
Kytell überhörte meinen Spott und stieg ohne ein weiteres Wort aus. Wir liefen zurück zu Bianchis Straße und versuchten, möglichst unauffällig auszusehen. Wir befanden uns in einer Gegend am Stadtrand, die offensichtlich vor kurzem von Bauunternehmern gekauft worden war, welche dort geräumige, freistehende Häuser errichteten, jedes auf einem großzügigen Grundstück. Es gab erst wenige weitere Anwesen in der Nähe, von denen zwei nagelneu aussahen und noch leer standen. Zweifellos waren sie gerade erst fertig geworden.
Wir umrundeten Bianchis schickes neues Haus mit seinen makellos weißen Wänden und stellten fest, dass wir Glück hatten – das Anwesen ging auf eine Baustelle, auf der die Arbeiter für diesen Tag fertig waren. Wenn wir nahe genug an den Zaun traten, konnten wir durch die Spalten und Astlöcher in Bianchis Garten, auf ihren Swimmingpool und durch die Terrassentüren hinein in ihr Wohnzimmer blicken.
»Netter Pool«, sagte ich.
»Nettes Haus«, stimmte Kytell zu.
»Wie viele Angestellte im öffentlichen Dienst kennst du, die ein schickes neues Haus, einen Swimmingpool und einen Lexus haben?«, fragte ich ihn.
Wir setzten uns und beobachteten Bianchi durch den Gartenzaun. Sie verschwand für zehn Minuten nach oben und kam in einem Seidenpyjama wieder herunter. Ihr blondes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie schenkte sich ein großes Glas Weißwein ein und rollte sich auf ihrem großen, cremefarbenen Sofa zusammen. Anscheinend sah sie fern.
»Um ehrlich zu sein«, sagte Kytell schließlich, »finde ich nicht, dass sie wie jemand aussieht, der Sorgen hat.«
»Sie ist eine arrogante Kuh«, erwiderte ich. »Sie weiß, dass ich nichts gegen sie in der Hand habe. Wie lange sollen wir noch warten?«
»Bis es dunkel wird«, sagte Kytell. »Entspann dich.«
Die Zeit verging. Wie sahen zu, wie Bianchi sich einen Salat zum Abendessen machte, zu dem sie zwei weitere große Gläser Wein trank. Die dünnen Wolken am Horizont, wo die Sonne untergegangen war, strahlten rosa, der Himmel unter ihnen wurde im Osten allmählich dunkel. Als dieser dunkle Fleck sich über den ganzen Himmel ausgebreitet hatte, stand Kytell auf und streckte sich. Er ließ die Schultern kreisen und schüttelte seine Glieder aus. Meine Beine knackten, als ich mich aufrichtete, in meinen Waden und Füßen kribbelte es.
Der Abend war nicht wirklich kühler als der Tag, doch ich wollte bereit sein; also zog ich das dunkle Shirt über Samanthas hellgrünes Oberteil. Kytell trug bereits Schwarz – ein schwarzes, ärmelloses T-Shirt und eine Jogginghose. Sogar seine Turnschuhe waren schwarz. Er mochte es, wenn alles zueinanderpasste.
»Wenn ich sage: ›Los geht’s‹, dann musst du bereit sein«, erklärte er.
Ich nickte und zog die Handschuhe an. »Ich bin so bereit, wie man es nur sein kann.« Ich fühlte mich leichtfüßig, als hätte ich Sprungfedern unter den Sohlen, und mein Adrenalinpegel schoss in die Höhe. Als Kytell sich wieder hinkauerte, um erneut durch den Zaun zu sehen, widerstrebte es mir, noch einmal unsere vorige Position einzunehmen. Ich wollte los, und zwar sofort.
»Los geht’s«, zischte er plötzlich.
Kytell war überraschend wendig für solch einen großen Kerl. Nachdem er mir über den Zaun geholfen hatte, schwang er sich selbst darüber und landete in der Hocke, bevor er am Zaun entlangschlich, bis wir die Büsche neben der Terrasse erreichten.
»Man könnte meinen, du hast so was schon mal gemacht«, sagte ich zu ihm, und als er daraufhin grinste, blitzte der Diamant an seinem einen Zahn im Licht der Pool-Lampen auf.
Wir spähten durch die Blätter der Büsche und durchs Fenster der großen Küchenecke, und da erkannte ich, was Kytell zum Handeln veranlasst hatte. Bianchi warf gerade eine leere Dose in den Mülleimer und stellte einen Napf mit Katzenfutter auf den Boden. Im Haus hatten wir keine Katze gesehen, was vermutlich bedeutete ...
Ich duckte mich, als ich hörte, wie die Terrassentür entriegelt und aufgeschoben wurde.
»Porcellino!«, hörte ich Bianchi rufen. Irgendwo in der Nähe miaute eine Katze, und dann sah ich ein weißes, wuscheliges Etwas mit Beinen und einem Schwanz über den Rasen auf das Haus zulaufen, dicht gefolgt von meinem Bruder.
Bianchi sah zuerst die Katze, lächelte ihr zu und beugte sich hinunter, um sie zu begrüßen. Dann bemerkte sie den riesigen schwarzen Typ hinter der Katze, der auf sie zustürmte. Sie keuchte, riss die Augen auf und knallte die Tür instinktiv wieder zu, die sie dann auch noch verriegelte. Die meisten Menschen wären in vollem Lauf gegen die Tür geknallt, doch Kytell gelang es, abrupt zum Stehen zu kommen. Er starrte sie durch die Tür an, und die Scheibe beschlug unter seinem Atem, obwohl er so langsam atmete, als wäre er zur Tür geschlendert.
Bianchi starrte ihn entsetzt von der anderen Seite der Tür an. Die Katze, die zu seinen Füßen saß, hob eine Tatze und pochte miauend gegen die Tür. Als Kytell Bianchis Reaktion darauf sah, hob er die Katze mit einer Hand hoch und legte die andere, behandschuhte Hand über ihren Nacken, als wolle er ein nasses Handtuch auswringen.
»No!«, schrie Bianchi, und ihre Stimme klang gedämpft hinter dem Glas.
»Dann machen Sie die Tür auf«, knurrte Kytell.
Ich konnte es nicht fassen, dass sie es wirklich tat. Sie musste davon ausgehen, dass Kytell ein Triebtäter war, der seine Opfer vergewaltigte und ermordete, und doch veranlasste die Liebe zu ihrer Katze sie, alle Vorsicht fahren zu lassen.
Sie stand mit zitternden Händen vor ihm und war kurz vorm Weinen. Ich empfand kein Mitleid mit ihr. Sie hatte bei der Vertuschung von Charlies Ermordung mitgemacht.
Kytell drückte ihr die Katze in die Arme und schob sie rückwärts ins Wohnzimmer. In diesem Moment trat ich aus dem Schatten und lief über die Terrasse zur Tür, die ich hinter mir zuzog und wieder verriegelte.
Die Angst auf Bianchis Gesicht wich dem Trotz, als sie mich wiedererkannte.
»Sie!«, zischte sie. »Was wollen Sie denn noch? Wollen Sie etwa, dass ich Ihnen etwas vorlüge? Lassen Sie mich dann in Ruhe?«
Da platzte mir der Kragen, und ich stürzte mich auf sie. Sie ließ die Katze los, die sich unter dem gläsernen Couchtisch verkroch, und hob abwehrend die Hände.
Ich packte ihr Gesicht und grub die Fingernägel in ihre Wangen. »Alles, was ich will«, sagte ich, »ist die Wahrheit.« Dann stieß ich sie aufs Sofa.
Kytell schnappte sich einen Stuhl und zerrte ihn neben das Sofa. Er setzte sich so darauf, dass seine und Bianchis Knie sich berührten. Bianchi kämpfte mit den Tränen, zog dann die Katze auf ihren Schoß und streichelte sie wie der Superschurke aus den James-Bond-Filmen.
»Mein Mann, Charles Benson«, sagte ich. »War irgendetwas an seinem Tode auffällig?«
»Nein!«, rief sie.
»Stimmte etwas mit dem Mageninhalt nicht?«, fragte ich. »Haben Sie doch etwas Giftiges gefunden?«
»Nein.«
»Etwas anderes, Beruhigungsmittel, Schmerzmittel?«
»No, no, no, mi dispiace!«
Kytell warf mir einen Blick zu. Wir waren beide gut, wenn es darum ging, eine Lüge von der Wahrheit zu unterscheiden, und wir konnten erkennen, dass Bianchi nicht log.
Dann musste es etwas anderes sein, wenn in seinem Magen keine Toxine waren. In den Monaten seit Charlies Tod hatte ich eine Menge über das Ertrinken gelesen und mich mit Einzelheiten darüber gequält, wie sehr er gelitten haben musste. Ich wusste, was man finden musste, um auf Ertrinken schließen zu können.
»Konnten Sie im Blut Diatomeen nachweisen?«, fragte ich.
»Ja«, antwortete sie und nickte, ohne mich anzusehen.
»Meerwasser in der Lunge?«
»Selbstverständlich. Die Mittelohrknochen im Innenohr waren eingedrückt, an den Händen fanden sich Algen und kleine Steine, ein Hinweis auf die kataleptische Totenstarre, die eine Folge des Ertrinkens ist. All das steht im Bericht. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen!«
Ich ging alles, was ich mir über den Bericht gemerkt hatte, noch einmal durch, aber keine meiner Fragen ließ sie ihre Geschichte ändern. Als mir die Ideen ausgingen, holte ich ein paar Geschirrtücher aus der Küche, riss sie in Streifen und fesselte ihr damit die Hände im Rücken und die Füße an die Beine des Sofas, auf das wir sie gesetzt hatten. Kytell durchtrennte die Telefonleitungen mit seinem Taschenmesser, und wir ließen sie so verschnürt zurück, während wir das Haus nach etwas durchsuchten, das vielleicht von Bedeutung war.
Die Ausstattung war minimalistisch, viel Glas, neutrale Farben und Metall. Sie hatte das Haus nicht mit Fotos oder Deko-Objekten versehen. Ihre Unterlagen waren fein säuberlich in einem Aktenschrank im Arbeitszimmer einsortiert, das im ersten Stock lag. Da ich aber das Wörterbuch nicht dabeihatte, hätte ich sie nicht aus dem Italienischen ins Englische übersetzen können, auch wenn sie vielversprechend ausgesehen hätten. Es gab keinen Safe und auch keine Banknotenbündel, an denen unterschriebene Danksagungen hingen. Bianchi schien weder Familie noch viele Freunde zu haben. Der einzige Mensch, für den sie offenbar Geld ausgab, war sie selbst, wenn man den Flachbildfernseher und die Stereolautsprecher von Bose betrachtete.
Je länger wir sie ausfragten und je mehr Ecken wir durchsuchten, desto gestresster war ich. Ich konnte mich nicht richtig auf unser Tun konzentrieren, denn die Frage, die ich bisher erfolgreich verdrängt hatte, wurde nun in meinem Kopf immer lauter. Bei dieser Frage ging es darum, wie weit ich zu gehen bereit war, um Bianchi zu einer Antwort zu zwingen. Da sie sich weiterhin widersetzte, musste ich der Tatsache ins Auge schauen, dass wir da einen sehr unerfreulichen Weg eingeschlagen hatten ...
Irgendwann nahm ich Kytell zur Seite.
»So funktioniert das nicht«, sagte ich leise, damit sie es nicht hörte. »Wir können nicht ewig hierbleiben und nett zu ihr sein.«
»Die sagt nichts«, stimmte er mir zu. »Lass uns gehen.«
Ich schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Ich gehe nicht. Wenn ich sie nicht dazu bringe, mir die Wahrheit zu sagen, werde ich nie herausfinden, was mit Charlie passiert ist. Wir können sie zum Reden zwingen, Kytell, das weißt du.«
Er neigte den Kopf leicht zur Seite und sah mich mit seinen haselnussbraunen Augen an. Ich konnte erkennen, dass ich ihn verärgert hatte. »Hast du mich deshalb hergeholt?«, flüsterte er. »Damit ich das erledige, was du nicht fertigbringst, du aber ein reines Gewissen hast und trotzdem kriegst, was du willst?«
»Komm schon, spiel nicht das Unschuldslamm«, fauchte ich. »Wir wissen beide, zu was du in der Lage bist!«
Er schnaubte laut. »Du kennst mich nicht so gut, wie du denkst, Prinzessin. Ich hab noch nie einer Frau wehgetan, und ich fange auch jetzt nicht damit an, nicht mal dir zuliebe. Wenn du bereit bist, diesen Schritt zu machen, dann mach ihn alleine.«
Wir starrten uns an und wussten, dass keiner nachgeben würde.
»Also gut«, sagte er, machte die Terrassentür auf und verschwand.
Ich versuchte, nicht in Panik zu verfallen, schob die Tür wieder zu und verriegelte sie. Bianchi saß noch immer zusammengesunken auf dem Sofa, doch Kytells Abgang schien in ihr die Hoffnung geweckt zu haben, dass ihre Qualen wenigstens nicht mehr schlimmer werden würden.
Sie irrte sich.
Langsam zog ich die Handschuhe aus und stopfte sie in meine Hosentasche. Dann durchquerte ich den Raum und schlug ihr mit der Faust so fest ins Gesicht, wie ich konnte. Blut begann ihr aus der Nase zu laufen, und mir wurde übel. Sie sah schockiert aus, und offensichtlich dämmerte ihr jetzt erst, dass ich durchaus fähig war, ihr wehzutun.
Zu verängstigt, um den Blick von mir abzuwenden, und leise schluchzend versuchte Bianchi, die Hände aus den Fesseln auf dem Rücken zu ziehen.
»Ich tue das nicht gern, Sabrina«, sagte ich und schmeckte Galle im Mund. »Bitte, sagen Sie doch endlich die Wahrheit. Das sind Sie mir schuldig. Sie sind Ärztin, verdammt noch mal! Sie müssen den Menschen doch helfen! Warum ist Ihnen Geld wichtiger als das?«
»Weil ich es brauchte!«, schrie sie mich plötzlich an. »Ich hatte Schulden, und ich wollte das Haus nicht verlieren!«
Überrascht trat ich einen Schritt zurück. Ich hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass sie gestand, gelogen zu haben.
Ich hielt einen Moment inne und fragte dann: »Was haben Sie genau getan?«
»Nichts«, schluchzte sie. »Nur eine ganz kleine Änderung, wirklich. Ich dachte, das wäre bedeutungslos. Es war keine Lüge – wirklich nicht.«
»Jetzt sagen Sie schon!«, rief ich, weil ich endlich die Wahrheit erfahren wollte.
Sie wischte sich die Nase an der Schulter ihres Pyjamas ab, wo eine Spur aus Blut und Rotz zurückblieb.
»Sein letztes Essen«, sagte sie und klang erschöpft. Dennoch wandte sie den Blick nicht von meinem Gesicht ab. »Ich habe das Wort ›Spaghetti‹ durch ›Pasta‹ ersetzt.«
»Was?«, sagte ich und hätte beinahe laut gelacht. War das ihr großes Geheimnis, für das ich Gesetze gebrochen und sie geschlagen hatte? »Dafür hat Sie jemand bezahlt? Hat Ihnen Geld gegeben, damit Sie ›Spaghetti‹ durch ›Pasta‹ ersetzen?«
»O Gott, Sie glauben mir nicht«, sagte sie und begann erneut zu weinen. »Bitte, ich sage Ihnen die Wahrheit. Mehr habe ich nicht geändert. Es tut mir ja so leid, aber ich würde nie Geld dafür nehmen, einen Mord zu vertuschen. Der Leichnam war genau in dem Zustand, den ich beschrieben habe. Ich habe nur eines getan, nämlich eine Beschreibung etwas verallgemeinert.«
Ich ließ mich auf den Stuhl fallen und vergrub den Kopf in den Händen. Warum sollte jemand Geld für so ein winziges Detail zahlen?
Weil es wichtig ist, sagte eine leise Stimme in meinem Kopf. Was hatte es ausgerechnet mit diesen Spaghetti auf sich, dass sich dahinter der Beweis für den Mord an Charlie verbarg?
Ich versuchte, mich in allen Einzelheiten an unsere letzte Mahlzeit zu erinnern. Der Ober. Der niesende Amerikaner, der immer wieder aufs Klo gegangen war. Der Engländer, der eine bestimmte Pizza verlangt hatte. Hatte einer von ihnen Charlie etwas ins Essen getan? Ich rief mir die Erinnerung ins Gedächtnis zurück und ging die Vorkommnisse, die Gespräche und Charlies Bedrücktheit wieder und wieder durch. Der Amerikaner hatte Kreuzworträtsel gemacht. Charlie hatte sich schwarzen Pfeffer über seine Tagliatelle gestreut.
Ich riss die Augen auf und packte Bianchi bei den Schultern, die erschrocken nach Luft schnappte. »Die Pasta, waren das wirklich Spaghetti?«
Sie nickte. »Ja, Spaghetti.«
»Sind Sie sicher? Also auf keinen Fall Tagliatelle?«
Sie schloss die Augen halb, und ich hätte schwören können, dass sie lächelte. »Ich bin Italienerin, Signora Benson. Ich kenne den Unterschied zwischen Tagliatelle und Spaghetti.«
»Auch, wenn sie in jemandes Magen sind?«
»Die Nudeln waren nur anverdaut. Das hat es mir leicht gemacht.«
Plötzlich war ich wieder voller Energie und Entschlossenheit. »Wer hat Sie bezahlt?«, wollte ich wissen. Doch ihr Gesicht war verschlossen wie eine Falltür, die über einem Keller voller Schätze zufiel.
»Ein guter Mann«, sagte sie. »Er hat nicht verdient, was Sie ihm vielleicht antun werden.«
»Ein guter Mann!«, höhnte ich. »Er hat Sie dafür bezahlt, Beweise für einen Mord zu vertuschen. Wie kann er da ein guter Mann sein?«
»Ich kenne ihn«, beharrte sie. »Er muss seine Gründe gehabt haben. Ihr Mann hat wohl verdient, was ihm zugestoßen ist.«
»Hat er nicht!«, schrie ich. »Sagen Sie das nie wieder!«
Ich musste darum ringen, die Kontrolle über meine Hände zurückzuerlangen; mein Zorn angesichts ihrer blasierten Annahme, Charlie habe es irgendwie verdient zu sterben, wälzte sich wie geschmolzenes Metall durch mein Innerstes, schoss durch meinen Körper und in meine Arme – gar zu gern hätte ich ihr diesen ignoranten Ausdruck aus dem Gesicht geprügelt. Ich zwang mich, einen Schritt von ihr wegzugehen.
»Er hat etwas herausgefunden«, sagte ich, und meine Stimme zitterte. »Etwas, von dem er nichts wissen durfte, und deshalb hat ihn jemand umgebracht. Der Mann, den Sie da beschützen, ist vielleicht nicht derselbe, der Charlie getötet hat, aber er ist garantiert in den Mord verwickelt. Ich muss wissen, wer er ist!«
Bianchi hob langsam den Kopf und spuckte einen Speichelfaden in ihren Schoß. Die klare Flüssigkeit war vom Blut rosa gefärbt. Sie starrte mich an und schüttelte den Kopf.
Jemand hatte mir einmal gesagt, dass es oft erst zu körperlichen Auseinandersetzungen kommen musste, bevor ein anderer Mensch einen ernst nahm. Dieselbe Person hatte mir auch erklärt, dass es manchmal nicht reichte, Knochen zu brechen – die Menschen wissen ja, dass Knochen wieder zusammenwachsen, dass Blutergüsse mit der Zeit abheilen. Aber die Drohung, etwas unwiederbringlich zu verlieren, zum Beispiel einen Finger oder ein Ohr, die wirkte oft Wunder.
In meiner Verzweiflung fuhr ich auf dem Absatz herum und ging in die Küche. Auf der Arbeitsplatte aus gebürstetem Metall stand ein Messerblock mit Messern aus Stahl. Ich schnappte mir das nächstbeste und ging ins Wohnzimmer zurück. Bianchis Augen wurden tellergroß, als sie das Messer sah, und ihre Pupillen waren riesig und schwarz, als versuchten sie, so viele Hinweise wie möglich darüber aufzusaugen, wo die Grenzen meiner Gewalttätigkeit lagen.
Ich griff nach ihren Händen, die immer noch hinter ihrem Rücken gefesselt waren, und sie sprang auf, um wegzurennen. Aber ihre Füße waren ja an die Metallbeine des Sofas gebunden, weshalb nur ihr Oberkörper nach vorne schnellte. Die Knöchelfesseln spannten sich, und sie fiel vornüber auf den Boden, wobei sie die Kante meines Stuhls nur um Millimeter verfehlte.
Sie warf sich herum, um mich anzusehen, stieß mit den nackten Füßen gegen das Sofa und versuchte fortzukommen. Ich verabscheute mich für die Angst, die ich in ihrem Blick sah. Wie konnte ich einem anderen Menschen so etwas antun?
Aber ich sagte mir, dass ich keine Wahl hatte. Ich schloss die Augen und dachte an Charlies Leichnam. Ich dachte daran, wie ich in dem Hotelzimmer auf Neuigkeiten über meinen vermissten Mann gewartet hatte. Ich dachte daran, wie ich ohne ihn nach London zurückgekehrt war; wie ich in unser Haus gekommen war und gewusst hatte, dass es nie wieder so wie vorher sein würde. Mir fiel wieder ein, wie ich in einer Badewanne voll mit rötlichem Wasser gesessen hatte, das langsam kalt wurde, und wie ich gewusst hatte, dass in der Leere in mir nichts war bis auf die endlose Sehnsucht, wieder mit ihm zusammen zu sein.
Ich umklammerte den Messergriff und öffnete die Augen. Sie sah meine Entschlossenheit, sah, dass ich mich entschieden hatte, und sagte einen Namen, als würde ihr Mund unabhängig von ihr funktionieren, um sie zu beschützen.
»Graziani«, sagte sie. »Graziani hat mich darum gebeten.«
Ich ließ sie mit gefesselten Händen in ihrem Haus zurück und warf auf dem Weg nach draußen ihr Handy ins Gebüsch neben der Eingangstür. Ich machte mich auf den Weg zu Kytells Wagen, ohne zu wissen, ob er noch da war, musste aber abrupt an der Straße stehen bleiben und mich in den Rinnstein erbrechen.
Ich hatte Jahre mit dem Versuch zugebracht, nicht die zu werden, die ich in diesem Zimmer gewesen war. Ich hatte angenommen, ich hätte mich geändert, weiterentwickelt, wäre eine viel zu zivilisierte Frau geworden, um auch nur darüber nachzudenken, einen anderen Menschen so zu misshandeln. Doch es brauchte nicht viel: Ich musste nur die Beherrschung verlieren, und da war sie, die Frau, die ich hätte sein können. Sie hatte sich hinter der nächsten Ecke versteckt. Auf mich gewartet.
Der Wagen stand noch dort, wo wir ihn abgestellt hatten. Der Motor war aus, das Licht ebenfalls. Kytell saß auf dem Fahrersitz und wartete auf mich. Weinend stieg ich ein und wischte mir über den Mund. »Es tut mir leid«, sagte ich zu ihm. Er musterte mich und nickte.
»Bist du jetzt fertig?«, fragte er.
Ich räusperte mich, wischte die Tränen fort und rang um Fassung. Entschlossen ballte ich die Hände zu Fäusten.
»Noch nicht«, sagte ich.