Ich versuchte, etwas zu sagen, aber ich brachte kein Wort heraus.
»Ich kann mir denken, dass das ein Schock für Sie ist«, sagte Daultrey. »Glauben Sie mir, Antoni hätte auch nicht gewollt, dass Sie es auf diese Weise erfahren. Genau genommen wollte er gar nicht, dass Sie es erfahren. Aber was sein muss, muss sein. Sie im Unklaren zu lassen hieße, Sie in Gefahr zu bringen.«
Von dem Spiegel kam ein Klopfen, und Daultrey trat näher.
»Das sind meine Jungs, die mir sagen wollen, dass eure Detectives uns nicht ganz so viel Privatsphäre lassen, wie sie uns versprochen hatten«, erklärte er mit gesenkter Stimme. »Ich kann Ihnen hier nicht mehr erzählen. Sie werden mir einfach vertrauen müssen. Kommen Sie mit uns.«
Ich starrte ihn an. Seine Augen hatten die Farbe von gefrorenem Schlamm. Es waren die Augen von jemandem, der schon viel gesehen hatte.
»Ich weiß nicht«, sagte ich.
Er nickte, als hätte er genau damit gerechnet. »Wir werden arrangieren, dass Sie freikommen, ohne angeklagt zu werden. Sie werden Ihre Sachen wiederbekommen, und Detective Collins wird Ihnen anbieten, Sie zurück zu Ihrer Wohnung zu fahren. Nehmen Sie sein Angebot an, wenn Sie möchten. Ich würde das verstehen. Aber sollten Sie beschließen, dass Sie wissen möchten, wie Ihr Mann in Sizilien umkommen konnte, dann lehnen Sie ab. Verlassen Sie das Präsidium und halten Sie sich links. Wir warten zwei Straßen entfernt auf Sie.«
Daultrey bot mir die Hand. Überrascht ergriff ich sie.
»Ich kann verstehen, was Antoni in Ihnen gesehen hat«, sagte er mit einem reumütigen Lächeln. »Im Laufe der vergangenen Woche haben Sie gezeigt, dass Sie so stur sein können wie er. Sogar noch sturer.« Er wandte sich zur Tür und tippte den Code ein, der sie freigab. Dann drehte er sich noch einmal zu mir um. Sein Gesicht war wieder todernst.
»Sollten Sie beschließen, Ihre Suche nicht fortzusetzen, Kate, dann noch ein Wort der Warnung. Luke Broussard ist nicht der, der er zu sein scheint.«
Mit einem entschiedenen Nicken verließ er das Verhörzimmer. Die Tür fiel hinter ihm zu.
Ich ließ mich auf den am nächsten stehenden Stuhl fallen.
Was nun?
Genau wie Daultrey vorhergesagt hatte, brachte Collins mich in den Raum, wo ich Schlüssel, Brieftasche und Gürtel wiederbekam, die man mir abgenommen hatte. Ich spürte, dass die Augen des Detective auf mir ruhten; er versuchte, schlau aus mir zu werden. Ich hoffte, dass er mir keine unbequemen Fragen stellen würde, warum zum Beispiel eine Engländerin für das FBI arbeitete, und ich hatte den Eindruck, dass Daultrey ihn eingeschüchtert hatte, da er nur sagte: »Ich werde mal nachsehen, ob einer meiner Leute Zeit hat, Sie zurück nach Hause zu fahren.«
»Danke, aber das ist nicht nötig«, erwiderte ich. Ich hatte noch keine Entscheidung in Bezug auf Daultrey getroffen, aber ich wollte ganz sicher nicht länger in Gesellschaft der Polizei sein.
Collins führte mich zum Eingang des Präsidiums. Ich atmete erleichtert auf, als ich wieder auf neutralem Boden stand.
Die Sonne blendete mich. Ich sah in beiden Richtungen die Straße entlang. Das Licht spiegelte sich auf den Windschutzscheiben der Autos. Ein paar Jugendliche gingen an mir vorbei und lachten darüber, was einer von ihnen in sein Handy sagte. Sie blickten einem Mädchen hinterher, das in die andere Richtung ging; der kurze Rock wippte über den schlanken, gebräunten Beinen. Aus einem offenen Autofenster wehte fetziger R’n’B über die Straße. Die Geräuschkulisse des Londoner Sommers hatte vor diesem Tag nie ihre Wirkung auf mich verfehlt.
Stimmte es, dass mein Mann in Wirklichkeit Antoni hieß und nicht Charlie? Warum hätte er mich belügen sollen? Und warum sollte das FBI ein Interesse daran haben, mir zu meinem Schutz bis nach England und sogar weiter nach Sizilien zu folgen? Das war doch ein bisschen viel Aufhebens um jemanden, der nicht einmal amerikanischer Staatsbürger war. Und wenn sie so felsenfest davon überzeugt waren, dass ich in Gefahr war, warum schienen sie dann bereit zu sein, mich meinem Schicksal zu überlassen, wenn ich nach rechts ging und nach Hause fuhr?
Ich war seit einer Woche auf der Flucht vor Daultrey und seinen Agenten. Ihnen jetzt zu vertrauen und mich in ihre Hände zu begeben wäre eine Kehrtwende um hundertachtzig Grad gewesen. Wenn ich in diesen Wagen stieg, würde niemand davon wissen, weder Kytell noch die Polizei. Mein Instinkt riet mir, mich davonzumachen, und zwar schnell.
Unsicher trat ich einen Schritt nach rechts, um mich auf den Heimweg zu machen. Zurück zu meinem armen Bruder, den ich in wer-weiß-was hineingezogen hatte. Zurück zu einem Mann, den ich immer für meinen besten Freund gehalten hatte, dem ich aber nicht länger trauen konnte. Zurück in meine leere Wohnung, wo nichts mich erwartete außer einem Laptop mit zwischengespeicherten Webseiten über einen Mord ... ein Geheimnis, dem ich vermutlich nie auf den Grund kommen würde. Die Narben auf meinen Armen begannen zu brennen, wie sie es manchmal taten, wenn ich Schmerzen empfand, die an die Oberfläche drängten. Sie wollten, dass ich sie wieder aufschnitt, damit sie ihren Zweck erfüllen konnten.
Ich sollte eigentlich gar nicht mehr hier sein. Ein Mensch aus Fleisch und Blut war verschwunden und hatte nur seinen Schatten auf dem Straßenpflaster hinterlassen. Was hatte es für einen Sinn, nach Hause zu gehen? Was versuchte ich zu schützen und vor mir herzuschieben?
Bilder in meinem Kopf von dem Leben, das ich vor mir hatte: Hochzeiten, auf die ich allein gehen würde, Spielsachen, die ich für die Kinder anderer Leute kaufen würde, verbilligte Hotelpreise für Einzelzimmer, Valentinstage ohne Karten und Blumen, Weihnachten in den Häusern anderer, ein strahlend blauer Himmel, der schmerzte, weil man niemanden darauf hinweisen konnte.
Ich sah mich als alte Frau, die im Garten sitzt und zusieht, wie ein herbstbuntes Blatt über den Rasen weht. Mein Haar war weiß, meine Hände von der Gicht gekrümmt und faltig. Ich trug noch immer den Ehering, den Charlie mir vierzig Jahre zuvor an den Finger gesteckt hatte.
»Aufpassen!«, sagte ein Mann, mit dem ich fast zusammengestoßen wäre, als ich auf dem Absatz kehrtmachte und in die andere Richtung ging. Das Straßenpflaster verwischte unter meinen Füßen, als ich zu rennen begann. Zwei Straßenecken hinter dem Präsidium fuhr ein dunkler Wagen mit getönten Fenstern von der Bordkante los und bremste vor mir. Die hintere Tür öffnete sich, und Daultrey war derjenige, der sie mir von drinnen aufhielt.
Ich ließ mich auf den Rücksitz gleiten und zog die Tür zu. Wir rasten davon.
Man brachte mich in die Docklands, zu einem Bürogebäude mit zwanzig Stockwerken. Wir fuhren mit dem Fahrstuhl hoch in den achtzehnten Stock, in dem auch ein paar Börsenmakler fuhren, die anscheinend aufs Dach wollten, um eine Rauchpause zu machen.
»Genau, ihr solltet nächstes Mal unbedingt mitkommen«, sagte einer zu den anderen und holte seine Kippen und das Zippo-Feuerzeug hervor, als müsse er sich in der Sekunde eine anzünden, in der er aus der Tür war. »Die Location ist einfach irre. Wirklich.«
»Wir sind dabei«, sagte Banker Nummer zwei, der die Absätze meiner Schuhe musterte wie jemand mit einem ausgeprägten Schuhfimmel.
»Achtzehnter Stock«, sagte die affektierte Stimme vom Band. »Vorsicht beim Öffnen der Türen.«
Als bizarres Trio – die FBI-Agenten in ihren Anzügen und ich in Jeans zwischen ihnen – gingen wir zusammen den Flur entlang an den anderen Büros vorbei, deren Firmennamen in die Trennwände aus Glas gefräst waren. Die Büroräume, welche das FBI nutzte, lagen am Ende des Ganges. Brompton Holdings stand auf einem Schild. Am Empfang saß eine junge Frau in einer eleganten Bluse. Sie nickte Daultrey zu, würdigte mich aber keines Blickes. Wir gingen an ihr vorbei in den Teil der Räumlichkeiten, die vom Flur aus nicht einsehbar waren.
Das Zimmer war leer bis auf einen großen Schreibtisch und vier Stühle, genau wie das Verhörzimmer im Polizeipräsidium. Sogar die Jalousien waren wegen der Spätnachmittagssonne heruntergelassen, genau wie dort. Daultrey machte eine Lampe an, deren gelber Lichtkegel kreisrund auf den Schreibtisch fiel. Er zog mir einen der Stühle heran und nahm gegenüber Platz.
Eine blonde Frau in einem dunklen Hosenanzug und mit hohen Absätzen kam herein. Ich erkannte in ihr die Agentin wieder, die ich im Shuttlebus am Flughafen bemerkt hatte, als Luke und ich aus Miami zurückgekommen waren.
»Das ist Special Agent Angela Taylor«, sagte Daultrey, als sie ihm eine Akte reichte.
Sie nickte mir zu, setzte sich neben Daultrey und schlug die Beine übereinander. Ich nickte zurück.
Daultrey wollte die Akte aufklappen, hielt dann aber inne. »Das hier kann man nicht so einfach beschönigen, und einiges davon wird hart für Sie werden«, sagte er. »Sind Sie sicher, dass Sie das wollen?«
»Ja«, erwiderte ich mit trockenem Mund. »Ich muss alles wissen.«
Er blickte auf den Tisch. »Aus verschiedenen legalen und ... anderen Gründen kann ich Ihnen nicht alles erzählen, was wir wissen«, fuhr er fort. »Manche Dinge müssen über die richtigen Kanäle laufen. Aber ich erzähle Ihnen gerne alles, was wir weitergeben dürfen, und vielleicht noch ein paar Dinge, für die man mir in Washington die Hände abhacken würde.« Dabei blickte er Agent Taylor an, die nickte, ihn aber ansah, als wollte sie sagen: »Das ist Ihre Beerdigung.«
Ich fühlte mich, als wäre ich am Stuhl festgeschraubt, als er die Akte aufschlug und mir ein Foto von Charlie in einem dunkelblauen Anzug reichte. Charlie lächelte, und hinter ihm waren die Stars and Stripes zu sehen. Er hielt eine Dienstmarke hoch. Sein Haar war kurz, er war glatt rasiert. Er sah aus, als wäre er etwa fünfundzwanzig.
»Er war Klassenbester auf der Akademie«, sagte Daultrey.
»Er war auch Agent?«, fragte ich überrascht.
Daultrey nickte. »Man hat ihn von der Akademie weg ins New Yorker Büro geholt, wo er zuerst im Bereich Vermisste Personen arbeitete, aber sehr schnell sein Talent für Undercover-Aufträge gezeigt hat. Er war bereits zwei Jahre undercover, als ihm die Mafia den einen oder anderen Job anbot. Nach und nach hat er ihr Vertrauen gewonnen, insbesondere das von Federico Calabresi, einem zweitklassigen Kleinganoven, der hauptsächlich mit weichen Drogen und Prostitution zu tun hatte. Als Calabresi für ihn bürgte, hat er innerhalb weniger Jahre die Weihen erhalten und war ein gemachter Mann.«
Daultrey beugte sich über den Tisch, hob den Blick von der Akte und sah mich an. »Damit Sie das richtig verstehen, Kate, das war eine große Leistung. Es war schon immer schwierig, die Mafia zu infiltrieren. Bei der Mafia neigt man dazu, nur Familienmitgliedern zu vertrauen. Antoni war für diejenigen im FBI, die von seiner Arbeit wussten, eine Legende.«
»Ich verstehe das nicht«, sagte ich. »Ich dachte immer, man müsste zwei Leute umbringen oder so etwas, bevor man es geschafft hat.«
»Kennen Sie sich aus mit der Mafia?«, fragte Daultrey, als würde ihm das die Arbeit erleichtern.
»Nicht wirklich«, antwortete ich, weil ich es nicht zu kompliziert machen wollte. »Ich hab Die Sopranos gesehen.«
»Verstehe«, sagte er. »Aber Sie haben schon recht, er musste erst seine ›Loyalität‹ unter Beweis stellen, bevor er seinen Platz einnehmen konnte. Sobald uns das geplante Opfer dieses Anschlags bekannt war, haben wir alles inszeniert, dem Mann von seiner bevorstehenden Ermordung erzählt und ihn mit neuem Namen und neuem Pass in ein neues Leben auf den Bermudas geschickt. Wir haben Antoni etwas gegeben, was er als Beweis für den Mord vorzeigen konnte – ein gestelltes Foto der angeblichen Leiche, ein Schmuckstück, einen Finger, den wir einem Unbekannten abgeschnitten hatten, der gerade ein Armenbegräbnis erhalten sollte.
Während dieser drei Jahre hat er so verdeckt gearbeitet, dass ich ihn höchstens einmal im Monat sehen konnte. Ich weiß, dass es unglaublich hart für ihn war – er verbrachte ja fast seine ganze Zeit in der Gesellschaft von Männern, die er ständig hinterging, und ständig musste er Angst haben aufzufliegen. Er hatte Nerven wie Drahtseile, Ihr Mann. Ich würde sogar behaupten, dass er der tapferste Mann war, den ich je getroffen habe.«
Daultrey musste sich räuspern. Ich starrte das Foto von Charlie in Uniform an. Warum hatte er mir davon nichts erzählen können? So, wie Daultrey sich anhörte, war mein Mann ein Held gewesen.
»Was ging schief?«, fragte ich.
»Er wurde verraten. Das war es, was schiefging.« Daultrey wirkte plötzlich sehr, sehr wütend. »Irgendjemand vom FBI – wir wissen nicht, wer – muss den Mund aufgemacht haben, denn die Wahrheit über Antoni kam ans Licht. Auf ihn wurde ein Anschlag verübt. Es ist ihm gelungen zu entkommen, aber Federico Calabresi hatte nicht so viel Glück.«
»Er wurde umgebracht«, sagte ich.
Daultrey nickte. »Als Strafe für seinen Mangel an Urteilsvermögen.«
Vielleicht hatte Charlie seine Vergangenheit deshalb vor mir geheim gehalten. Wenn er aufrichtige Zuneigung zu Calabresi empfunden hatte, dann musste er sich ob dessen Schicksals schuldig gefühlt haben.
»Nach seiner Aussage wollte er weiter als Agent arbeiten, aber das ging einfach nicht. Er bekam eine neue Identität – Charles Benson – und setzte sich ab. Er wollte keine OP, um sein Aussehen zu verändern, weil er meinte, er habe diesen Schweinen schon genug Befriedigung verschafft, indem er seine Identität verlor. Ich glaube, er wäre gerne wieder Antoni genannt worden, nachdem er so lange Giuseppe Carlo gewesen war; es war sehr schwer für ihn, die Mafia endlich los zu sein und dennoch einen Namen benutzen zu müssen, der nicht sein eigener war.«
»Giuseppe Carlo?«, flüsterte ich. Der Name klang seltsam auf meiner Zunge.
»Sagt der Name Ihnen etwas?«, fragte Daultrey.
»Nein. Aber jetzt wird mir etwas klar. In Sizilien hat ihn jemand letztes Jahr Carlo statt Charlie genannt, und er hat sehr heftig darauf reagiert. Jetzt weiß ich, warum.«
Daultrey nickte und fuhr fort. »Antoni hatte am College im Nebenfach Architektur studiert, und mit ein paar gefälschten Referenzen hat er bald einen Job bei einem kleinen Architekturbüro in San Francisco gefunden. Er lebte seit etwa elf Monaten dort, als er – gegen meinen Rat – beschloss, mit einem Freund aus Kindertagen einen Kurzurlaub in Las Vegas zu machen. Und dort hat er Sie getroffen.«
»Und dort hat er mich getroffen«, wiederholte ich. »Und vermutlich hat er mich nicht gegen Ihren Rat geheiratet?«
Der Agent wirkte leicht verlegen. »Er hat mich nicht um Rat gefragt, Kate. Aber es stimmt, Sie haben recht, ich hätte ihm dringend dazu geraten, die Gelegenheit zu ergreifen, sich nach Großbritannien abzusetzen.«
»Also habe ich ihm nur zu einer neuen Identität verholfen?«, fragte ich, und die Worte schmeckten bitter in meinem Mund. »Damit er sich vor der Mafia verstecken konnte?«
»Nein«, sagte Daultrey und sah mich unverwandt an. »So etwas dürfen Sie nicht einmal denken. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Antonis Gefühle nicht hundertprozentig echt waren.«
»War er deshalb so glücklich, nach England zu kommen?«, fragte ich. »War die Geschichte über seine Eltern also nur eine Lüge?«
»Antonis Eltern sind bereits vor langer Zeit gestorben«, gab Daultrey zu. »Aber können Sie ihm denn vorwerfen, dass er glücklich darüber war hierherzukommen? Er hatte ja schon alle seine Freunde und seinen Bruder verlassen, als er seine neue Identität annahm. Er hatte nichts zu verlieren.«
Und da waren sie. Zwei Worte, die den Raum ausfüllten, ein riesiges Monster, das nur ich zu bemerken schien.
»Seinen Bruder?«, wiederholte ich.
Daultrey und Special Agent Taylor wechselten einen Blick. Daultrey blätterte in der Akte und reichte mir dann ein weiteres Foto.
»Er dürfte Ihnen bekannt vorkommen. Joe Cantelli. Antonis Zwillingsbruder.«
Es war Charlie ... und auch wieder nicht. Der Mann auf dem Bild sah aus wie eine zu fünfundneunzig Prozent identische Kopie. Er hatte die gleiche Haarfarbe, aber das Haar war kürzer und nicht gescheitelt. Der größte Unterschied lag in der Haltung des Mannes; seine Schultern waren gebeugt, und sein Lächeln war anders. Es kam mir vor, als sähe ich das Bild eines sehr begabten Imitators, der so tat, als sei er Charlie.
»Es muss ein großer Schock für Sie gewesen sein, Joe auf diesem Foto zu sehen, das Ihre Freunde, die Carvers, gemacht haben«, sagte Daultrey. »Die Chancen standen eins zu einer Million, dass Sie je von Joe erfahren, und um ehrlich zu sein, ich wünschte, Sie hätten es nie getan. Sie wären nicht in der Gefahr, in der Sie jetzt sind, wenn die Carvers an jenem Abend in ein anderes Restaurant gegangen wären.«
Meine Stimme zitterte, als ich sagte: »Mir tut es nicht leid, dass sie ihn für mich gefunden haben. Charlie hatte einen Bruder, er hatte Familie. Wie konnten Sie mir das verschweigen?«
»Wie?« Daultrey lachte freudlos. »Glauben Sie wirklich, diese Menschen würden auch nur eine Sekunde zögern, Sie zu töten, wenn Sie in deren Augen eine Bedrohung wären? Der einzige Grund, Sie nicht auch zu töten, war der, dass ein zweifacher Tod durch Ertrinken wesentlich verdächtiger ausgesehen hätte.«
»Also haben sie ihn umgebracht ... sie sind verantwortlich.«
»Tut mir leid, Kate. Wir haben versucht, ihn zu schützen, aber er hat den falschen Leuten vertraut.«
»Was meinen Sie damit?«, fragte ich.
»Was denken Sie denn, wie man Sie gefunden hat? Und warum wussten die Ihrer Meinung nach, dass Sie an einen Unfall glaubten? Wen kennen Sie, der mit Sicherheit beurteilen kann, ob Sie das Geheimnis Ihres Mannes kennen oder über seine Vergangenheit komplett im Dunkeln tappen?«
Ich wusste sofort, von wem Dautrey da sprach. »Nein. Das würde er nie tun.«
»Wer hat das Treffen mit den Crestenzas in Sizilien in die Wege geleitet?«, drängte Daultrey.
»Nein«, widersprach ich. »Als er ankam, hat er mir gesagt, dass er sie nicht kennt.«
»Versuchen Sie, sich zu erinnern, Kate. Wer hat das Treffen arrangiert? Hat Antoni Ihnen davon erzählt, bevor Sie nach Sizilien geflogen sind?«
Ich runzelte die Stirn. »Wir haben von ihnen gehört, als wir bereits dort waren.« Und dann fiel es mir wieder ein. »Er hat mir gesagt, Luke habe die Crestenzas wissen lassen, dass wir in der Gegend sind.« Aber ich konnte mich auch eindeutig daran erinnern, Luke gefragt zu haben, ob er die Crestenzas ebenfalls kenne, in jener Nacht, als wir am Meer Jack Daniel’s getrunken hatten. Er hatte den Kopf geschüttelt. »Wollen Sie damit etwa sagen, dass die Crestenzas mit Charlies Tod zu tun hatten? Das kann nicht sein! Jeder hat doch gesehen, wie sehr sie an ihm hingen.«
Daultrey zuckte die Achseln. »Stimmt, das taten sie. Sie haben ihn ja mehr oder weniger aufgezogen, nachdem seine Eltern tot waren. Sie haben – genau wie Antoni – eben den Fehler gemacht, Luke zu vertrauen, als es darum ging, einen sicheren Ort für dieses Treffen zu finden.«
»Jemand ist ihnen gefolgt?«, hakte ich nach.
»Nein. Das angeblich sichere Haus, zu dem man Ihnen geraten hatte, gehört Cesare Amato, einem Capo der Cosa Nostra. Zwischen dem alten und dem neuen Kontinent gibt es immer noch Familienbande. Nachdem er überprüft hatte, dass Antoni der Mann war, der sich unter dem Namen Giuseppe Carlo in seine New Yorker Familie eingeschleust hatte, hat man ihm aufgelauert und auf den richtigen Zeitpunkt gewartet, um zuzuschlagen. Lange mussten sie nicht warten.«
»Das ergibt doch keinen Sinn«, widersprach ich. »Wenn Luke Charlie wirklich hintergehen wollte, hätte er das doch im Laufe dieser zwei Jahre getan. Warum so lange warten, um ihn zu verraten? Und warum sollte es wie ein Unfall aussehen? Normalerweise feuern sie doch einfach ein ganzes Magazin auf das Opfer ab.«
»Sie haben bei den Sopranos wirklich gut aufgepasst«, sagte Daultrey und kniff die Augen zusammen. »Und Sie haben recht, eigentlich ist das ihre bevorzugte Tötungsmethode. Aber der Kerl, der Ihren Mann hat umbringen lassen, wollte eben nicht, dass irgendjemand von der Ermordung wusste. Das ist auch schon alles. Wenn ein Mafioso einen Agenten umbringt, wollen sofort alle Gesetzeshüter des Landes italienisches Blut fließen sehen. Aus diesem Grund haben die Clans im Osten eine Regel – legst du einen Agenten um, wirst du selbst umgelegt. Den Wirbel wollen sie nicht. Aus demselben Grund konnten sie es auch nicht hier in Großbritannien machen – man beseitigt niemanden, ohne vorher das Okay der Londoner Bosse zu haben. Nein, sie wollten es unauffällig machen. Antoni in Sizilien zu beseitigen war da viel leichter: Die Sizilianer teilen die Abneigung ihrer amerikanischen Brüder nicht, wenn es darum geht, ein Mitglied der Justiz zu ermorden, und dieser Kerl wusste, dass er Leute kaufen konnte, sollte sich herausstellen, dass sein Plan nicht hundertprozentig wasserdicht war.«
»Bianchi«, sagte ich. »Und Graziani.«
Daultrey nickte. »Wie sich gezeigt hat, stand Graziani schon lange auf ihrer Gehaltsliste. Bei Bianchi sind wir uns da nicht so sicher, aber nach dem Aussehen ihres Hauses und ihres Autos zu schließen, hat ihr jemand Überstunden für irgendetwas bezahlt.«
»Aber warum haben Sie die beiden nicht beschützt?«, fragte ich ihn.
»Sie beschützt?«, entgegnete er. »Wir hatten keine Ahnung, dass sie mit der Sache zu tun hatten, bevor sie gestorben sind.«
»Aber haben Sie uns denn nicht beschattet?«
Daultrey schüttelte den Kopf. »Ihr raffiniertes kleines Täuschungsmanöver mit den Carvers hat funktioniert, Kate. Und bis wir kapiert hatten, wo Sie stecken, war es zu spät.«
»Sie haben der Polizei gesagt, ich sei über jeden Verdacht erhaben.« Ich fixierte ihn. »Woher wissen Sie, dass ich die beiden nicht umgebracht habe?«
»Weil Sie nach Mafia-Art eliminiert wurden«, antwortete Daultrey, und sein Blick wurde düster. »Und ganz ehrlich gesagt, Kate, Sie sind auch nicht der Typ dafür.«
Im Geiste sah ich Bianchi vor mir, wie ich sie in ihrem Haus zurückgelassen hatte – mit gebundenen Händen, die Füße noch immer an die Metallbeine des Sofas gefesselt. Ein wehrloses Opfer für die Männer, die nach mir gekommen waren.
Daultrey bemerkte meinen Ausdruck und schob eine Flasche Wasser zu mir herüber.
Ich nahm einen Schluck, und dann noch einen, während der Schweiß mir über die Stirn lief. »Grazianis Kinder«, sagte ich. »Seine Frau.«
»Nein«, beruhigte mich Daultrey. »Nur er.«
»In seinem Haus?«
»Sie haben ihn in die Wälder hinter seinem Grundstück geschleppt.«
»War es Luke?«, fragte ich. »Luke und Cesare?«
»Das wissen wir nicht. Aber die Beschreibung der Frau passt auf die beiden.«
»Sie waren da«, sagte ich. »Wir wollten zu Graziani, und die beiden waren schon da. Sie wollten mich daran hindern, mit ihm zu reden. Cesare hatte eine Pistole.«
»Und was geschah dann?«
»Graziani kam mit einem Gewehr aus dem Haus. Wollte wissen, was zum Teufel wir auf seinem Grund und Boden zu suchen hätten. Ich warf ihm vor, Charlies Ermordung vertuscht zu haben, und – na ja, sagen wir mal, sie zwangen mich zu gehen. Wir kehrten ins Hotel zurück ...« Ich wollte Kytell nicht namentlich erwähnen; wenn sie meinen Bruder nicht schon identifiziert hatten, wollte ich ihnen auch nicht helfen. »Und was dann geschehen ist, wissen Sie ja.«
»Sie müssen Graziani erledigt haben und dann weiter zu Bianchi gefahren sein«, sinnierte Daultrey. »Wenn die wussten, dass Sie hinter den beiden her waren, dann konnten sie das Risiko nicht auf sich nehmen, dass Graziani und Bianchi vielleicht Kronzeugen werden und auspacken.«
Lukes Verhalten im Laufe der letzten Woche ging mir durch den Kopf; seine Versuche, mich davon zu überzeugen, ich sei übergeschnappt und würde mir etwas aus den Fingern saugen, und dass er nur mit mir nach Miami gekommen war, weil er mich nicht davon hatte abbringen können.
»Luke wollte nicht, dass ich nach Miami fliege«, sagte ich. »Er wollte nicht, dass ich Joe Cantelli finde.«
»Nein«, sagte Daultrey. »Denn wenn Sie Joe finden, würden Sie auch entdecken, dass Charlie nicht der war, für den er sich ausgab.«
»Also kannte dieser Typ, den wir in Miami besucht haben ...«, sagte ich, und mein Gehirn begann, all die kleinen Teile zusammenzusetzen, »... dieser Bruno Luna kannte Charlie? Weil Joe bei ihm gewohnt hat, meine ich.«
»Möglich«, erwiderte Daultrey. »Antoni hat ihn nie erwähnt, aber er kann ihn ja irgendwann getroffen haben. Wir sind uns ziemlich sicher, dass Luna und Ihr Freund Luke sich kennen.«
Mir fiel wieder ein, wie wir in dem kubanischen Café etwas getrunken hatten und wie ich Luke bei einem Handygespräch ertappt hatte, als ich von der Toilette zurückgekommen war. Hatte er Bruno Luna angerufen, um ihn vor unserem Kommen zu warnen?
Ich an Lukes Stelle hätte mich, um mir die Wahrheit vorzuenthalten, an jenem Morgen früh auf den Weg gemacht und den Inhaber des Cangrejo Dorado bestochen, damit er den Mund hält. Und als dann der Kellner überraschend aufgetaucht war und alles ruiniert hatte, indem er Alejandros Namen preisgab, hätte ich vorgeschlagen, eine Suchpause einzulegen – Mittagessen in einem örtlichen Café vielleicht –, und mir Gelegenheit verschafft, Bruno Luna anzurufen und einen Plan B auszuhecken.
»Scheiße!«, schimpfte ich. »Claudette – Bruno Lunas Hausmädchen. Sie hat mich zur Seite genommen und behauptet, sie hätte Informationen über Joe. Ich war in Ihrer Botánica, wo sich herausstellte, dass sie gar nichts hatte, aber auch darüber wäre Luna nicht glücklich gewesen, denke ich.« Hatte Luke ihrem Chef etwa von unserem Treffen erzählt?
Offensichtlich ja. Das nächste Foto, das Daultrey mir gab, zeigte Claudette und hinter ihr einen Trennvorhang in einem Krankenhaus. Ihr Auge war zugeschwollen und ihre Lippe geplatzt. »Sie wird keine Anzeige erstatten«, ließ er mich wissen. »Sie wird behaupten, sie hätte bei der Arbeit einen Unfall gehabt und wäre die Treppe hinuntergefallen.«
Ich musste wegsehen.
»Wenigstens ist sie nicht tot«, erklärte Daultrey. »Sie wird wieder.«
»Charlies Bruder treibt sich ja mit netten Typen rum«, sagte ich.
Daultrey nahm mir das Foto wieder ab und legte es zurück in die Akte. »Die beiden sind in einem gefährlichen Viertel groß geworden«, sagte er. »Antoni hat daran Anstoß genommen und die eine Richtung gewählt. Joe hat daran Gefallen gefunden und die andere Richtung eingeschlagen.«
»Aber ich dachte, er wäre im Baugewerbe«, erwiderte ich. »Wollen Sie damit sagen, er ist ein Ganove?«
»Nein, überhaupt nicht«, antwortete Daultrey. »Wenn er da mitgemischt hätte, dann hätte sein Bruder nie im Leben undercover ermitteln können. Joe hat ein paar Vorstrafen, aber die sind harmlos. Er hatte das, was Sie vielleicht eine schwere Jugend nennen würden, das ist alles. Sein Unternehmen geht gut, und mal abgesehen von ein paar zweifelhaften Steuererklärungen ist alles ganz legal. Aber er versteht sich noch immer mit vielen der Typen aus seinem alten Viertel, und manche von denen verdienen ihr Geld mit weitaus weniger legalen Mitteln.«
»So wie Luke«, platzte ich heraus.
»Luca De Santis hat drei Jahre wegen Drogenhandels in einem Zuchthaus in Nevada gesessen. Deshalb war ich auch so dagegen, dass Antoni sich im Urlaub mit ihm trifft. Aber um ehrlich zu sein, schien er nach seiner Entlassung sauber bleiben zu wollen, und er und Antoni waren schließlich zusammen groß geworden. Ich vertraute auf Antonis Urteil. Das war ein Fehler.«
»De Santis?«, sagte ich und musste fast lachen. »Er hat mir gesagt, sein Name sei Broussard. Charlie hat mir gesagt, sein Name sei Broussard.«
»Er hat ihn geändert, als er nach Großbritannien kam. Als Sie ihn in Las Vegas kennen gelernt haben, hieß er noch De Santis.«
Mir fiel ein, dass ich nicht einmal Lukes Nachnamen gekannt hatte, bevor Charlie nach London zu mir gezogen war.
»Herrgott noch mal«, sagte ich. Ich stellte die Wasserflasche weg; ich wünschte, es wäre Whisky darin. Alles, was ich über mein Leben zu wissen geglaubt hatte, stürzte gerade in sich zusammen. Es kam mir so vor, als hätte ich herausgefunden, dass ein gemauertes Haus in Wahrheit nur eine Filmkulisse aus Pappkarton mit Zellophanfenstern war.
»Ich weiß, dass das jetzt alles etwas viel für Sie ist«, sagte Daultrey, »aber –«
»Wissen Sie, wer den Befehl gegeben hat?«, fragte ich.
Er lehnte sich zurück. »Ich sagte Ihnen ja bereits, dass wir Ihnen einige Dinge nicht verraten dürfen.«
»Weil Sie es nicht wissen oder weil Sie nicht ermächtigt sind, es mir zu sagen?«
Special Agent Angela Taylor blickte verlegen auf den Tisch hinunter. Daultrey jedoch sah mich an; es machte ihm offenbar überhaupt nichts aus, mir eine derart wichtige Information vorzuenthalten.
»Verdammt noch mal, ich bin doch wohl berechtigt zu erfahren, wer meinen Mann umgebracht hat!«, brüllte ich. Vor mich hin fluchend stand ich auf und ging im Zimmer auf und ab.
»Sie werden uns vertrauen müssen, Kate. Wir setzen das Puzzle zusammen, aber das dauert seine Zeit. Aber Sie haben mein Wort, dass der Verantwortliche gefasst, angeklagt und verurteilt werden wird. Ich werde dafür sorgen, dass er den Rest seines Lebens hinter Gittern verbringt.«
»Das reicht mir nicht«, sagte ich. »Gibt es im Staat New York nicht die Todesstrafe?«
Agent Taylor sah zu ihrem Boss. Er erwiderte ihren Blick nicht. »Doch, die gibt es«, sagte er.
»Ich bin doch nicht dumm«, sagte ich. »Der Befehl kann nur vom Kopf der Familie gekommen sein, und vermutlich könnte ich dessen Namen sogar bei Wikipedia rausfinden.«
Daultrey zuckte die Achseln. »Tja, dann sollten Sie diese Methode vielleicht nutzen. Wenn Sie dann beschließen, eine Dummheit zu begehen, bin wenigstens ich nicht dran und verliere meine Pensionsansprüche.«
Er hatte mich am Wickel, und er wusste es. Um zu bekommen, was ich wollte, musste ich es auf die sanfte Tour versuchen.
Ich setzte mich wieder. »Und wie weiter?«
Er schob die Akte zur Seite. »Ich befürchte, dass Sie ernsthaft in Gefahr sind. Im schlimmsten Fall stehen Sie jetzt auf der Abschussliste. Ich glaube, dass De Santis eine Schwäche für Sie hat, aber er hat auch ein paar größere Spielschulden, und wenn er vor der Wahl steht, Sie aufzugeben oder sein Leben zu verlieren, dann wird er dieselbe Entscheidung treffen wie bei Antoni. Er weiß, wo Sie wohnen, er kennt Ihre Freunde, er kennt Ihre Gewohnheiten. Sie dürfen sich nirgends blicken lassen, wo auch er auftauchen könnte.«
»Besteht Gefahr für meine Freunde und meine Familie?«
Daultrey neigte den Kopf leicht zur Seite. »Die Carvers stehen unter Beobachtung. Ihre anderen Freunde wissen von nichts, was sie in Gefahr bringen könnte, soweit ich informiert bin. Was Ihre Familie betrifft, so war ich mir nicht bewusst, dass Sie überhaupt eine haben.« Seine dunklen Augen fixierten mich. »Sie sind in der Tat ein Rätsel für uns, Kate Grey.«
»Ich habe mich schon vor langer Zeit mit meinen Eltern überworfen«, erklärte ich, fixierte das Etikett auf meiner Wasserflasche und pulte an den Ecken herum. »Luke hat sie nie getroffen. Aber mein Bruder – von dem weiß Luke. Ich muss ihn anrufen.«
»Wir können ihn schützen«, versicherte mir Daultrey. »Sagen Sie mir einfach, wo er ist.«
»Er kann sich selbst schützen«, erwiderte ich. »Außerdem misstraut er Luke sowieso schon. Aber ich würde es dennoch begrüßen, ihn warnen zu können.«
Daultrey nickte. »Natürlich.«
Kytell, Samantha, David – alle in Gefahr, und ich war schuld. Claudette – verletzt, und ich war schuld. Bianchi und Graziani – tot, und ich war schuld.
»Ich brauche ein bisschen frische Luft«, sagte ich und schob den Stuhl zurück, um aufzustehen. »Ich gehe davon aus, dass ich in diesem Gebäude sicher bin.«
Daultrey wedelte mit der Hand und erhob sich, als sei es unhöflich, sitzen zu bleiben, wenn eine Lady vor ihm stand. Ich verließ den Raum und ging ohne ein Wort an der Empfangsdame vorbei. Der Korridor war leer, doch vor den Aufzügen standen andere Büroangestellte, die anscheinend Feierabend gemacht hatten und nach Hause oder in eine Bar um die Ecke wollten. Ich wusste nicht einmal mehr, welchen Tag wir heute hatten.
Alle Aufzüge fuhren nach unten. Ich gab auf und nahm den Notausgang, der zur Treppe führte. Die fluoreszierenden Leuchtstreifen auf den alten Betonstufen schienen unnötig hart für meine müden Augen, aber ich musste ja nur zwei Stockwerke nach oben, und dann hatte ich das Glück, hinaus in einen rosaroten Abendhimmel zu treten.
Die sommerliche Brise streifte mein Gesicht und wehte mir durchs Haar. Ich wollte die warme Luft auf der Haut spüren, also zog ich die Jacke aus und wandte mich mit meinen vernarbten Armen der orangeroten Sonne zu.
Um mich herum erstreckte sich die Stadt, und einzelne Gebäude ragten in die Stratosphäre; manche hoben sich dunkel vor den goldgeränderten Wolken ab, andere reflektierten in Tausenden von blinkenden Fenstern die untergehende Sonne. In der Entfernung konnte ich das Riesenrad, das »London Eye«, ausmachen, das sich ganz, ganz langsam drehte. Sogar so hoch oben konnte man noch das Hupen der Autos und die schwache Sirene eines Krankenwagens hören.
Ich ging über den Kies und zahlreiche Kippen zu einer Gebäudeecke, wo eine etwa einen Meter hohe Absperrung aus Stahl und Sicherheitsglas entlanglief. Als ich über den Rand nach unten sah, zog sich mein Magen zusammen, genau wie auf der Bungee-Plattform in Vegas. Du hast es doch schon einmal getan, sagte ich mir. Mit dem Unterschied, dass dieses Mal kein Gurt um deine Knöchel gebunden ist. Ich überlegte, ob Charlie mich wohl auch am Ende dieses Sprunges erwarten würde.
Ich hatte die Hände auf die Absperrung gelegt und dachte gerade darüber nach, wie einfach es doch wäre, das rechte Bein darüberzuschwingen und mich hochzuhieven, als ich Daultrey hinter mir hörte.
»Sie sehen aus, als könnten Sie eine Zigarette gebrauchen«, sagte er. Ich zögerte mit dem Rücken zu ihm; ich wusste, dass ich noch immer darüberklettern und springen könnte, bevor er mich erreichte. Meine Ellbogen und Arme spannten sich an, bereit, mich hochzuheben.
»Ich kann Ihnen helfen, ihn umzubringen.«
Langsam entspannten sich die Muskeln in meinen Armen und Beinen, und meine Hände ließen den Rand der Absperrung los. Ich drehte mich zu ihm um. Er hatte sein Sakko ausgezogen, die Ärmel seines Hemds hochgekrempelt und rauchte eine Zigarette. Sein weißes Hemd und sein gebräuntes Gesicht leuchteten im Sonnenuntergang, und die Sonne spiegelte sich in den Gläsern seiner Brille.
Er hielt mir ein Päckchen Zigaretten hin, und nach kurzem Zögern trat ich vor und nahm mir eine. Er hielt mir sein Feuerzeug hin. Ich beugte mich darüber, schützte die im Abendwind tanzende Flamme mit der Hand und zog an der Zigarette, bis das glühende Ende die gleiche Farbe wie die Sonne hatte.
Ich trat zurück. Wir sahen uns an und stießen schweigend den Rauch aus. Niemand war ihm hier hoch gefolgt; nur wir beide waren da.
»Sein Name ist Luigi Sorrentino«, sagte Daultrey. »Er ist zweiundfünfzig, lebt in Manhattan und fährt einen BMW und einen Ferrari. Er hat eine Exfrau, aber keine Kinder. Wir haben seinen Terminplan für die nächsten vier Tage. Montag verlässt er New York für einen Kurzurlaub. Ich bin sicher, Sie wissen die Ironie zu schätzen, wenn ich Ihnen sage, dass sein Ziel Las Vegas ist. Für Mittwoch hat er Karten für eine Show. Er hat sich für den Abend eine Begleitung bestellt. Ich kann Sie an die Stelle des Mädchens setzen. So können Sie ihm nahe genug kommen, um ihn umzulegen.«
Ich sah ihn nur an und versuchte, mir über ihn klarzuwerden. »Warum? Warum sollten Sie das tun?«
Seine Augen waren dunkel, und er sah mich todernst an. »Ich würde ihn selbst umlegen, aber ich habe Familie. Eine Frau, zwei Töchter. Ginge es nur um mich, würde ich ihn sofort erledigen, aber ich will kein Risiko für meine Familie eingehen.«
»Hat Charlie Ihnen so viel bedeutet?«
»Er war der beste Agent, den ich je hatte. Wenn man so eng mit jemandem zusammenarbeitet – wenn dieser Jemand Ihnen sogar sein Leben anvertraut –, dann entsteht schon ein ganz spezielles Band. Und ich habe ihn im Stich gelassen, Kate.« Er zog an seiner Zigarette, und als er weitersprach, klangen seine Worte dumpf und grau und verflüchtigten sich in der Luft: »Ich habe ihn im Stich gelassen.«
»Wissen die, worüber Sie gerade mit mir reden?«, fragte ich ihn und deutete mit dem Kopf zur Tür auf dem Dach, denn ich meinte die anderen Agenten.
»Nein. Ich werde ihnen sagen, dass Sie mit uns in die Staaten kommen, damit wir Sie besser beschützen können. Wenn der Zeitpunkt gekommen ist, tauchen Sie ab. Am Ende der Nacht finden wir Sie dann stockbetrunken und mit Filmriss in einer zwielichtigen Kneipe wieder. Der Barkeeper und zwei Stammgäste werden schwören, dass sie Ihnen die ganze Nacht Gesellschaft geleistet haben.«
»Was, Ihre Leute würden uns nicht verdächtigen, wenn man Sorrentino ein paar Tage später tot auffinden würde?«
Daultrey zuckte die Achseln. »Mich nicht, nein, Sie vermutlich schon. Aber nicht ein Mitarbeiter des FBI würde versuchen, Antoni Cantellis Witwe wegen des Mordes an seinem Mörder zu verklagen.«
»Aber selbst wenn mir das FBI freie Hand lässt – Sorrentinos Freunde wären sicher nicht so verständnisvoll.«
»Sie stehen ja sowieso vor der Aufnahme ins Zeugenschutzprogramm, Kate. Ich gebe Ihnen nur Gelegenheit, eine Rechnung zu begleichen, bevor Sie untertauchen.«
»Das Zeugenschutzprogramm?«
»Kommen Sie, Schätzchen, Sie sind doch nicht dumm. Wir können Sie nicht immer beschützen. Sie werden eine neue Identität brauchen und sich an einem Ort niederlassen müssen, an dem De Santis nie nach Ihnen suchen würde.«
Beunruhigt sah ich nach unten. Tief unter uns kreuzte eine Motoryacht auf der trüben Themse, und weißer Schaum bildete sich auf dem Kielwasser.
Vertraute ich Daultrey? In diesem Augenblick war der einzige Mensch auf der Welt, dem ich vertraute, Kytell. Aber über den FBI-Mann ergaben sich für mich Möglichkeiten, die ich allein nie haben würde. Ich würde Sorrentino nicht umlegen, bevor ich nicht ganz sicher war, dass es sich wirklich um Charlies Mörder handelte, aber es gab keinen Grund, dass Daultrey davon wissen musste – genau wie er nicht wissen musste, dass ich nicht vorhatte, dem Zeugenschutzprogramm beizutreten. Er konnte mich mit einer geladenen Pistole in der Hand und allein mit Sorrentino in einem Raum zusammenbringen; das würde mir allein nie gelingen. Und da war noch etwas, das er für mich tun konnte.
Ich führte die Zigarette an die Lippen und spürte ein Kribbeln, das nicht allein vom Nikotin herrührte und sich in meinem Körper verteilte. Dieses Kribbeln ließ mich wach werden, geistesgegenwärtig und stark.
»Ich muss Joe Cantelli treffen«, sagte ich, und der Rauch quoll aus meinem Mund.
Daultrey wirkte überrumpelt. »Das dürfte nicht gerade leicht sein.«
»Das ist mir klar. Aber ich komme nicht mit Ihnen, bevor Sie mir nicht versprechen, dass Sie ein Treffen für mich arrangieren. Las Vegas ist nur wenige Stunden von seinem Wohnort entfernt; es ist also nicht so, als würde ich ihn bitten, nach London zu fliegen. Ich muss ihn einfach sehen. Nur einmal. Denn sobald ich im Zeugenschutzprogramm bin, war’s das, und ich werde es nie mehr können. Außerdem ist er Charlies Bruder, Stanley. Kommen Sie, das können Sie mir nicht abschlagen.«
»Okay«, lenkte er ein. »Wir nehmen Kontakt zu ihm auf, versprochen.«
»Das reicht nicht.« Ich schüttelte den Kopf. »Wenn Sie den Tod von Charlies Mörder genauso sehr wollen wie ich, dann müssen Sie das hinkriegen. Ich mache mich nicht an Sorrentino heran, bevor Joe einem Treffen mit mir zugestimmt hat.«
»Also gut«, sagte er, ließ seine Zigarette fallen und trat sie aus. »Aber Sie müssen aufhören, ihn ›Charlie‹ zu nennen, Kate.« Und wie schon – es kam mir wie eine Ewigkeit vor – in der Hotelbar in Miami zuckte sein Mund, als er den Namen aussprach. Er sah mich an, und er war verärgert. »Sein Name ist nun einmal Antoni. Ich würde es begrüßen, wenn Sie ihm gegenüber so zuvorkommend wären, seinen wahren Namen zu benutzen.«
Ich warf meine noch brennende Zigarette auf den Kies. »Sie können mich mal, Daultrey«, sagte ich. »Ich habe ihn unter diesem Namen geheiratet und ihn auch beerdigt.« Ich ging an ihm vorbei zur Tür, zog meine Jacke an und schob die Ärmel über die Narben, die er inzwischen bemerkt haben musste. Gesagt hatte er dazu nichts. Bevor ich wieder hineinging, drehte ich mich noch einmal zu ihm um.
»Danke, dass Sie mir das mit Sorrentino gesagt haben«, erklärte ich. »Aber glauben Sie nicht, dass Sie Charlie besser kannten, nur weil Sie ihn länger kannten. Ich habe die letzten zwölf Monate ohne die andere Hälfte meiner Seele verbracht, Daultrey. Und wenn Sie nicht mal freiwillig bereit sind, diesem Wichser, der ihn mir weggenommen hat, die Kehle durchzuschneiden, dann nenne ich ihn auch verdammt noch mal so, wie es mir passt.«
Er packte mich am Arm, und ich musste der Versuchung widerstehen, ihm ins Gesicht zu schlagen.
»Sie sind eine Kämpfernatur, Kate«, sagte er, »und das ist gut so. Diese Wut werden Sie brauchen. Aber vor den anderen Agenten werden Sie sich benehmen müssen. Soweit das FBI betroffen ist, sind Sie die liebevolle Ehefrau, die sich keine Vorstellung davon gemacht hat, in was für ein furchtbares Schlamassel sie sich da hineinmanövriert hat. Jetzt weiß sie es, hat schreckliche Angst und wünscht sich nichts mehr als eine neue Identität in einer netten Kleinstadt weit weg von den bösen Typen, die ihren Mann auf dem Gewissen haben. Verstanden?«
Ich entwand ihm meinen Arm. »Ja, verstanden.«
Ich stürmte durch die Tür und polterte die Betonstufen hinunter.
»Kate«, sagte er und dann – ich war bereits an der zweiten Treppe – noch einmal: »Kate.«
Ich hielt inne und sah zu ihm hoch. Er verharrte im Türrahmen, das Neonlicht glättete seine Züge, und die großen, dicken Wolken standen hinter ihm am Himmel.
»Ich bin auf Ihrer Seite«, sagte er.
»Ja, Stanley«, log ich. »Ich weiß.«