Moritz und Dennis drängelten sich durch die Masse der Veranstaltungsgäste. Die meisten hatten sich im vorderen Teil der Katakomben versammelt und mit einem Glas Sekt auf die Promotion des Sohnes oder der Tochter angestoßen. Moritz musterte sie scharf. Einige schienen noch nicht mitbekommen zu haben, dass es vor der Tür zu einem Todesfall gekommen war. Andere wiederum waren kreidebleich. Sie standen an der Seite und rangen um Fassung oder versuchten den Schreck dadurch zu verarbeiten, dass sie hektisch ihre Eindrücke schilderten.
„Zum Glück sprechen die Gäste nicht alle die gleiche Sprache“, flüsterte Moritz Dennis zu, „sonst würde hier bereits Panik entstanden sein.“
Ein Blick zum Eingang sagte ihm, dass die Kollegen gerade den Raum betraten und die Gäste befragen wollten.
„Noch gibt es keinen Tumult“, antwortete Dennis, als er sich an einem großen dicken Mann vorbeischob.
„Dennis, du suchst hier weiter. Ich gehe an das andere Ende der Katakomben, dorthin, wo die Ehrung war.“
Dennis nickte.
Moritz musste einem lachenden Chinesen ausweichen, der offensichtlich zu viel Sekt getrunken hatte. Geschickt drehte er sich um die eigene Achse, machte noch zwei Schritte und stand dann dort, wo zuvor die Promotionurkunden vergeben worden waren.
Dieser Teil des Veranstaltungsorts hatte sich fast vollständig geleert, nur eine einzige Person saß noch inmitten der vielen Stuhlreihen. Es war Anja Kugler. Moritz ging schnurstracks auf sie zu, doch die Professorin würdigte ihn mit keinem Blick. Noch nicht einmal als er direkt vor ihr stand, hob sie den Kopf. Stattdessen starrte sie verloren in die Leere.
„Professor Anja Kugler?“, begann Moritz, „Kripo Mannheim. Ich hätte ein paar Fragen.“
Der Blick der Professorin wanderte langsam an Moritz hoch. Er sah, wie ihre Hände zitterten. Als sie ihm in die Augen schaute, entdeckte er jenen verängstigten, mürrischen Ausdruck darin, den er immer als den „Blick der Verzweiflung“ bezeichnete und in seiner Karriere schon öfter gesehen hatte. Ihre Kurzhaarfrisur war vollkommen zerstört. Sie musste sich mehrfach mit den Händen durch die Haare gefahren sein. Auch ihr Make-up war verschmiert. Der Lidstrich unter ihren Augen war verwischt und das Rot auf ihren Lippen nicht mehr zu erkennen. Stattdessen schienen sich ihre kantigen, sportlichen Gesichtszüge verstärkt zu haben.
„Sie wissen, dass Dr. Reinhardt Schönburg tot vor dem Gebäude liegt?“
Kugler nickte leicht.
Moritz hörte hinter sich jemanden kommen. Er fuhr herum.
„Der Tote ist aus Ihrem Fenster gestürzt!“, fiel Olivia den beiden mitten ins Wort. „Dennis hat mir gesagt, wo du bist“, flüsterte sie Moritz zu.
Moritz machte ein wenig Platz, damit sich Olivia direkt auf die Professorin zubewegen konnte.
„Olivia von Sassen“, stellte sie sich vor.
„Ebenfalls Kripo nehme ich an“, seufzte Anja Kugler.
„Ganz richtig“, entgegnete Olivia und fuhr gleich fort:
„Können Sie sich erklären, warum der Tote aus dem Fenster ihres Büros gestürzt ist?“
Kuglers Blick senkte sich wieder, sie starrte vor sich auf den Boden.
„Ich … ich weiß es nicht.“
Moritz schaltete sich ein.
„Haben Sie Reinhardt Schönburg aus dem Fenster gestoßen?“
Kuglers Lethargie verschwand schlagartig. Hektisch, beinahe aggressiv schüttelte sie den Kopf.
„Nein, das habe ich nicht!“
„Wer könnte es sonst gewesen sein?“
„Ich weiß nicht, wer es sonst gewesen sein könnte! Mein Zimmer war abgeschlossen. Was Schönburg dort gemacht hat und warum er aus dem Fenster gestürzt ist, weiß ich nicht!“
„Hat sonst noch jemand Zugang zu Ihrem Büro?“, schaltete sich Olivia wieder ein.
„Nein, niemand. Die Sekretärin nicht, die Hiwis nicht. Niemand“, erklärte sie und verfiel wieder in Lethargie.
„Denken Sie scharf nach, Frau Kugler! Kann sonst noch jemand in Ihrem Büro gewesen sein?“, hakte Olivia nach. Die Professorin war verwirrt. Als würde sie mit ihren Augen jemanden suchen, blickte sie durch den Raum.
„Nein, niemand.“
„Ich muss Sie darauf hinweisen, dass Sie unsere Hauptverdächtige sind, wenn Sie die einzige Person sind, die überhaupt Zugang zum Tatort hatte“, ermahnte Moritz sie.
Kugler schwieg einen Augenblick, dann hob sie den Kopf und begann zu reden.
„Es gibt einen Generalschlüssel beim Hausmeister. Andi Beck. Der wohnt hier gleich bei der Uni in B 2. Er muss auch Zugang zu meinem Büro haben.“
„Danke, Frau Kugler, das hilft uns weiter“, Moritz notierte sich Name und Adresse des Hausmeisters in einen kleinen Block, den er immer bei sich trug. „Ich muss Sie trotzdem bitten, mit ins Polizeipräsidium zu kommen. Meine Kollegen werden sich dort mit Ihnen beschäftigen.“
Die Professorin nickte verstehend und folgte den beiden ohne Widerstand.
„Und wir gehen zu Beck“, flüsterte Moritz Olivia beim Hinausgehen zu.
Olivia zog die Augenbrauen hoch.
„Ich hab ihn schon gegoogelt.“
Olivia und Moritz drängten sich ins Freie, wo die Spurensicherung den Fundort der Leiche weiträumig abgesichert hatte. Die Leiche war mittlerweile gut abgeschirmt, sodass sich die Schaulustigen verzogen hatten. Einige Beamte kümmerten sich um die restlichen Anwesenden und versuchten diese ruhig vom Gelände zu leiten. Das Rhein-Neckar-Fernsehen war mit einem kleinen Kamerateam vor Ort und tat sein Bestes, um die ersten O-Töne einzufangen. Aus dem Augenwinkel konnte Olivia beobachten, wie Dr. Klose mit Anja Kugler in einen Polizeiwagen stieg und sich zum Präsidium fahren ließ.
„Die Nacht ist noch lange nicht vorbei“, kommentierte Moritz die Szene, als er Olivias Blick bemerkte.
„Nein, noch sehr lange nicht“, antwortete Olivia. Danach sprachen beide eine Weile nichts mehr.
Olivia tat der Streit leid. Sie mochte es nicht, wenn Moritz und sie sich in die Haare gerieten. Manchmal jedoch ging er ihr mit seiner Art wahnsinnig auf die Nerven, und heute war so ein Tag gewesen. Sie wagte einen kurzen Blick auf ihren Kollegen, den sie geschickt als einen Blick auf den Verkehr an der Bismarckstraße tarnte. Er schien nicht mehr sauer auf sie zu sein. Olivia war froh darüber, bedauerte allerdings, dass sie nicht mehr mit Dennis hatte sprechen können. Das Ermittlerpaar überquerte die Bismarckstraße. Durch den Blaulichteinsatz vor der Universität hatte sich hier ein hohes Verkehrsaufkommen gebildet. Die vorbeifahrenden Schaulustigen versuchten einen Blick auf den Einsatz zu erhaschen, konnten jedoch von der Straße aus kaum etwas erkennen. Plötzlich hörte Olivia in ihrem Rücken eine Sirene und fuhr herum. „Hab ich mir doch gleich gedacht. Klose kämpft sich durch den Verkehr, ha, ha“, lachte Moritz.
„Wir nehmen lieber die grüne Fußgängerampel“, empfahl Olivia.
Vorbei an A 1 betraten die beiden die Kurpfalzstraße und bogen gleich darauf in die nächste Straße links ein, zwischen A 1 und B 1 hindurch. Dort lag B 2, wo Andreas Beck, der Hausmeister, wohnte.
„Was glaubst du, was gerade passiert ist?“, fragte Olivia.
„Schwer zu sagen“, zuckte Moritz mit den Schultern, „das ist alles sehr schnell passiert. Wir waren gerade beim Sekt –“, eine Pause trat ein, „und wenige Sekunden später lag eine Leiche vor uns.“
„Ich frage mich, wie die Professorin in dieses Bild passt.“
„Das herauszufinden, meine Prinzessin, ist unsere Aufgabe. Wie auch immer, wenn du mich fragst, hat sie Dreck am Stecken“, urteilte Moritz.
Sie gingen ein paar Schritte weiter.
„Wenn der Hausmeister wirklich der Einzige ist, der noch Zugang zum Büro hatte, dann haben wir den Fall vielleicht noch heute Nacht gelöst. Das wäre persönlicher Rekord. Aber daran glaube ich irgendwie nicht“, kommentierte Olivia.
„Aber was sollte der Hausmeister in Kuglers Büro mit Schönburg? Warum hätten sie sich genau da getroffen?“
Moritz blieb vor der ersten Tür von B 2 stehen und suchte die Klingeln ab.
„Du stehst vor der Hausnummer B 2, 1. Es ist aber B 2, 19“, sagte Olivia trocken.
„Hab ich aus dem Internet, dem komischen Ding voller Verschwörungen und kranker Kommentare, das du nicht magst.“
„Das liebe Internet“, kam es brummig von ihm.
„Komm schon. Ich erspar dir damit, dass du die geballten Klingeln von Quadrat B 2 absuchen musst.“
„Schon gut.“
Die beiden Kommissare liefen um das Quadrat herum, bis sie vor B 2, 19 standen. In Sekundenschnelle fand Moritz die Klingel.
„Alla gud!“ Er holte tief Luft, drückte darauf und wartete. Als sich nichts und niemand regte, klingelte Moritz ein weiteres Mal.
„Immer das gleiche Spiel.“
Olivia sah sich die Fenster genauer an.
„Wenn die Klingeln richtig platziert sind, wohnt der gleich hier unten im Erdgeschoss.“
Moritz ließ von der Klingel ab und presste seine Nase gegen das Fenster von Becks vermeintlicher Wohnung.
„Kannst du was erkennen?“, wollte Olivia wissen.
„Nein, ist viel zu dunkel.“
Nun stellte sich Olivia neben Moritz, um selbst einen Blick in die Wohnung zu werfen.
In diesem Moment geschah es. Plötzlich stand ein Mann hinter dem Fenster, der die beiden griesgrämig anschaute.
„Brauchda a Foddo, oder was?“ Der Mann öffnete das Fenster, neben ihm sprang ein Schäferhund mit den Vorderpfoten auf das Fensterbrett und verbellte sie laut. Olivia erschrak fürchterlich. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie sich wieder gesammelt hatte.
„Kripo Mannheim“, antwortete sie schließlich und zückte ihren Dienstausweis. Sie versuchte so kühl und gelassen wie möglich zu reagieren, obwohl ihr Puls noch immer raste. Der Hausmeister verzog keine Miene und wandte sich wieder seinem Hund zu.
„Komm, Brutus!“
Er knallte das Fenster zu und verschwand samt Hund genauso schnell in der Dunkelheit der Wohnung, wie er aufgetaucht war.
„Was macht der jetzt?“, fragte Olivia laut.
Moritz zuckte mit den Schultern: „Hoffentlich macht er auf und zwar ohne eine Waffe zu ziehen.“
Die beiden Kommissare standen vor dem Fenster und warteten eine Weile, bis sie Geräusche hörten. Der Mann öffnete ihnen die Eingangstür. Ein freundliches Willkommen sah jedoch anders aus.
„Wer sinn Sie? Zeige Sie ma mol Ihren Ausweis!“
„Olivia von Sassen, mein Kollege Moritz Martin, Kriminalpolizei Mannheim.“ Während sie sich vorstellte, zeigte sie dem Mann zugleich ihren Dienstausweis. Dieser studierte ihn ganz genau.
„Sind Sie Andreas Beck, Hausmeister an der Universität?“, unterbrach ihn Moritz.
Der Mann nickte.
„Dürfen wir reinkommen?“
Beck drehte sich wortlos um und schlürfte in seine Wohnung. Die beiden Kommissare verstanden dies als Aufforderung und gingen hinterher. Olivia wunderte sich über die Fubu-Jacke, die er trug. Aus ihrer Zeit in den USA erinnerte sie sich an diese Marke, die dort nur von Afroamerikanern getragen wurde. Fubu, das war die Abkürzung der afroamerikanischen Kleiderfabrik und gleichzeitig die Abkürzung für „For us by us“, „Für uns von uns“. Die Jacke hatte es zwar offensichtlich über den Atlantik geschafft, die Prämisse der Firma aber nicht. Wenn Beck eine solche Jacke trug, hieß das eventuell, dass er der Hiphop-Szene nahestand oder sich einer Art Ghetto-Klasse zugehörig fühlte, die sich gegen die Gesellschaft auflehnt, weil sie sich von ihr unterdrückt fühlt. Oliva war gespannt auf das Gespräch.
Aus einem Hinterzimmer war der Hund zu hören. Er bellte und kratzte an der Tür, sodass Olivia das Gefühl bekam, ein Monster würde sich dahinter verbergen. Vielleicht war der Hund ja ein Monster.
„Bitte nehmen Sie Platz, Frau Kugler.“ Dr. Klose saß hinter seinem Schreibtisch und bot der Professorin einen Stuhl an.
„Sie haben sicherlich Verständnis dafür, dass ich Sie mit aufs Präsidium genommen habe, bei all dem Rummel an der Universität.“
Kugler nickte. Sie blickte sich ängstlich um.
„Kannten Sie Reinhardt Schönburg?“, begann Klose.
„Flüchtig, ja.“
„Woher?“
„Er war Privatdozent an der Universität und vertrat den Lehrstuhl, den ich nach meiner Rückkehr aus den USA angenommen habe“, antwortete Kugler.
„Sie waren also Konkurrenten?“
„So habe ich es nie gesehen.“
„Aber vielleicht er“, gab Dr. Klose zu bedenken. „Wenn er in Abwesenheit eines Lehrstuhlinhabers denselben Lehrstuhl vertrat, den Sie später dann erhielten, hatte er bestimmt selbst ein Auge darauf geworfen.“
„Ich weiß nicht. Er hätte sich auf einen Lehrstuhl an einer anderen Universität bewerben müssen. Da hätte er eine Chance gehabt. Nicht in Mannheim. Selbst wenn er an der Universität hing.“
„Was ist passiert, als Sie den Ruf auf den Lehrstuhl annahmen? Ist Schönburg weiter an der Uni geblieben?“
„Nur noch ein Semester. Er musste danach seine Hochschulkarriere beenden. Er hat es nicht geschafft, innehalb der Zeit, die das Hochschulrahmengesetz vorgibt, einen eigenen Lehrstuhl zu erhalten. Das bedeutet das Ende der Karriere – per Gesetz.“
„In gewisser Weise haben Sie ihm also die letzte Möglichkeit genommen, eine Professor zu erhalten?“, warf Dr. Klose ein. „Er muss Sie also unbedingt als Konkurrentin empfunden haben, auch wenn Sie das ihm gegenüber nicht getan haben.“
„Hören Sie, ich habe mich anständig auf diese Professur beworben, die er nie erhalten hätte!“, erwiderte Kugler trotzig, „Reinhardt Schönburgs Karriere ist nicht an mir gescheitert, sondern an ihm selbst!“
„Das sehen Sie so. Er mag es jedoch anders gesehen haben.“
Der Kriminaldirektor legte eine Pause ein. Er erkannte zwar die Rivalität zwischen dem Opfer und der Professorin, konnte bei ihr bislang aber kein Tatmotiv ausmachen. Dann begann er wieder: „Es gibt nur zwei Personen, die Zugang zu Ihrem Büro hatten, in dem oder aus dem heraus der Mord passiert ist. Sie und der Hausmeister. Warum sollte ich glauben, dass Sie es nicht waren?“
„Ich muss mich doch jetzt nicht vor Ihnen verteidigen! Ich bin unschuldig und habe nicht die Pflicht, dies zu beweisen.“
„Wo waren Sie zur Tatzeit?“
„Beim Sektempfang.“ Ein kurzer Moment des Schweigens trat ein. Dann fügte sie hastig hinzu: „Dafür gibt es Zeugen!“
„Und dennoch wäre es Ihnen möglich gewesen, die Veranstaltung kurz zu verlassen und Schönburg zu töten.“
„Warum sollte ich das tun? Und woher hätte ich wissen sollen, wo er ist?“
„Vielleicht hat er sich von Ihnen verletzt gefühlt, vielleicht wollte er sich an Ihnen rächen. Und Sie haben ihn im Affekt aus dem Weg geschafft“, mutmaßte Dr. Klose. Auf ihre zweite Frage ging er nicht ein.
„Das ist eine ungeheuerliche Unterstellung! Ich sage jetzt nichts mehr. Lassen Sie mich meinen Anwalt anrufen!“
Diese Trotzreaktion kannte der Kriminalbeamte nur zu gut. Gelassen antwortete er ihr: „Wenn Sie dieses Spiel spielen, spiele ich ein anderes. Sie sind dringend tatverdächtig. Der Mord wurde aus Ihrem Büro heraus getätigt. Deshalb bleiben Sie in Untersuchungshaft!“
„Nein, das bleibe ich nicht!“, brüllte Kugler wie aus dem Nichts Dr. Klose an, der erschrak, es sich aber nicht anmerken ließ. Dennoch hatte er eine solch heftige Reaktion nicht erwartet. In Gedanken notierte er, dass er in der Mitschrift unbedingt vermerken musste, dass die Professorin impulsiv und zornig reagieren konnte. Auf was sie so reagierte, musste er erst noch herausfinden.
Er fuhr fort: „Nehmen wir an, dass Sie nichts mit dem Vorfall zu tun haben. Können Sie sich erklären, warum Schönburg ausgerechnet heute an der Universität war? War er auf die Feier eingeladen?“
„Nein, war er nicht“, antwortete Kugler kurz angebunden.
„Und warum war er ausgerechnet in Ihrem Büro? Hatten Sie etwas miteinander zu tun?“
Sie schüttelte hektisch den Kopf. Die Professorin sagte nichts weiter. Vor ihrem inneren Auge zog ihre ganze Karriere wie in Zeitlupe vorbei. Sie wusste, dass sie nur einen einzigen Schritt davon entfernt war, alles zu verlieren, und das ausgerechnet an dem Tag, an dem sie mit der Verabschiedung der ersten Absolventen ihrer neuen Graduiertenschule ihre bisherige Arbeit hatte krönen wollen.
Andi Beck war bis in die Küche gelaufen, dort hatte er sich zu den beiden Kommissaren umgedreht und die Hände in die Hüften gestemmt. Dank seiner kurzen, stämmigen Figur erinnerte Olivia diese Pose an einen der Zwerge aus den Hobbit-Filmen. Sie verspürte auch eine latent aggressive Aura, doch wusste sie nicht, ob Beck dies ausstrahlte, weil sie ihn am Abend gestört hatten oder weil er etwas zu verbergen hatte.
„Ah, sind wir noch Junggeselle?“, kommentierte Moritz die Inneneinrichtung der Wohnung und spielte darauf an, dass daran offenbar seit Jahren nichts mehr gemacht worden war und eine weibliche Hand eindeutig fehlte.
„Haben wir einen Clown gefrühstückt, oder was?“ konterte Beck.
Olivia musste schmunzeln. Moritz hatte mit seiner spitzen Bemerkung den Nagel mit dem Hammer auf den Kopf getroffen. Nichtsdestotrotz wollte sie die ohnehin schon vorhandene Grundaggressivität Becks nicht zur Eskalation bringen und wäre froh gewesen, wenn ihr Kollege den Hausmeister nicht gereizt hätte. Sie sah es als unabdingbar an, dass sie das Gespräch mit Beck führte, und warf Moritz einen scharfen Blick zu.
„Sie wissen, warum wir hier sind?“, fragte Olivia.
„Woher soll ich des wisse?“
„Sagt Ihnen der Name Reinhardt Schönburg etwas?“
Der Hausmeister zuckte zusammen. Zwar blieb seine Verteidigungshaltung davon unberührt, doch der Gesichtsausdruck änderte sich. Er wirkte sichtlich verblüfft.
„Sie kennen ihn also“, legte Olivia nach.
„Ja, die Drecksau kenn isch“, bestätigte er.
„Dann erzählen Sie uns mal, woher Sie sich kennen“, forderte Moritz Beck auf, der ein wenig zögerte.
Olivia erkannte in allen seinen Handlungen ein tiefes Misstrauen gegenüber der Polizei, eventuell fühlte er sich in der Vergangenheit einmal zu Unrecht von ihren Kollegen behandelt. Und wahrscheinlich war er schon öfter mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Bei seinen Aussagen, das war ihr klar, mussten sie vorsichtig sein, vielleicht würde er lügen. Auf jeden Fall traute er ihnen nicht. Das stand für Olivia fest.
„Was ist los? Möchten Sie uns nicht erzählen, woher Sie sich kennen?“
Nachdem er noch ein paar Augenblicke gezögert hatte, gab er endlich seine Verteidigungshaltung auf und setzte sich zu den beiden Kommissaren, die sich inzwischen am Tisch niedergelassen hatten.
„Des is noch aus der Zeit, wo mein Vadder Hausmeeschder an da Uni war. Des is jetz zwonzisch Johr her“, begann er. „Domols hot moin Vadder soin Job wegen dem Drecksack verlore.“
Scheinbar verspürte er jetzt einen gewissen Rededrang, was das Thema Reinhardt Schönburg betraf. Olivia lehnte sich angespannt nach vorne, um besser zuhören zu können.
„Was ist da genau passiert, Herr Beck?“, hakte Moritz nach.
„Der hot moin Vadder ohgezoigt, wege Diebstahl. Un die Uni-Leitung hot dann moin Vadder entlosse. Un seither geht’s uns halt schlescht. Moin Vadder hat ohgfangen zu trinke, moi Mudder hot sich dann von ihm getrennt, und mir Kinner, moi Schweschter und ich, mir hawe ihn dann durchbringe misse. Bis zum Schluss. Ich hab jo selbst fascht nix, außer die alt Wohnung von moine Eldern.“
„Wie kommt es, dass Sie nun für die Universität arbeiten?“, fragte Olivia.
„Vor uhgfähr drei Johr hot sich dann rausgstellt, dass sie moin Vadder dortmols zu Uhrescht behandelt hawwe. Awwa weil er bereits dot war, hot die Uni mir als Ausgleich den Job als Hausmeeschder ohgebote. Sozusage, um des Uhrescht widda gut zu mache.“
„Und als Hausmeister haben Sie einen Generalschlüssel für alle Türen?“
„Richtig. Ich konn so ziemlisch überall nei.“
„Reinhardt Schönburg wurde heute an der Universität ermordet“, konfrontierte ihn Olivia mit der Realität. „Er wurde durch ein Fenster aus dem vierten Stock gestoßen. Den Schlüssel zu diesem Raum haben zwei Personen: Sie und eine Professorin.“
Beck lachte, dann verstand er.
„Sie meene mich? Ach was! Ich dät doch sowas nie machen! Aber ganz nebenboi: Die Drecksau hot des verdient.“
„Wo waren Sie zwischen 17 und 18.30 Uhr, Herr Beck?“
„Spaziere! Mit moim Hund. Schillerplatz“, lauteten die Angaben Becks kurz und jetzt auch wieder offen aggressiv.
„Gibt es dafür Zeugen?“, fragte Olivia.
Irgendwie glaubte sie ihm nicht. Die Antwort kam ihr zu schnell und zu sicher.
„Außer dem Hund!“, warf Moritz ein.
„Bisch en ganz Witzischer!“, kläffte Beck Moritz an. „Was weeß denn isch, wer misch gsehe hot? Den Schlissel zu dene Büros hab ich üwrigens immer in moim Kabäusche an der Uni. Den hab ich außerhalb der Arbeit gar net boi mir.“
„Wer weiß davon?“, fragte Olivia blitzschnell nach.
„Kee Ahnung. Awa wenn man weeß, wu der Schlissel is, kummt man überall noin.“
Olivia hatte auf eine schnelle Aufklärung des Falles gehofft, auf einen Totschlag, der im Affekt geschehen war, aber wenn der Schlüssel öffentlich zugänglich war, dann musste man mit allem rechnen, an der Universität waren täglich Tausende zugegen. Vorausgesetzt Andreas Beck sagte die Wahrheit. Sie zückte ihr Handy und verständigte Fatih, damit er an der Universität das „Kabäusche“ des Hausmeisters untersuchte und den Schlüssel sicherstellte. Als sie auflegte, hörte sie, wie Moritz den verdutzten Beck belehrte.
„Sie sind tatverdächtig. Bitte halten Sie sich zu unserer Verfügung und machen Sie keine Dummheiten, sonst droht Ihnen die Untersuchungshaft.“
Der Gesichtsausdruck von Andreas Beck erinnerte sie daran, warum die Polizei in einigen Kreisen der Bevölkerung nie wirklich beliebt sein würde.
Von B 2 war es nicht sonderlich weit nach L 6. Die beiden Kommissare verließen die Wohnung des Hausmeisters und liefen zum Revier, wo ihr Dienstwagen stand. Die Luft war kalt, es roch nach Schnee.
„Glaubst du ihm?“, fragte Olivia, sobald sie außer Hörweite waren.
„Ich weiß nicht. Im Grunde lehnt er die Polizei total ab. Andererseits hat er sich mit seiner Aussage über Schönburg selbst schwer belastet. Ein Tatmotiv hätte er: Rache. Ich lass ihn überwachen. Nicht, dass er verschwindet.“
„Aber wenn er die Tat begangen hätte, wäre er dann nicht sofort verschwunden und hätte nicht auf uns gewartet und ausgesagt?“, zweifelte sie. „Und überhaupt, warum sollte er sich mit Schönburg ausgerechnet im Büro einer Professorin treffen?“
„Das, Prinzessin, müssen wir herausfinden.“
Den Rest des Weges legten sie schweigend zurück. Vor dem Polizeipräsidium angekommen, zückte Olivia ihr Handy und kontaktierte Dr. Klose. Sie informierte ihn über den Zwischenstand der Ermittlungen und darüber, dass sie nun mit Moritz noch zu Schönburgs Wohnung in Feudenheim fahren wollte. Anschließend ging sie zu ihrem Kollegen in den Innenhof, wo ihr Dienstwagen stand und er schon auf sie wartete. Wie gewohnt stieg er auf der Beifahrerseite ein, während sich Olivia hinter das Steuer schwang und losfuhr. Als sie an der großen Kreuzung vor dem Bahnhof stand und geradeaus in Richtung Planetarium fahren wollte, unterbrach er das Schweigen. „Fahr über das Krankenhaus. So kommst du schneller nach Feudenheim als über die Autobahn.“
Sie schaute ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue an. „Glaub’s mir“, legte Moritz nach, und nach einer weiteren Pause fügte er hinzu: „Ich leg mal Musik auf.“ Er machte Anstalten, das Handschuhfach zu öffnen.
„Halt!“, wollte es Olivia über die Lippen, doch sie riss sich zusammen. Im Handschuhfach lag ihr Strafzettel, den sollte Moritz nicht in die Finger bekommen, doch hätte sie ihn abgehalten, wäre er erst richtig neugierig geworden. Er kramte eine Weile, dann zog er eine selbstgebrannte CD heraus, offenbar hatte er das Ticket nicht entdeckt, denn es kam keine diesbezügliche Bemerkung. „Grey Black & Blond!“
„Was ist denn das?“, fragte Olivia erstaunt.
„Bester Mannheimer Cover-Rock“, lautete die Antwort.
Es war das Letzte, was sie von ihm hörte, bis sie in Feudenheim angekommen waren und gleichzeitig „Highway to Hell“ zu Ende war. Als sie geparkt hatte, steckte Moritz die CD zurück in die Hülle.
„Ich steh ja eher auf Elektronisches“, erklärte Olivia. „Rebuilt Electric, bestes Mannheimer Elektro! Das hören wir auf der Rückfahrt.“
„Ich mag nur Handgemachtes“, knurrte Moritz und stieg aus.
„Das ist handgemacht!“
Sie hatten direkt an Schönburgs Adresse geparkt. Das Haus war hell beleuchtet, die Tür stand weit auf. Offensichtlich waren die Kollegen von der Spurensicherung bereits am Werk. Ein Polizist schickte gerade die neugierigen Nachbarn zurück in ihre Häuser.
„Keine schlechte Gegend!“, entfuhr es Olivia, als sie die Villen in der Nachbarschaft sah. „Wie kann sich das ein gescheiterter Privatdozent überhaupt leisten?“
Sie betrachtete das Haus. Früher hatte sie immer geträumt, selbst einmal so zu wohnen, in einer alten Stadtvilla mit großen Fenstern, kleinen Torbögen und einem Türmchen.
Es war spät geworden. Ein Mann ging noch mit seinem Hund spazieren und bog schließlich in eine Seitenstraße ab, ansonsten war niemand mehr zu sehen. Es war Nacht, und Ruhe lag über Feudenheim.
„Die Herrschaften von der Spurensicherung haben heute alle Hände voll zu tun“, kommentierte Moritz, während er gemeinsam mit Olivia über einen kurzen Kiesweg auf die Villa zuschritt. Nachdem sie dem Polizisten am Eingang ihre Dienstausweise gezeigt hatten, betraten sie Schönburgs Zuhause.
„Wie lange seid Ihr schon hier?“
„Gerade erst gekommen“, antwortete einer der Kollegen, „aber so viel kann ich schon sagen: Ein Kellerfenster ist mit Gewalt aufgebrochen worden. Jemand war schneller und ist in das Haus eingestiegen.“
„Wahrscheinlich der Mörder“, seufzte Olivia.
Sie betraten die Villa.
„Bescheidenes Anwesen“, entfuhr es Moritz.
Olivia bemerkte sofort Schönburgs extravaganten Geschmack. Das Haus war reduziert, aber stilvoll eingerichtet. Die Wände und Möbel waren allesamt in hellen Farben gehalten, die Gemälde fielen dadurch umso stärker ins Auge. Was Olivia besonders an diesem Gebäude gefiel, war der Umstand, dass Schönburg die meisten Türen hatte ausbauen lassen. Alles wirkte wie ein großer Raum, der sich in Nischen unterteilte.
Ein kleineres Zimmer stach besonders hervor. Das musste Schönburgs Bibliothek gewesen sein. Die gesamte Längswand nahm ein beeindruckendes Regal ein, das von oben bis unten mit Büchern vollgepackt war, auf den ersten Blick handelte es sich um ältere Standardwerke mit Ledereinband. In der Mitte des Raumes standen lediglich ein Chesterfieldsessel, ein edler runder Beistelltisch und eine Leselampe.
Als sie in die nächste Etage kam, wo sie Schlafzimmer und Bad vermutete, entdeckte Olivia zu ihrer Überraschung, dass sich dieses Stockwerk vollkommen vom Erdgeschoss unterschied. Während dort Ordnung und Stil beeindruckten, herrschten oben Unordnung und Nachlässigkeit. Bereits auf dem Gang standen so viele Bücherberge, dass sie sich mit Moritz kaum daran vorbeidrängen konnte.
„Er hat wohl viel gelesen“, kommentierte sie die Stapel lakonisch.
„Oder einfach nur Bücher geliebt.“
Olivia glaubte das nicht und nahm sich ein Buch. Schönburg musste intensiv damit gearbeitet haben, denn viele Stellen waren unterstrichen, es gab Markierungen in allen Farben, Lesezeichen waren eingeklebt. Bei einem zweiten verhielt es sich genauso, ebenso bei einem dritten und vierten. Es bestand kein Zweifel, er hatte mit diesen Büchern richtig gearbeitet, doch für was?
„Scheinbar war er Wissenschaftler bis ganz zum Schluss“, stellte sie fest.
Olivia nahm die erstbeste Tür, die rechts vom Gang abzweigte, und kam in Schönburgs Arbeitszimmer. Auf dem Gang herrschte Unordnung, doch das Büro war ein einziges Chaos. Olivia war sich nicht sicher, ob dies Schönburgs Arbeitsweise entsprach oder ob vor ihnen schon jemand in diesem Zimmer gewesen war und es verwüstet hatte. Ordner lagen wild aufeinander gestapelt. Manche waren geöffnet, manche zerfleddert. Überall stapelten sich kopierte Blätter, selbst mitten im Raum. Einer der riesigen Stapel war umgekippt und hatte sich über das Zimmer verteilt. Unter dem Schreibtisch stand ein Computergehäuse. Er war geöffnet. Die beiden Platten an der Seite des Towers waren entfernt. Mehr konnte sie nicht erkennen.
Sie gab den Spurensicherern Bescheid: „Ich weiß nicht, ob der Tote diesen Raum so verlassen hat oder ob er verwüstet wurde. Bitte untersucht den Computer und schaut nach, ob die Festplatte fehlt. Wenn nicht, dann bringt sie mit zur Analyse.“
Sie wollte gerade gehen, als ihr Blick auf ein geöffnetes Päckchen fiel, das am Boden lag. Schnell hob sie es auf und betrachtete es genauer. In ihm waren drei Bücher verpackt. Olivia zog sie heraus. Es war eine Biographie über den Deutsch-Amerikaner Johann Jacob Astor, ein Buch zur Soziologie der Migration und ein weiteres über die Geschichte New Yorks. Als sie die Bücher wieder zurückstecken wollte, fiel ihr eine Karte auf, die sich im Päckchen verklemmt hatte.
„Dorothee Haber, Donnerstag, 18 Uhr, Murphy’s Law“, las sie laut. Das Murphy’s kannte sie, das war der Irish Pub in der Nähe des Hauptbahnhofes, den sie letzten Sommer ein paar Mal besucht hatte, weil man sich da wunderbar in die Sonne setzen konnte. Sie nahm das Päckchen an sich und hoffte, dass Dorothee Haber eine heiße Spur war. Anschließend lief sie den Gang entlang zur zweiten Tür rechts, aus der Moritz gerade heraustrat.
„Also mein Stil ist das nicht!“, kommentierte er das Badezimmer.
Olivia warf einen kurzen Blick hinein. Hier herrschte kein Chaos. Wie im Erdgeschoss waren die Farben aufeinander abgestimmt. Die Wandvertäfelung war jedoch ganz in Schwarz gehalten. Die Armaturen waren aus Gold. Irgendwie erinnerte das Badezimmer Olivia an Dekadenz.
„Hast du etwas entdeckt?“, fragte sie Moritz.
„Nichts von Bedeutung“, entgegnete dieser, „wir müssen die Analyse abwarten.“
Während Moritz sich die dritte Tür auf dem Flur vornahm, die in einen Raum führte, der auf der linken Seite lag, untersuchte Olivia die Bücher im Gang nochmals genau. Von einigen Titeln machte sie ein Handyphoto. Sofern sie bei der Themenvielfalt durchblickte, waren die meisten Fachliteratur – Jura, Politologie, Geschichte und Volkswirtschaftslehre. Als sie sich ganz nach unten beugte, fielen ihr mehrere alte Zeitungsseiten und Ausschnitte aus Wissenschaftsmagazinen auf. Auch hier hatte jemand wild einige Stellen markiert, ausgeschnitten und gesammelt. Sie zog einen Artikel aus dem Stapel. Er handelte von einem aufstrebenden Mannheimer Wissenschaftler, dessen Forschungsarbeit mit mehreren Preisen ausgezeichnet worden war und der eine Professur in Hamburg erhalten hatte. Sie vertiefte sich eine Weile in den Artikel, bevor sie den nächsten herausholte. In diesem ging es um den Mannheimer Professor Dieter Meerstadt. Olivia notierte sich die Namen, legte die Artikel zurück und gab den Kollegen Bescheid, dass sie den ganzen Stapel mit ins Präsidium nehmen sollten.
„Komm mal her und schau, was ich entdeckt habe“, hörte sie Moritz aus dem dritten Zimmer rufen, was sie aus ihren Gedanken an die Wissenschaft zurück in die Gegenwart in Feudenheim holte.
Neugierig ging Olivia zu Moritz und stand sogleich im luxuriösesten Schlafzimmer, das sie jemals gesehen hatte. Nicht schlecht, Herr Schönburg. Fast hätte sie anerkennend gepfiffen. Neid kam allerdings nicht in ihr auf, denn selbst wenn sie jemals das Geld für eine solche Einrichtung gehabt hätte, hätte sie ihr Schlafzimmer nie auf diese Weise ausgestattet. Die Wand war rot gestrichen und wirkte für Olivias Geschmack aggressiv, ein Ort der Ruhe schaute ihrer Meinung nach anders aus. In der Mitte des Raumes stand ein Bett, das sie an die Herrenhäuser der amerikanischen Südstaaten erinnerte. Es hätte ohne Weiteres aus „Fackeln im Sturm“ oder aus „Vom Winde verweht“ stammen können. Einrichtung war eben Geschmackssache. Sie warf einen suchenden Blick um sich. Was hatte Moritz denn entdeckt? Ihre Augen huschten über das Bett und die Wände. Als sie nichts fand, fragte sie ihn direkt. Kaum hatte sie die Frage gestellt, fiel ihr auf, dass er etwas hinter seinem Rücken versteckt hielt.
„Komm schon, zeig es!“, forderte sie ihn auf.
Moritz gehorchte und zog ein großes, kunstvolles Schwarzweißfoto mit edlem Rahmen hervor.
„Der kommt mir bekannt vor. Ich weiß nur nicht, woher ich dieses Gesicht kenne“, gestand Moritz, während er auf das Bild schaute.
Das Foto bildete einen jungen, dunkelhaarigen Mann ab, der verträumt in die Ferne blickte.
„Mir kommt das Gesicht auch bekannt vor, Moritz“, murmelte Olivia.
Sie dachte angestrengt nach, dann fiel ihr etwas ein. Blitzschnell griff sie zu ihrem Handy und schaute sich das Foto an, das sie zuvor auf der Promotionsfeier geschossen hatte.
„Hier! Der könnte es sein!“ Sie hielt Moritz das Foto unter die Nase und zog es mit den Fingern groß, wodurch es leicht unscharf wurde. Er war dennoch überrascht.
„Du meinst –? Der Typ auf dem Bild? Der Jahrgangsbeste auf der Feier?“
„Und ob ich das meine!“
Der Schatten stand abseits von Schönburgs Villa in Feudenheim und beobachtete aus einem Gebüsch heraus, das Vorgehen der Polizei. Ich habe, was ich will, dachte er sich und strich mit der Hand über die Festplatte in seiner Tasche. Nun würde ihm die Polizei nichts mehr anhaben können. Es war für ihn nur logisch, diese Festplatte in seinen Besitz zu bringen. Ganz gleich, was Schönburg sonst noch geplant hatte, die Daten darauf gehörten jetzt ihm, ihm ganz allein und so sollte es bleiben. Vorsichtig tastete er mit seinen Fingern noch einmal nach ihr. Ja, sie war noch da.
Die Gestalt verharrte eine Weile und kauerte im Gebüsch. Viel konnte sie nicht erkennen. Die Polizei würde nun das Haus auf den Kopf stellen, einen Hinweis auf sie und ihre Tat würden sie dennoch nicht finden.
Nach einer Weile sah der Schatten, wie sich die Tür der Villa öffnete. Ein Mann und eine Frau traten ins Freie. Er zuckte zusammen. Bei dem Mann war er sich nicht sicher, aber die Frau hatte er schon einmal gesehen. Es war die Frau mit den auffälligen dunklen Locken, die wenige Stunden zuvor im Ehrenhof der Uni gestanden und sich über die Leiche gebeugt hatte, die Frau, von der er vermutete, dass sie ins Gebäude gerannt war, um ihn zu erwischen. War sie bei der Polizei? Das konnte nicht sein! Sosehr er sich auch wünschte, dass es sich bei der Frau in der Uni um eine dortige Mitarbeiterin handelte, musste er doch schließlich der Wahrheit ins Gesicht sehen. Diese Frau war Kriminalpolizistin, und er hatte den Eindruck, dass sie etwas wusste oder ahnte. Ja, sie muss es gewesen sein, die ihn hatte zur Strecke bringen wollen. Diese Frau und er. Na warte, er war bereit für das Katz-und-Maus-Spiel.
Aber war sie es auch tatsächlich? Ahnte sie, dass sie nun dieses Spiel spielen würden? Wenn der Schatten die Wahl gehabt hätte, dann hätte er sich einen alten Kommissar mit ergrautem Haar gewünscht, jemanden, den er hätte ernst nehmen können. Doch dieses junge, sportliche Mädchen? Nein, das konnte ihm unmöglich auf die Schliche kommen. Und sollte sie es unerwartet doch tun, würde er sein Geheimnis ein weiteres Mal verteidigen. Da konnte er keine Ausnahme machen.
Dr. Fatih Üstbas gähnte. Es war spät, für ihn zu spät. Er war ein Frühaufsteher und arbeitete nur ungern bis tief in die Nacht. Der heutige Tag war gemütlich vor sich hingeplätschert. Er wäre nicht weiter erwähnenswert gewesen, wenn es nicht zu dem Todesfall an der Universität gekommen wäre. Gegen 19 Uhr war er gerade im Begriff gewesen, nach Hause zu gehen, weil er seiner Frau versprochen hatte, noch schnell im Supermarkt einzukaufen. Doch dann war der Notruf gekommen. Er war zum Tatort geeilt, hatte den Einsatz der Spurensicherung koordiniert und die Leiche in die Gerichtsmedizin beordert. Während er selbst dorthin unterwegs gewesen war, hatte er zu Hause angerufen, seine Frau vertröstet und mit jedem der vier Kinder gesprochen, er hatte viermal erklärt, warum er sie nicht ins Bett bringen könne, und noch eine kurze Gutenachtgeschichte für jeden erfunden. Nun stand er mit einer Tasse starkem schwarzem Kaffee in der Hand am Eingang des Obduktionsraumes und ließ sich die vergangenen Stunden noch einmal durch den Kopf gehen. Am Ende nahm er einen weiteren großen Schluck Kaffee und ging in sein Büro, um den Obduktionsbericht zu diktieren.
„Obduktionsbericht von Dr. Fatih Üstbas, Leiter der Kriminaltechnischen Untersuchung Mannheim“, das kam in einem Zug, er musste über diesen Satz nicht mehr nachdenken, da er ihn schon unzählige Male gesprochen hatte. „Bei der Leiche handelt es sich um Dr. Reinhardt Schönburg, ehemals Privatdozent an der Universität Mannheim. Laut Zeugenaussage ist der Betroffene aus dem vierten Stock der Mannheimer Universität gefallen. Aus einer Höhe von circa …“, Fatih rief sich das Universitätsgebäude in Erinnerung und versuchte die Fallhöhe abzuschätzen. „… aus einer Höhe von circa 15 Metern. Die Leiche hat mehrere innere Brüche an beiden Oberschenkeln, der linken Elle und am linken Handgelenk. Nahezu jedes Organ hat innere Verletzungen, Hämatome sind am ganzen Körper zu finden. Der Betroffene war allerdings noch nicht tot, als er aus dem Fenster fiel, erst durch den Aufprall verletzte er sich im Bereich der Halswirbel so stark, dass er sofort verstarb.“
Er räusperte sich.
„Es steht also fest“, schloss Fatih seinen Bericht, „dass Reinhardt Schönburg durch Genickbruch beim Aufprall gestorben ist.“
Er ging mit der Stimme nach oben, denn er war noch nicht fertig.
„Hinzu kommt, dass sich an der rechten Schläfe eine große Wunde befindet, durch die er viel Blut verloren hat. In dieser Wunde konnten Überreste eines Goldüberzuges festgestellt werden. Die Art des Bruchs der Schädeldecke an dieser Stelle deutet zudem daraufhin, dass dieser Gegenstand rund war und dem Opfer aus kurzer Entfernung an den Kopf geschlagen oder geworfen wurde.“
Er nahm einen Schluck Kaffee.
„Einen solchen Gegenstand hat die Spurensicherung bislang noch nicht sichergestellt. Ende.“
Damit war der Obduktionsbericht fertig. Fatih schaute auf die Uhr, es war 23.30 Uhr. Nun würde er endlich nach Hause gehen. Eine Sache musste er allerdings vorher noch erledigen.
Er zog seine Krawatte gerade, setzte sich aufrecht hin und griff zum Telefonhörer. Diese Masche hatte er sich vor Jahren angewöhnt, weil er fand, dass er besser klang, wenn er ordentlich angezogen und in einwandfreier Körperhaltung an seinem Schreibtisch saß. Er wählte Dr. Kloses Nummer, in der Hoffnung, dass dieser ebenfalls noch im Polizeipräsidium war, und sollte nicht enttäuscht werden.
„Fatih Üstbas, Kriminaltechnische Untersuchung, guten Abend, Herr Dr. Klose“, begann Fatih. „Der Obduktionsbericht ist fertig und wird Ihnen gleich zugeschickt. Eine Sache habe ich noch. Das Opfer wurde vor dem Sturz durch einen runden, mit Goldfarbe überzogenen Gegenstand schwer am Kopf verletzt. Dieser Gegenstand wurde noch nicht gefunden. Könnten Sie bitte noch heute Nacht eine weiträumige Suche um die Universität herum in Mülltonnen und Gebüschen durchführen lassen, bevor die Stadt morgen früh die Mülleimer leert?“
Olivia fuhr Moritz von Feudenheim nach Hause in die Neckarstadt. Der Tag war lang gewesen, und sie hatte das dringende Bedürfnis, bald ins Bett zu kommen. Wieder hatte sie die Strecke nördlich des Neckars gewählt, damit sie nicht durch die Stadt musste, sondern schnell und direkt zu Moritz’ Wohnung kam. Ihr war nicht klar, ob Moritz döste oder schon schlief. Auf Musik hatte sie auch keine Lust, so war es im Wagen sehr ruhig. Nur hin und wieder war der Autoblinker zu hören.
Olivia versuchte das Geschehene zu verarbeiten. Das Bild des toten Mannes zu ihren Füßen ließ sie nicht los. Das Geräusch des Aufpralls, das blutige Gesicht, das beinahe nicht mehr menschlich aussah. All dies zeigte ihr, dass das Angesicht des Todes sie trotz all der Jahre im Polizeidienst nach wie vor tief bewegte. Vielleicht war dies auch besser so, weil sie auf diese Weise menschlich blieb und nicht abstumpfte.
Bevor all dies passierte, war der Abend weitaus schöner und romantischer gewesen. Ihre Gedanken wanderten zu Dennis. Sie hatte den Eindruck, dass er offen mit seinem Interesse an ihr umging, doch war sie sich nicht sicher, wohin die Reise gehen sollte. Irgendwie erschien es ihr, als hätte er seine Karten auf den Tisch gelegt und sie müsse nun entscheiden, ob sie mitspielen wolle oder nicht. Diese Situation gefiel ihr ganz und gar nicht. Sie hatte nicht das Bedürfnis, jetzt schon irgendwelche Entscheidungen zu treffen, sondern wollte Dennis zunächst einfach nur kennenlernen. Doch wenn sie der Eindruck nicht täuschte, schien er da offensiver zu sein, als es ihr lieb war. Sie war noch tief in ihre Gedanken versunken, als sie am Tor zur Neckarstadt vorbeifuhr, und die Scheinwerfer den Platz für einen Moment erhellten. Plötzlich schreckte Moritz hoch und war hellwach.
„Die Schweine!!! Halt sofort an!“, brüllte er und war sofort auf 180.
Olivia erschrak und war so überrascht, dass sie seiner Anweisung ohne zu zögern folgte. Noch bevor sie rechts anhalten konnte, riss Moritz die Beifahrertür auf und sprang aus dem Auto. Schimpfend und fluchend verschwand er in der Dunkelheit. Olivia parkte ein Stück entfernt, aber vorschriftsmäßig und stellte den Motor ab. Als Moritz auch nach fünf Minuten nicht wieder am Auto war, stieg sie aus und lief vorsichtig in die Richtung, in die er verschwunden war. Sie konnte ihn in der Dunkelheit nirgends entdecken.
Als sie auf einem kleinen Platz ankam, der zum größten Teil aus rötlichen Steinen bestand und in dessen Mitte ein Tor stand, zückte sie ihre Taschenlampe und leuchtete das Tor genau aus. An ihm hingen die letzten Fetzen einer Strickverkleidung herunter. Olivia wunderte sich und leuchtete den Platz ab, überall fand sie Blumen, die jemand gerade aus den Beeten gerissen hatte. Endlich hörte sie Schritte. Außer Atem kam Moritz zurück.
„Die Schweine!“, fluchte er und stützte sich auf seinen Knien ab, als wäre er gerade beim Marathonlauf ins Ziel gekommen.
„Was ist los?“
Moritz holte noch einmal tief Luft, erst dann konnte er antworten.
„Hier, die von der Strickguerilla haben sich enorm Mühe gegeben, diesen Platz zu verschönern. Die haben das ganze Tor umstrickt, Blumen gepflanzt und kümmern sich drum, dass der Platz sauber bleibt. Nachts und heimlich.“
„Eine Strickguerilla, hier?“, wunderte sich Olivia.
„Ja, ich kenn ein paar von denen. Das darf ich natürlich nicht dem Ordnungsamt sagen, aber im Grunde tun die ja was Gutes. Und die Stadt drückt ein Auge zu“, er atmete noch einmal tief durch.
„Aber diese Idioten“, fuhr er fort und schimpfte mit einem Finger in die Dunkelheit, „haben nichts Besseres zu tun, als das alles kaputtzumachen. Leider sind sie mir entwischt.“
Olivia hatte natürlich von den Aktionen der Strickguerilla in Mannheim gehört und bereits in Berlin diese Form von Streetart bewundert, doch dass Moritz damit in irgendeiner Weise verbunden war, hatte sie nicht gedacht. Noch vielmehr aber überraschte sie sein Einsatz für eine solche Aktion. Kurz fragte sie sich, ob sie dieser Gruppe beitreten dürfte oder ob das für sie Ärger bei der Arbeit bedeuten würde.
„Vielleicht solltest du lernen, wie man strickt. Dann kannst du dich der Guerilla anschließen“, schlug Olivia vor.
„Nichts leichter als das. Ich hatte noch Stricken und Häkeln in der Grundschule.“
Für Momente wie diesen liebte sie ihren Kollegen. Er konnte sich wirklich für Dinge begeistern, ganz gleich ob sie klein und unbedeutend oder von großer Wichtigkeit waren. Und er war loyal. Das war ihr schon früh aufgefallen. Er hatte ihr nicht nur den Einstieg erleichtert, er hatte ihr von vornherein einen Vertrauensvorschuss entgegengebracht, wie es noch kein anderer Kollege getan hatte. Sie nervte zwar, dass er häufig unpünktlich und unordentlich war, aber als Mensch vertraute sie ihm blind. „Ich glaube, ich habe für heute meinen Frieden mit dir gemacht, Moritz“, lächelte sie in sich hinein.
„Kommen Sie, Herr Kriminalhauptkommissar, ich bring Sie nach Hause“, sie gab ihm ein flüchtiges Küsschen auf die Wange und zog ihn zum Auto.
Als sie Moritz wenig später vor seinem Haus absetzte, betrachtete sie die Fenster seiner Wohnung, doch von dem blonden Mädchen war nichts zu sehen.
Es war gegen 0.50 Uhr, als sich Olivia zu Hause erschöpft auf ihren Schreibtischstuhl fallen ließ. Die unbequemen Schuhe, die eine glatte Fehlentscheidung darstellten, hatte sie gleich am Eingang abgestellt und nun die schmerzenden Füße auf den Schreibtisch gelegt. Hätte sie gewusst, wie der Abend verlaufen würde, wäre sie in Sportschuhen zur Graduierungsfeier erschienen.
Viel Zeit zum Schlafen blieb ihr nicht, denn sie hatte mit Moritz verabredet, dass sie ihn gegen 8 Uhr abholen würde. Ein Seufzer entrang sich ihr. Nach einem langen Arbeitstag hatte sie sich eigentlich auf der Absolventenfeier entspannen und früh nach Hause gehen wollen. Aber nun war alles anders gekommen.
Jetzt, wo sie etwas Ruhe hatte, stand ihr erneut der Anblick des Toten vor Augen. Wie leichtfertig mit dem Leben umgegangen wird, seufzte Olivia. Tausende Ärzte auf dieser Welt hatten wahrscheinlich in derselben Sekunde einem Menschen das Leben zu retten versucht, in der Reinhardt Schönburg das Leben genommen worden war. Mitfühlen, aber nicht mitleiden. Das hatte sie sich bereits während ihrer Ausbildung fest vorgenommen, und an diesen Satz hatte sie sich immer wieder geklammert, in ihrer Zeit in Berlin und in ihrer Zeit hier, aber es war nicht immer einfach.
Olivia kannte sich. Wenn sie sich trotz ihrer Müdigkeit nun hinlegen würde, bekäme sie wahrscheinlich kein Auge zu. Sie brauchte noch etwas Ablenkung. Also setzte sie sich in ihren großen gemütlichen Sessel und nahm ihr Tablet zur Hand. Auf ein E-Book hatte sie keine Lust, daher startete sie zunächst ihren Twitter-Kanal.
„WTF!? War an der Uni und bin mitten in meinem zweiten Fall“, war alles, was ihr einfiel. Sie überlegte, ob sie diesen Tweet losschicken sollte, entschied sich dafür und öffnete schließlich ihre Facebook-App. Vielleicht war noch jemand online, mit dem sie über etwas ganz anderes chatten konnte. Insgeheim hoffte sie auf ihre Berliner Freunde, mit denen sie schon lange nicht mehr gesprochen hatte. Oder ihre Mannheimer Freundin Vanessa. Mit ihr war sie eigentlich für das Wochenende verabredet. Wahrscheinlich würde sie absagen müssen, weil die Ermittlungen das ganze Wochenende dauern konnten.
Als sie die App gestartet hatte, war eine neue Freundschaftsanfrage da. Dennis Güth, Moritz’ Cousin! Sie akzeptierte seine Anfrage und konnte sehen, dass er ebenfalls noch online war.
„Noch auf?“, schrieb sie ihm.
Es dauerte nicht lange, dann antwortete er.
„Bin eine Nachteule. Und du?“
Olivia kam der Gedanke, dass er auf sie gewartet haben könnte. Ihr gefiel diese Idee. Sie fühlte sich geschmeichelt.
„Bin keine Nachteule, kann aber noch nicht schlafen …“
„Ja, war ein heftiger Abend. Wir wollten eigentlich alle noch gemeinsam ins Palms, sind aber alle heim.“
Dennis Worte bewirkten genau das Gegenteil von dem, was sich Olivia erhofft hatte. Sie wollte den Fall ja gerade aus dem Kopf bekommen, doch nun war sie gedanklich wieder mittendrin. Ihr fehlten die Worte, und sie tippte erst einmal nichts in den Chat.
„Noch da?“, fragte Dennis nach einer Weile.
„Ja, noch da.“
Olivia zögerte ein wenig, dann entschied sie sich, weitere Informationen von Dennis zu erfragen.
„Kannst du mir etwas über den einen Studenten erzählen, den Jahrgangsbesten?“
„Du meinst Christian Wiese?“
Sie notierte sich den Namen.
„Ja, den meine ich.“
„Kenn ihn nicht gut. Ehrgeizig, verschlossen, höflich-distanziert“, fasste Dennis kurz zusammen.
„Hat er eine Verbindung zu Schönburg?“
„Bin ich mitten in einem Verhör?“, entgegnete Dennis.
„Leider ja.“
„Warum leider?“
Olivia zögerte wieder einen Moment, bevor sie antwortete: „Weil ich lieber mitten in einem Flirt wäre, aber nicht anders kann.“
Als sie die Nachricht abgeschickt hatte, war sie über ihren offensiven Ton selbst überrascht. Irgendwie ließ Dennis sie nicht los. Da sie die Zeilen nicht mehr löschen konnte, schickte sie zumindest schnell ein Emoticon hinterher: ;-), ein Augenzwinkern, das den Satz relativieren sollte.
„Ich hätte nichts gegen einen Flirt, Olivia“, antwortete Dennis wie aus der Pistole geschossen und legte nach: „Was hast du morgen vor?“
„Den Fall lösen“, war Olivias Antwort. „Wahrscheinlich hab ich erst wieder Freiraum, wenn das alles aufgeklärt ist.“
Nun ließ sich Dennis etwas Zeit. Olivia fragte sich, ob sie ihn beleidigt hatte. Er schien ihr nicht der Typ zu sein, der sich abgewiesen fühlte, nur weil sie morgen einen Mord aufklären sollte. Doch noch bevor Olivia weiter ins Zweifeln geriet, erhielt sie von Dennis Nachricht.
„Hier der Dienstplan der Bibliotheksaufsicht. Christian arbeitet morgen früh.“
Olivia speicherte das Dokument und betrachtete den Zeitplan. Christian Wiese war für den nächsten Tag von 9 bis 12 Uhr eingetragen. Da würde sie ihm gemeinsam mit Moritz einen Besuch abstatten.
„Und lös den Fall schnell, damit wir uns sehen können“, holte Dennis sie zurück in die Gegenwart. „Ich leg mich dann mal schlafen.“
„Warte, Dennis! Weißt du irgendetwas über eine Verbindung von Christian zu Schönburg?“
„Ich kann mir keine Verbindung vorstellen. Schönburg war schon weg, als Christian hier mit der Promotion angefangen hat. Keine Ahnung, ob die sich kannten. CU!“
Damit beendete Dennis den Chat. Olivia war nun alleine mit ihren Gedanken an den Toten, an Christian Wiese, Anja Kugler und den Hausmeister. Sie hätte niemals gedacht, dass das Leben an einer Universität so gefährlich sein könnte. Es war schwer, sich vorzustellen, dass es Menschen gab, die sich zwischen all den Büchern, Seminaren und der Bibliothek noch für etwas anderes als die Entdeckung eines neuen Proteins oder die Neuinterpretation von Goethes „Faust“ interessierten. Die letzten Stunden hatten ihr einen anderen Einblick in das akademische Leben gewährt. Einen tödlichen Einblick.
Es war gegen 1.45 Uhr. Mittlerweile hatte sich Ruhe über die Bismarckstraße und die Quadrate gelegt. Anscheinend schlief die ganze Stadt. Als Andi Beck die Bismarckstraße entlanglief, hatte er das Gefühl, dass es bald schneien würde. Über der Stadt hatten sich dichte Wolken zusammengezogen, die das wenige Licht stark reflektierten. Es war heller als am Abend. Ein einziges Auto raste mit Vollgas und dröhnendem Motor an dem Hausmeister vorbei. Dann kehrte wieder Ruhe ein.
Beck war jedoch alles andere als ruhig. Innerlich war er aufgewühlt und rastlos. Seit die beiden Polizisten ihn besucht hatten, hatte er mehrere Flaschen Bier getrunken und versucht, auf diese Weise mit seinen Gedanken klarzukommen. In diesem Fall hatte er jedoch zur falschen Methode gegriffen, der Alkohol beruhigte ihn in keiner Weise, stattdessen wuchsen Angst, Verwirrung und Gier überproportional.
Schon als Kind hatte er eine heftige Abneigung der Polizei gegenüber. Das hatte ihm sein Vater beigebracht, und sein Vater hatte recht behalten: Immer, wenn die Polizei in seinem Leben auftauchte, gab es Ärger. Immer wieder. Dabei zahlte er mit seinen Steuern doch deren Gehalt! Sollten die lieber mal nach richtigen Verbrechern suchen! Nach Verbrechern in Anzug, die es sich in der feinen Gesellschaft gutgehen ließen. Stattdessen trampelten die Bullen immer auf kleinen Leuten wie ihm rum. Und das Ganze geschah angeblich auch noch im Namen der Gerechtigkeit und im Auftrag des Staates. Ein Scheißdreck sind die Bullen. Voller Verachtung spuckte er auf den Boden. Dabei fiel ihm auf, dass er endlich an seinem Ziel angekommen war. Er stand auf der anderen Straßenseite von L 6, dem Polizeipräsidium. Ja, er wollte sein Gewissen erleichtern. Bei den Bullen. Dem Scheißdreck.
„Wenn etwas Unrechtes geschieht, dann muss man zur Polizei“, sagte er sich. „Ich muss zu denen, ich muss das melden! Ganz gleich, was mein Vater immer gesagt hat. Dieses Mal gibt es keinen anderen Weg“.
Oder doch? Ihm kam ein anderer Gedanke. Er überlegte nur kurz. Nun wusste er, was er zu tun hatte. Nun wusste er es.