zweiter tag

Olivia gähnte hinter dem Steuer. Die Nacht war für ihre Verhältnisse viel zu kurz gewesen. Sie hatte sich aus dem Bett und unter die Dusche zwingen müssen, um halbwegs fit zu werden. Zu allem Unglück hatte sie keinen Kaffee mehr zu Hause. Die Kommissarin hoffte darauf, dass sie irgendwo an der Universität einen bekommen würde. Wenn nicht, würde sie danach hoffentlich im Casino des Polizeipräsidiums erlöst werden.

Moritz hatte ihr fest versprochen, pünktlich um 8 Uhr vor seinem Haus zu stehen. Sie werde ihn nicht vorher anrufen müssen, er werde da sein. Das kannte sie ja, sie glaubte ihm kein Wort. Als sie schließlich in seine Straße in der Neckarstadt einbog, sah sie Moritz schon von Weitem und war entsprechend verwundert. Obwohl es sehr kalt war, trug er immer noch seine heißgeliebte Lederjacke. Zum Zeichen, dass es nun bald Winter wurde, hatte er sich einen langen Schal umgewickelt. Er schien fit zu sein und winkte schon lange, bevor sie bei ihm ankam. Olivia konnte es kaum fassen. Es war das erste Mal, seit sie zusammenarbeiteten, dass ihr Kollege pünktlich war. Irgendwie war sie skeptisch. Warum war er pünktlich, und warum war er so fit? Und sie blieb skeptisch, als er die Beifahrertür öffnete, seinen Rucksack ins Auto warf und hinterhersprang.

„Moin moin!“, begrüßte Moritz sie freudestrahlend.

„Pünktlich!“

„Du oder ich?“, entgegnete Olivia.

„Wir beide, Prinzessin.“

Olivia zog die Stirn kraus und wendete das Auto. Als sie sich dabei umschaute, entdeckte sie am geschlossenen Fenster von Moritz’ Wohnung das blonde Mädchen von gestern. Ihre Neugierde war erneut geweckt.

„Du willst mir nicht verraten, wer das Mädchen ist, das bei dir wohnt, oder?“

„Nein, das will ich nicht!“, gab Moritz zur Antwort. „Ein paar Dinge sollten privat bleiben. Und du sagst mir ja auch nicht, was in Berlin geschehen ist und weshalb du da weg musstest. Das ist mit Sicherheit die weitaus spannendere Geschichte als eine blonde Frau an meinem Fenster.“

„Ich hab meine Gründe dafür!“

„Siehst du, ich auch“, lächelte Moritz.

Olivia schüttelte den Kopf und gab Gas. Sie fuhren in Richtung Universität.

„Schnappen wir uns diesen Elitestudenten!“, fuhr es aus Moritz heraus, während er in seinem Rucksack nach etwas suchte.

„Dein Cousin hat mir den Dienstplan der Bibliothek gegeben. Christian Wiese hat dort bis 12 Uhr Dienst. Wir sollten also keine Mühe haben, ihn zu finden.“ Olivia machte eine Pause, dann knurrte sie: „Hörst du mir überhaupt zu?“

„Ja, ja, Wiese, Bibliothek. Kein Problem.“

Er schien gefunden zu haben, nach was er gesucht hatte, denn er hielt triumphierend die CD „The Ace of Spades“ von Motörhead in die Höhe und schob sie ins CD-Fach.

„Okay. Hast du deswegen so gute Laune?“ Weiter kam sie nicht, eine Antwort erhielt sie auch nicht. „The Ace of Spades“ ertönte und begleitete sie, bis sie an der Uni in einer Seitenstraße parkten. Sie stiegen aus und liefen über den Ehrenhof zur Bibliothek.

„Du brauchst mich mit deinem Musikgeschmack nicht überzeugen, ich kenn Motörhead. Hab ich auch mal gehört“, bemühte sich Olivia, die musikalischen Erziehungsversuche ihres Kollegen zu unterbinden. „Aber das ist lange her.“

Als sie den Hauptbau des Schlosses betraten, fiel Olivia erneut die eigenartige Mischung aus lange vergangener Pracht, den Fünfziger- und Sechzigerjahren und zeitgenössischer Architektur auf. Die Fassade des Schlosses war Barock, doch Teile des Inneren waren in ihrer jetzigen Beschaffenheit erst sehr viel später entstanden. Christian Wiese arbeitete in der Hasso-Plattner-Bibliothek, deren Renovierung der Mäzen und Namensgeber vor ein paar Jahren gestiftet hatte. Am Eingang der Bibliothek zeigten sie ihre Dienstausweise. Die Hilfskraft an der Ausgabe deutete ihnen grob die Richtung an, in der sie Christian Wiese gerade vermutete. Olivia bedankte sich und folgte Moritz durch die unzähligen Reihen voller Bücherregale. Dieser Teil der Universität war wirklich neu und bestens ausgestattet. Hier dominierten eine moderne Glas-Stahl-Konstruktion, schwarzer Stein und roter Boden. Die Bibliothek sah ein bisschen so aus, als sei sie Kulisse in einem Science-Fiction-Film. Aber auch hier verfolgte sie der typische Geruch von altem Papier, Leder und nasser Tinte. Die Wissenschaft hatte scheinbar nicht nur ihre eigenen Regeln, sondern auch ihr eigenes Parfüm.

Sie schauten suchend in die engen Gänge mehrerer Regalreihen, bis sie den Doktoranden schließlich entdeckten. Inmitten hoher Bücherregale saß er auf dem blutroten Teppichboden, hielt ein Buch in der Hand und starrte ins Leere. Neben ihm stand ein Stapel Bücher, den er scheinbar einsortieren sollte. Die beiden Kommissare konnte er nicht kommen sehen, weil er ihnen gerade den Rücken zuwendete.

Olivia war sich nicht sicher, ob er sich bewusst cool im Hipster-Look kleidete oder ob er alte Klamotten trug, die zufälligerweise gerade „in“ waren. Auf jeden Fall wollte sie ihn nicht unnötig erschrecken und räusperte sich daher künstlich.

„Entschuldigung, Herr Wiese?“, begann sie, „Kripo Mannheim, dürfen wir Sie für einen kurzen Moment sprechen?“

Wiese warf einen Blick über seine linke Schulter, sprang blitzschnell vom Boden auf, machte eine Drehung um 180° und ging einen Schritt auf die beiden Kommissare zu. Olivia wurde erst jetzt bewusst, wie groß und schlaksig er war. In diesem Augenblick schlug er das Buch zu, das er gerade gelesen hatte, und schob es ohne dabei hinzuschauen ins Regal.

„Sie kommen wegen des Todesfalls?“, fragte er, und Olivia entdeckte ein leichtes Zittern an seinem linken Augenlid.

„Ja, wir sind hier, weil wir ein paar Fragen haben.“

Die beiden Kommissare hielten ihm ihre Dienstmarken hin.

„Selbstverständlich“, antwortete Wiese in wohlerzogenem Ton. „Kommen Sie mit, wir gehen in den Arbeitsraum. Dort sind wir ungestört.“

Mit seinen langen Beinen schritt Wiese voran und hielt den beiden die Glastür zu einem großen Raum auf, der vollständig von Glaswänden umgeben war. Auch hier waren Bücherregale aufgebaut. Dazu gab es mehrere Arbeitsplätze mit Anschlüssen für Computer. Die Inneneinrichtung glich der der restlichen Bibliothek bis ins kleinste Detail.

Sobald Wiese die Tür hinter sich zugezogen hatte, warf er einen schnellen Blick zwischen die Regalreihen, um zu sehen, ob sie allein waren. Dann ließ er sich auf einem der Schreibtischstühle nieder, die zwar ziemlich neu, aber offensichtlich schon so abgenutzt waren, dass sie unter seinem Gewicht wackelig wirkten. Olivia und Moritz nahmen ebenfalls Platz.

Die Kommissarin schaute sich im Zimmer um. Irgendwo musste doch eine Kaffeemaschine zu finden sein. Wiese bemerkte Olivias suchenden Blick.

„Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte er.

„Hätten Sie vielleicht einen Kaffee für mich?“, fragte Olivia zurück.

„Tut mir leid, Getränke sind in der Bibliothek verboten.“

„Warum arbeiten Sie eigentlich noch in der Bibliothek? Sie sind doch spätestens seit gestern fertig mit der Promotion“, unterbrach Moritz.

„Ich habe mein ganzes Studium hier als Hilfskraft gearbeitet. Das bringt viele Vorteile. Mein Vertrag erlischt nicht, nur weil ich nun promoviert bin. Aber ich werde hier aufhören, wenn ich in die USA gehe. Also sehr bald“, erklärte er.

„Sie waren gestern auf der Doktorandenfeier“, begann Olivia, „und wurden zum Besten des Jahrgangs ausgezeichnet.“

„Das wissen Sie ja bereits. Sie waren auch anwesend?“

„Ja. Der Mordfall Schönburg ist gewissermaßen direkt vor uns aufgeschlagen“, antwortete Olivia und fragte sich einen Augenblick, ob das zu respektlos geklungen hatte.

„Und nun interessieren wir uns dafür, welche Verbindung Sie zu Reinhardt Schönburg hatten“, fuhr Moritz fort.

Wiese seufzte. Seine Gesichtszüge verhärteten sich.

„Welche Verbindung ich zu Reinhardt Schönburg hatte?“, sagte er leise vor sich hin. Er war blass geworden und seine Stimme zittrig. Schließlich schluckte er mehrmals, und es dauerte eine Weile, bis er fortfahren konnte. „Reinhardt und ich waren seit zwei Jahren ein Paar. Wir haben uns geliebt, und gestern Nacht hat jemand diese Liebe für immer zerstört. Das ist oder war unsere Verbindung. Haben Sie ein Problem damit?“

Trotzig schaute er die Kommissare abwechselnd an. Olivia konnte erkennen, wie sich die Tränen in seinen Augen sammelten. Sie wirkten wie große Blasen, die gleich platzen würden.

Wieses Worte überraschten Olivia. Der Tote und Christian Wiese waren ein Paar gewesen? Sie machte sofort mit ihrer nächsten Frage weiter, um sich die Überraschung nicht anmerken zu lassen.

„Haben Sie eine Ahnung, wer Reinhardt Schönburg getötet haben könnte?“, fragte sie schnell.

Wiese zuckte mit den Schultern.

„Reinhardt hatte Gegner in der akademischen Welt. Aber dass diese Gegner gestern zu seinen Mördern wurden, wage ich zu bezweifeln.“

„Eine Person wurde zu seinem Mörder. Erwiesenermaßen gestern Nacht“, konstatierte Moritz.

„Von wem sprechen Sie, wer waren Reinhardt Schönburgs akademische Gegner?“, spielte Olivia sofort den Ball zurück.

Wiese überlegte eine Weile.

„Reinhardt muss ein strenger, aber gerechter Hochschullehrer gewesen sein. Sicher hat er viele Doktoranden verprellt. Ein Teil der Studenten muss ihn geliebt haben, die anderen konnten wohl nichts mit ihm anfangen. Der ein oder andere wird denken, dass er ihm das Examen versaut hat. Ich kann Ihnen aber leider nichts Genaues sagen, denn das war alles, bevor ich ihn kennengelernt habe.“

„Gab es Gegner unter den Kollegen?“, forschte Moritz weiter.

„Nun ja, seine Rezensionen in Fachzeitschriften führten häufig zu verbalen Auseinandersetzungen oder zu wochenlangen Schriftwechseln. Er verteidigte seine Meinung immer bis zum Schluss, auch als er nicht mehr für die Uni gearbeitet hat.“

„Beschreiben Sie ihn. Was war er für ein Mensch?“

„Er war eigentlich immer höflich, freundlich und korrekt … und er hörte sich gerne selbst reden. Er war jemand, mit dem man gut bei einem Bier zusammensitzen konnte.“

„Wo waren Sie gestern Abend, als Schönburg getötet wurde?“, fragte Moritz.

Wiese war erstaunt, dass Moritz ihn dies überhaupt fragte. Er schluckte zweimal, dann antwortete er.

„Ich war auf dem Sektempfang. Dann sind alle nach draußen gelaufen. Als ich ihn da auf dem Boden erkannt habe, bin ich vor Schreck einfach weggerannt. Quer durch die Quadrate und dann nach Hause.“

Olivia überlegte, nach einer Weile fiel ihr der Name des Professors ein, von dem der Artikel in Schönburgs Wohnung handelte.

„Sagt Ihnen der Name Professor Dieter Meerstadt etwas?“, wollte sie wissen.

„Natürlich sagt mir der Name etwas. Er hat ein ähnliches Forschungsinteresse wie Reinhardt, lehrt hier in Mannheim. Halten Sie ihn für den Mörder?“, entgegnete Christian nach einer kurzen Gedankenpause.

„Nein. Ich hab mich nur gefragt, wie die beiden zueinander stehen.“

„Ich weiß darüber nicht viel. Sie waren Kollegen, vielleicht Konkurrenten. Wie das an der Uni so ist“, erklärte Wiese.

„Können Sie sich erklären, warum Reinhardt Schönburg aus dem Fenster von Anja Kuglers Büro gestürzt ist?“, fuhr Moritz fort.

„Anja Kuglers Büro?“

Wiese wurde verlegen.

„Anja Kugler … Na ja, er sprach nicht gerade in hohen Tönen von ihr. Immerhin hat sie den Lehrstuhl erhalten, auf den er seine ganze Karriere lang geschielt hatte. Aber was er in ihrem Zimmer zu suchen hatte, weiß ich nicht.“ Olivia überlegte eine Weile. Wiese konnte ihnen über Schönburgs Vergangenheit nicht allzu viel berichten, weil er ihn noch nicht lange genug gekannt hatte. Aber vielleicht wusste er etwas über seine Gegenwart. Olivia drängte sich die Frage auf, was Schönburg gearbeitet hatte, seit er seine Universitätskarriere hatte beenden müssen.

„War Schönburg reich, sodass er nicht mehr arbeiten musste? Oder was hat er getan, seit er die Universität verlassen hat? Scheinbar hat er eine weitaus bessere Karriere gefunden, wenn er sich eine Villa in Feudenheim leisten konnte?“

„Er hatte die Villa schon, als wir uns kennenlernten. Ich glaube, er stammte aus einem reichen Elternhaus. Aber auch darüber hat er nie gesprochen.“

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Akina Sakamoto hatte lange Zeit für diese Reise gespart. Schon immer war es ihr Traum gewesen, Deutschland zu sehen. Vor allem Heidelberg stand ganz oben auf der Liste der Städte, die sie auf ihrer Europareise besuchen wollte. Gemeinsam mit ihrem Mann und Kollegen aus seiner Firma hatte sie endlich eine siebentägige Reise gebucht. Morgen stand Heidelberg auf dem Programm, heute besuchte sie mit ihrer japanischen Reisegruppe Mannheim. Am frühen Vormittag hatten sie sich vor dem Mannheimer Schloss getroffen, wo sie an einer Führung teilnehmen wollten. Als sie das Schloss zum ersten Mal erblickte, war Akina enttäuscht. Von Bildern kannte sie lediglich das Heidelberger Schloss und Neuschwanstein und hatte sich ein ähnlich imposantes Bauwerk erhofft, das mit Türmchen und Zinnen versehen war und oben auf einem Berg lag. Das Mannheimer Schloss war ihr nicht verspielt genug, es gefiel ihr nicht. Herrschaftlich war das Gebäude in jedem Fall, nur das erhoffte Märchenschloss mit einer romantisch-verträumten Fassade war es eben nicht. Es passte nicht zu den Bildern von deutschen Schlössern, die sie in japanischen Reisekatalogen gesehen hatte. Höflich, wie sie es gewohnt war, machte sie dennoch ein eifrig interessiertes Gesicht, als sie gemeinsam mit ihrer Reisegruppe durch die Gänge geführt wurde. Noch etwas anderes fand Akina sehr befremdlich. Sie konnte nicht verstehen, warum die Universität im Schloss untergebracht war. Das hatte zur Folge, dass überall Jugendliche herumliefen und vor den Eingängen rauchten. Zu einem Schloss passte das ihrer Meinung nach gar nicht.

Während sie sich weiterhin über die Studierenden wunderte, stieg sie gemeinsam mit ihrem Mann die Treppe zum Rittersaal hinauf. Durch eine doppelflügelige Tür gelangten sie in den prächtigen Raum. Ihre Touristenführerin erklärte, dass der Saal im Zweiten Weltkrieg während der Bombardierung Mannheims völlig zerstört worden war, aber bereits 1947 mit der Rekonstruktion begonnen worden sei.

Akina blickte an die Decke des monumentalen Raumes und betrachtete das riesige Bild, das eine Göttertafel zu Ehren der Hochzeit von Peleus mit der Göttin Thetis zeigte. Wer diese Personen waren, wusste sie nicht, das Gemälde fand sie jedoch sehr beeindruckend. Generell mochte sie monumentale Bilder, und sie machte schnell ein Foto für ihr Facebook-Profil.

Die Gruppe ging weiter und verließ das Hauptgebäude. Sie liefen quer über den Ehrenhof zum Westflügel. Dort, so hatte die Touristenführerin angekündigt, befinde sich die alte Schlosskapelle, die letzte Station und der heimliche Höhepunkt ihres Rundgangs.

Die japanische Reisegruppe hatte sich vor der Kapelle versammelt und wartete, während die Touristenführerin zunächst nach ihrem Schlüssel kramte, plötzlich aber feststellte, dass die Eingangstür bereits offen war. Verwundert blickte sie in die Runde. Die Kapelle wurde zwar von der Altkatholischen Gemeinde noch genutzt, allerdings befand sich um diese Zeit eigentlich nie jemand dort. Vorsichtig spähte sie hinein. Tatsächlich, die Kirche war leer. Sie winkte der Reisegruppe, die nun nach ihr die Kapelle betrat und sich gleich hinter ihr wieder versammelte.

Akina blickte sich um. Sie verstand nicht sonderlich viel von europäischer Kirchengeschichte und von Kirchenarchitektur, die Schlosskirche aber gefiel ihr. Sie war weiß und strahlend, und auch sie besaß ein mächtiges Deckengemälde. Fasziniert starrte sie nach oben und lief als Einzige in die Kirche hinein, ohne auf die erklärenden Worte der Touristenführerin zu hören. Deren Ausführungen standen ohnehin in dem Reiseführer, den sie auf dem Flug nach Europa durchgearbeitet hatte.

In der Mitte des Gemäldes war ein Kreuz vor einem strahlenden Hintergrund abgebildet, um es herum schwebten Engel. Ein Drache spie Feuer, wurde jedoch von der Kraft des Kreuzes zurückgedrängt. Die Japanerin war sich sicher, dass es sich bei dem Gemälde um den triumphalen Sieg der christlichen Kirche über das Böse handelte. Sie bekam Gänsehaut.

Dann senkte Akina den Blick und sah sich die Kirchenbänke an. Plötzlich entdeckte sie in einer der Reihen etwas, was sie zunächst nicht ganz verstand, was ihr aber einen fürchterlichen Schreck einjagte. Angst überkam sie. Noch immer konnte sie die Stimmen der Gruppe und der Führerin am Eingang hören, doch sie schienen weit, weit weg zu sein. Allmählich wurde ihr bewusst, was da vor ihr lag, und es ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Sie sah dem Mann vorsichtig ins blutige Gesicht und schrie so laut, wie sie noch nie in ihrem Leben geschrien hatte.

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Es war 9.58 Uhr als Olivia und Moritz endlich das Polizeipräsidium in L 6 betraten. Sie kamen gerade noch rechtzeitig, um an der Dienstbesprechung teilzunehmen, die Dr. Klose für 10 Uhr einberufen hatte.

Olivia bat Moritz, schon einmal in Kloses Büro zu gehen und ihn in ein Gespräch zu verwickeln, damit sie genügend Zeit hatte, sich endlich einen Kaffee zu besorgen. Zum Glück war im Casino niemand, sie musste nicht warten, und der Kaffee war schnell gebrüht.

Als sie zum Büro ihres Chefs kam, hörte sie schon von Weitem Moritz protestieren. Dann entfuhr es Klose: „Ich habe keinen Scheiß für diese Zeit!“

Olivia musste prusten. Was hatte ihr Chef da gerade gesagt? Das war unglaublich! Und mit welcher Geschichte hatte Moritz ihn bequatscht, um ihr noch Zeit zu verschaffen?

Vor lauter Lachen schüttete sie sich etwas heißen Kaffee über die Hand. Der Schmerz ließ sie zur rechten Zeit wieder ernst werden, denn Dr. Klose stand in der Tür und sah sie mit zusammengezogenen Augenbrauen an.

„Sie sind knapp zu spät, meine Liebe!“, belehrte er sie.

„Tut mir sehr leid“, antwortete Olivia und sah Moritz fragend an. Zu gern hätte sie gewusst, was er Klose erzählt hatte, das ihn zu dieser Reaktion veranlasste.

„Später“, hauchte Moritz.

Die beiden nahmen auf Dr. Kloses Couch Platz und nickten schnell Fatih zu, der ebenfalls anwesend war. Der Kriminaldirektor selbst setzte sich auf die Kante seines alten Schreibtischs und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Jetzt, da wir nun endlich alle versammelt sind, beginne ich mit der Zusammenfassung des Falls.“ Er räusperte sich. „Gestern Abend wurde der 46-jährige Dr. Reinhardt Schönburg, ehemaliger Privatdozent der Universität Mannheim, aus einem Fenster des vierten Stocks gestoßen. Er starb an Genickbruch infolge des Aufpralls. Das Fenster, aus dem er geworfen wurde, war geschlossen und gehört zu dem Büro von Prof. Anja Kugler. Bevor Schönburg durchs Fenster flog, war er scheinbar in einen Kampf verwickelt gewesen, in dessen Ablauf er einen mit Goldfarbe überzogenen Gegenstand an den Schädel gedonnert bekam. Das Blut im Büro stammt eindeutig ausschließlich von dieser Wunde.“

Dr. Klose blickte in die Runde, nahm einen Schluck Wasser und fuhr fort.

„Den Gegenstand haben wir noch nicht gefunden. Darüber hinaus wissen wir, dass es für dieses Büro zwei Schlüssel gibt. Einmal den von Prof. Kugler selbst und einmal den Generalschlüssel für dieses Stockwerk von Hausmeister Andreas Beck. Beide hatten demnach Zugang zum Tatort, und Prof. Kugler stand in Konflikt zu dem Toten. Eine eindeutige Motivation für Mord lässt sich jedoch nicht so leicht rekonstruieren, dafür gibt es zu viele ungeklärte Fragen. Totschlag im Affekt aus persönlichen Konflikten heraus wäre denkbar. Über Andreas Beck werde ich hoffentlich von Ihnen gleich mehr erfahren.“

Dr. Klose stand auf, ging um den Schreibtisch herum und setzte sich.

„Gibt es also mittlerweile weitere Neuigkeiten zu diesem Ermittlungsstand?“, fragte er und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Herr Martin, Frau von Sassen?“

„Ja, die gibt es“, antwortete Moritz trocken.

„Wir waren gestern Nacht noch in Schönburgs Wohnung in Feudenheim und heute früh in der Universitätsbibliothek. Unsere Ermittlungen haben ergeben, dass der Privatdozent einen Liebhaber hatte. Christian Wiese, einer jener Doktoranden, die auf der Abschlussfeier gestern Abend geehrt wurden. Wir haben mit Wiese gesprochen. Er macht einen traurigen und dennoch gefassten Eindruck.“

Der Kaffee war nun endlich kühl genug. Olivia nahm einen großen Schluck und fühlte ihre Lebensgeister zurückkehren.

„In Schönburgs Wohnung wurde eingebrochen. Wahrscheinlich war der Täter schneller und hat die Festplatte seines Computers entwendet.“

„Ja, war er. So viel kann ich bereits berichten: Die Festplatte des Computers fehlt“, erklärte Fatih.

Olivia zog die Stirn kraus, dann fuhr sie fort: „Zudem haben wir in Schönburgs Wohnung ein Päckchen mit Büchern gefunden.“

„Aha. Und?“ Klose blickte fragend hinter seiner Brille hervor.

„Den Büchern war eine Karte beigelegt. Schönburg hatte heute Abend eine Verabredung im Murphy’s Law am Hauptbahnhof. Das ist ein Irish Pub.“

„Ich übernehme den Termin“, fiel ihr Moritz schnell ins Wort, „da ist heute Pubquiz, und ich kenne da jemanden an der Bar.“

„Gut, Moritz, dann gehen Sie heute Abend dahin und überprüfen, ob das Treffen für unseren Fall relevant ist.“

„Was ist mit Anja Kugler, Chef?“, fragte Olivia.

„Die sitzt in Untersuchungshaft. Sie reagiert merkwürdig, und ich habe das Gefühl, dass sie etwas verschweigt. Hinzu kommt ihre aufmüpfige, impulsive Art. Ein astreines Tatmotiv hat sie jedoch nicht. Dazu wissen wir noch zu wenig. Allerdings waren sie und Schönburg Konkurrenten um den Lehrstuhl, den sie jetzt innehat. Ihre Karriere bedeutete das Aus für Schönburgs Karriere. Zwischen den beiden gab es mit Sicherheit Konkurrenzdenken, wenn nicht sogar Rachegedanken seitens des Verlierers.“

„Und es ist noch immer unklar, warum der Tote zu diesem Zeitpunkt in ihrem Büro war. Was hatte er dort zu suchen? Wollte er etwas stehlen? War er dort verabredet, während alle anderen auf der Graduierungsfeier waren? Wir müssen uns jedes Detail genau anschauen, sonst übersehen wir etwas“, mahnte Moritz.

„Als Nächstes sollte das Konto von Schönburg überprüft werden. Mich wundert nämlich, woher er das Geld zum Leben und für die Villa hatte, wenn er nicht mehr gearbeitet hat. Und an das Märchen vom reichen Daddy glaube ich nicht“, warf Olivia in die Runde.

„Gut, ich werde das veranlassen“, nickte Klose.

Dann fuhr er fort: „Was haben Ihre Nachforschungen beim Hausmeister ergeben?“

„Er und wahrscheinlich seine ganze Familie hatten wohl grundsätzlich ein Problem mit Schönburg. Der Privatdozent scheint daran beteiligt gewesen zu sein, dass das Leben von Andreas Becks Vater zerstört wurde. Auch der alte Beck war Hausmeister an der Uni gewesen. Schönburg hat dafür gesorgt, dass er entlassen wurde. Danach kam er auf die schiefe Bahn, Suff, Scheidung und so weiter. Auch sein Junior litt darunter. Letztlich hat die Uni-Leitung ihm vor ein paar Jahren eine Stellung als Hausmeister angeboten, als Wiedergutmachung, nachdem sich herausgestellt hatte, dass der alte Beck zu Unrecht entlassen wurde“, erzählte Olivia.

„Sehr interessant. Andreas Beck wurde nämlich von unseren Kameras heute Nacht vor dem Polizeipräsidium gefilmt.“

Klose drehte sein Laptop zu den drei anderen hin und zeigte ihnen die Bilder, die die Überwachungskamera geschossen hatte.

„Was wollte er?“, wunderte sich Olivia.

„Vielleicht ein Geständnis ablegen“, mutmaßte Moritz sofort.

„Sie beide sollten ihm gleich nach unserem Meeting einen Besuch abstatten“, schlug Klose vor. „Mir erscheint dies nämlich sehr merkwürdig.“

In diesem Augenblick klingelte Kloses Telefon. Er meldete sich wie gewohnt, wurde gleich darauf blass und sagte nichts weiter.

Olivia, Moritz und Fatih, die zunächst nicht zugehört hatten, bemerkten, dass etwas nicht in Ordnung war. Eine düstere Stimmung schwebte plötzlich im Raum. Sie hingen an Dr. Kloses Lippen und wollten wissen, welche Neuigkeiten es gab. Als dieser endlich auflegte, starrte er durch sein Team hindurch.

„Was ist los, Chef?“, wollte Moritz als Erster wissen.

„Sagen Sie schon!“, bekräftigte Olivia.

„Wir haben eine zweite Leiche“, kam es Klose über die Lippen, „wieder an der Uni.“

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Schon lange war Olivia nicht mehr auf dem Rücksitz eines Autos gesessen. Für gewöhnlich fuhr sie selbst, doch in der Eile hatten Klose, Moritz und sie nach dem Eingang des Notrufs Platz in einem Streifenwagen genommen, der sie mit Blaulicht die wenigen Quadrate zum Schloss fuhr. Die Tatsache, dass es innerhalb von wenigen Stunden einen zweiten Mord an der Universität gegeben hatte, ließ ihr Böses schwanen. Möglicherweise handelte es sich um einen Serientäter. Sie schaute aus dem Fenster auf die Passanten, die friedlich die Bismarckstraße entlangliefen. In ihrer unmittelbaren Nähe hatte es in den letzten 24 Stunden zwei Morde gegeben. Allmählich würde das auch die Bevölkerung erfahren. Wie die Menschen in der Stadt sich wohl fühlen mochten? Sie mussten den Fall oder vielmehr die zwei Fälle schnell aufklären.

Olivia konzentrierte sich auf die vor ihr liegende Aufgabe und fragte sich, was es mit den beiden Toten auf sich haben könnte. Sie glaubte nicht an einen Zufall, nicht daran, dass es sich um zwei unabhängige Fälle handelte. Doch was steckte hinter alldem? Was war so wichtig, dass zwei Menschen ihr Leben dafür lassen mussten? In Gedanken ging sie alle Zusammenhänge und Konstellationen durch, die sie während ihrer Ausbildung im Fall von miteinander verbundenen Mordfällen gelernt hatte. Jemanden aus dem Fenster zu schmeißen, wirkte auf sie nicht wie ein geplanter Mord. Wenn die gleiche Person nun noch einen zweiten Mord verübt hatte, warf das jedoch ein anderes Licht auf den ersten.

Oder doch nicht?

Zumindest wollte sie nicht an einen Serienmörder glauben.

Vor dem Schloss hielt ein Kollege den Verkehr an, sodass der Einsatzwagen bequem links abbiegen konnte. Die Einfahrsperren vor dem Ehrenhof waren bereits entfernt, sie wurden direkt zum Tatort gebracht. Gemeinsam stiegen sie aus dem Wagen aus.

Olivia schaute sich zunächst ein wenig um, bevor sie hineinging. Der Tag war kalt und grau. Über Mannheim hatte sich ein dichtes Wolkenfeld zusammengezogen. Irgendwie passte dies zu Olivias Stimmung. Die Kirche war großräumig abgesperrt, mehrere Streifenpolizisten sorgten dafür, dass niemand an den Tatort heran konnte. Innerhalb des abgesperrten Kreises stand eine asiatische Reisegruppe. Die entsetzten Gesichter der Einzelnen verrieten, dass sie allesamt unter Schock standen. Olivia wollte sich gleich um sie kümmern.

Zunächst aber beobachtete sie die Gruppe der Studenten und Universitätsmitarbeiter, die sich um die Absperrung drängte. War unter ihnen jemand, den sie auch am gestrigen Abend auf der Feier gesehen hatte? Kam ihr das ein oder andere Gesicht bekannt vor? Sie hatte insgeheim gehofft, Dennis hier zu treffen, der vielleicht etwas wusste. Er war nicht da, und weil ihr an den Anwesenden nichts Besonderes auffiel, zeigte sie dem Kollegen an der Absperrung ihren Dienstausweis und ging auf die Gruppe Touristen zu.

„Ist alles nur Show, wir drehen hier einen Film. Hollywood!“, hörte sie Moritz sagen, der ebenfalls bei der Gruppe stehen geblieben war.

Olivia wandte sich an die einzige Person der Gruppe, die nicht asiatisch aussah: die Touristenführerin.

„Hallo, ich bin Olivia von Sassen, Kriminalpolizei Mannheim, können Sie mir erklären, was diese Reisegruppe am Tatort sucht?“

„Julia Rang, hallo!“, antwortete diese, „Ich habe die Reisegruppe durchs Schloss geführt. Als wir die Kirche besuchten, hat eine Frau aus der Gruppe, die Leiche entdeckt. Ich glaube, sie steht unter Schock.“

Julia Rang deutete nach links, wo eine japanische Touristin von zwei Polizisten versorgt wurde.

„Sie heißt Akina Sakamoto.“

„Danke“, rief Olivia ihr zu und ging zu der Frau. Julia Rang lief Olivia hinterher.

„Sie werden mich für die Übersetzung brauchen.“

Olivia stellte sich der Japanerin höflich vor, merkte jedoch gleich, dass diese tatsächlich unter Schock stand und sich erholen musste. Trotzdem versuchte sie es mit der Frage nach dem, was sie gesehen habe. Frau Rang übersetzte.

Akina Sakamoto zitterte, als sie sich noch einmal den Moment ins Gedächtnis rufen musste. Viel zur Aufklärung konnte sie nicht beitragen, sie sprach von Blut, einem Loch im Kopf der Leiche, wie diese zwischen den Bänken gelegen habe und wie sehr sie sich erschrocken habe. Dann ließ Olivia sie in Ruhe und bat den Streifenpolizisten, der sich um die Touristin kümmerte, ihre Kontaktdaten aufzuschreiben. In jedem Fall würde sie in wenigen Stunden an einem anderen Ort in Europa sein – Schock hin oder her.

Nun atmete Olivia tief durch. Es gab kein Ausweichen, sie musste zur Leiche, was ihr für gewöhnlich am schwersten fiel. Eine weitere Leiche in nur wenigen Stunden. Das war ein schrecklicher Rekord für sie. Sie bahnte sich ihren Weg vorbei an den Spurensicherern und weiterem Polizeipersonal. Als sie in der Kirche stand, konnte sie erkennen, dass Moritz bereits vor dem Körper stand und die nähere Umgebung mit den Augen absuchte.

Sie bewunderte ihn. So direkt wie er konnte sie sich nie nähern. Obwohl sie durch ihren Beruf immer wieder mit Leichen zu tun hatte, fiel es ihr jedes einzelne Mal schwer, sie zu betrachten. Sie sah niemals nur einen toten Körper vor sich, sondern malte sich immer das Leben hinter dem Toten aus. Seine Familie, seine Freunde, seine Gefühle, Trauer, Schmerz, Freude und Erinnerungen, all das, was ihn zu einem lebendigen Menschen gemacht hatte.

Normalerweise überblickte sie erst die Umgebung, bevor sie sich zögernd zu dem Körper begab. Sie versuchte sich vorzustellen, wie alles ausgesehen hatte, als der Mord geschehen war, warum sich Mörder und Leiche genau an dieser Stelle getroffen hatten. Als Moritz sie bemerkt hatte, drehte er sich zu ihr um.

„Prinzessin, du glaubst es nicht. Schau dir die Leiche an!“ Olivia verstand seinen Hinweis nicht. Noch nicht. Jedoch bemerkte sie, dass nun nahezu jeder Kollege am Tatort sich zu ihr umgedreht hatte und sie beobachtete. Sie riss sich zusammen, nahm Haltung an und lief geradewegs den Mittelgang der Kirche auf den Fundort der Leiche zu. Ihre Schritte hallten im Raum, obwohl sie dieses Mal weiß Gott keine High Heels anhatte. Zunächst sah sie gar nichts, weil ihr alle die Sicht verstellten, dann traten einige Spurensicherer zur Seite, schließlich machten Klose und Moritz Platz. Olivias Blickfeld war frei. Sie starrte direkt auf das Gesicht der Leiche. Nein, sie glaubte es wirklich nicht. Moritz lag richtig, damit hatte sie nicht gerechnet. Es durchzuckte sie und lief ihr eiskalt über den Rücken. Nicht die Spuren des Einschusses entsetzten sie, sondern die Tatsache, dass sie den Toten kannte. Noch nie zuvor hatte sie eine Leiche, mit der sie beruflich konfrontiert war, gekannt, und sei es auch nur für kurze Zeit. Es war ihr erstes Mal. Vor ihr lag der tote Körper von Andreas Beck. In seiner rechten Hand hielt er eine Pistole. Selbstmord, legte sich Klose schnell fest.

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Es gehörte zu Moritz’ Gewohnheiten, durch die Quadrate zu laufen, wenn er über einen Fall nachdenken wollte. Sie waren noch eine Weile am Tatort geblieben, dann hatte er Olivia weggezogen. Er wollte mit ihr in Ruhe über den Fall nachdenken und, sobald die Spurensicherer so weit waren, noch in Becks Wohnung vorbeischauen. Die beiden überquerten die Bismarckstraße und gingen in die Quadrate hinein, geradewegs auf den Paradeplatz zu.

„Warum sollte sich der Hausmeister selbst töten? Und noch dazu in der Schlosskapelle?“, überlegte Moritz laut. „Gute Frage. Es muss eine Verbindung zwischen ihm und der Kapelle bestehen.“

„Aber besonders christlich schaute er mir nicht aus.“

„Zumal Selbstmord doch eine Todsünde ist“, bemerkte Olivia trocken.

„Vielleicht wurde er in die Kirche gelegt, nachdem er schon tot war“, mutmaßte Moritz.

„Dann war es kein Selbstmord. Und wenn es kein Selbstmord war, ist es nicht unlogisch, dass ein Mörder die Leiche vom Tatort wegbewegt, wenn der Tatort ihn verraten würde. Demnach wäre er an anderer Stelle erschossen worden, vermutlich aber in der Uni. Ich behaupte jetzt mal ganz kühn, im Büro eines Professors oder so.“

„Prinzessin, Sekunde, ich muss mir schnell was zu essen kaufen. Bin gleich wieder da“, unterbrach Moritz sie.

Er lief schnell zu einem der typischen Mannheimer Bretzelstände, um sich eine Butterbretzel zu kaufen, und Olivia setzte sich in der Zwischenzeit auf eine Bank, um auf ihn zu warten. Mit leerem Magen konnte Moritz nicht ermitteln, das kannte sie. Sie war tief in Gedanken und grübelte über Andreas Becks vermeintlichen Selbstmord nach, als sie von einer älteren Frau angesprochen wurde. „Entschuldigung, sind Sie aus Mannheim?“, fragte die Dame.

„Äh, ja, warum?“

Die Dame zückte ihren Stadtplan.

„Ich suche das Quadrat P 2. Und hier ist erst D 1.“

Die Dame zeigte auf das gegenüberliegende Gebäude und fuchtelte wild mit dem Stadtplan herum. Olivia stand auf, half ihr mit dem Plan und faltete ihn geradewegs wieder zusammen.

„Das ist ganz einfach. Das Quadrat da drüben, D 1, ist völlig egal. Die Kurpfalzstraße hier, die durch den Paradeplatz verläuft, teilt die Quadrate in A bis –“

Sie musste kurz überlegen.

„Bis K. Und dann von L bis U. Sie brauchen sich quasi nicht an diesem Gebäude orientieren. Der Paradeplatz ist das Quadrat O 1. P 2 ist dann dort schräg gegenüber. Ganz einfach!“

„Ganz einfach?“ Die Frau runzelte die Stirn.

Olivia zeigte auf das entsprechende Quadrat.

„Ah, haben Sie vielen Dank. Immer gut, wenn man jemand Einheimisches trifft.“ Mit diesem Satz ließ sie Olivia stehen, die sich wieder auf die Bank fallen ließ.

Da war sie eben doch tatsächlich als Einheimische bezeichnet worden. So schnell kann es gehen. Sie schüttelte lachend den Kopf und freute sich darüber. Im Grunde hatte ihr Mannheim von Anfang an gefallen, auch wenn ihr Einstieg hier nicht leicht gewesen war, weil sie sofort in einen Mordfall geraten war. Sie hatte sich von dem Fall, den neuen Kollegen und der neuen Stadt überrollt gefühlt, Olivia konnte jedoch nicht behaupten, dass sie Mannheim jemals gehasst hätte. Sie mochte es. Mannheim war für sie eine ehrliche Haut. Die Menschen waren herzlich und stolz auf ihre Stadt, das kannte sie sonst nur von wenigen Städten in Deutschland. Und Mannheim war vor allem eins: unprätentiös. Genau das machte ihr das Leben hier so leicht. Dass sie nun für einen Teil dieser Stadt gehalten wurde, freute sie. In Mannheim war also nicht nur Platz für Hunderte verschiedene Kulturen und Sprachen, sondern auch für eine Polizistin aus Berlin. In diesem Moment kam Moritz zurück.

„Was ist?“, wollte er zwischen zwei Bissen in seine Bretzel wissen.

„Ich habe gerade jemandem die Quadrate erklärt“, kam es Olivia über die Lippen. Sie war von sich selbst überwältigt, verblüfft und stolz zugleich.

„Nicht schlecht. Ein halbes Jahr und du bist bereits Monnemerin. Das hat bei einigen anderen länger gedauert.“

Moritz wollte sich neben Olivia setzen und schaute dabei nicht auf den Boden. Er kam einem kleinen Hund zu nahe und trat ihm auf den Schwanz, worauf dieser ihn aus Leibeskräften ankläffte. Sein Herrchen warf dem Kommissar einen vorwurfsvollen Blick zu. Während sich Moritz entschuldigte, kam Olivia ein Gedanke.

„Was macht jemand, der sich selbst umbringt mit seinem Hund?“

„Du meinst Beck?“, fragte Moritz und war sofort bei der Sache. Hündchen und Herrchen waren vergessen, Beck und Schäferhund waren angesagt.

„Los, iss deine Bretzel unterwegs, wir müssen seine Wohnung untersuchen.“

Sie liefen so schnell sie konnten vom Paradeplatz zum Haus B 2, 19, das sie ja bereits vom gestrigen Abend kannten. Moritz klingelte in diversen Wohnungen und ließ sich von einem der Nachbarn die Haustür öffnen. Dann machte er sich an Becks Eingangstür zu schaffen, was den Hund alarmierte.

„Brutus ist noch da“, stellte Olivia fest.

Sie lauschten eine Weile und überzeugten sich, dass sich der Hund nicht direkt hinter der Tür befand.

„Vielleicht ist er im selben Zimmer eingeschlossen, wie gestern Abend“, mutmaßte Moritz. „Und ich glaube, du hast recht. Der hätte sich nicht erschossen, ohne seinen Hund zu versorgen. Mal sehen.“

Moritz kramte in seinem Geldbeutel, zog eine alte Scheckkarte hervor und versuchte mit ihr die Tür zu öffnen. Er rüttelte mehrere Male am Knauf, bis die Scheckkarte endlich die Verriegelung wegschob und die Tür aufsprang. „Das hast du nicht zum ersten Mal gemacht“, stellte Olivia fest.

„Nein, aber am häufigsten an meiner eigenen Wohnungstür erprobt.“

Olivia schaute ihn fragend an.

„Ich hab früher dauernd meine Schlüssel vergessen“, gab er zu.

Vorsichtig betraten sie die Wohnung. Brutus kam nicht auf sie zugestürzt, dafür hörten sie ihn aus dem Nebenzimmer bellen.

„Schließt ein Selbstmörder nicht ab?“, wunderte sich Olivia.

„Warum sollte er das tun? Wie auch immer, ich glaube eher, dass er die Wohnung in großer Hektik verlassen und deshalb nicht abgeschlossen hat.“

Sie gingen durch den Flur in die Küche, wo es muffelte. Olivia zog ihren Schal vors Gesicht.

„Mein Gott, was ist denn das?“

„Hundefutter.“

Auf der Anrichte stand eine große Büchse Hundefutter, die geöffnet, aber nicht geleert war.

Olivia blickte sich weiter um. Auf dem Tisch lag ein Stapel mit Post, den sie schnell durchsah.

„Werbung, Werbung, Werbung, Kontoauszug –“ Sie konnte ihre Aufzählung nicht zu Ende bringen, denn Moritz zog ihr bereits den Brief von der Bank aus der Hand.

Sie schaute die Post weiter durch und fand schließlich den Brief eines Reisebüros. Überraschenderweise enthielt dieser keine Werbung, sondern die Buchungsbestätigung für eine Reise nach Lanzarote über Silvester.

„Hast du in den Kontoauszügen etwas Interessantes gefunden?“, fragte Olivia.

„Weiß noch nicht. Warte, hier. Eine Buchung. Vom Reisebüro –“

„Reisebüro Engelhardt. Lanzarote. Über Silvester“, kam ihm Olivia zuvor. Sie hielt Moritz das Schreiben unter die Nase. „Also, wenn du mich fragst, handelt es sich um keinen Selbstmord.“

„Bin ganz deiner Meinung, Prinzessin. Die Wohnung sieht nicht danach aus, wahrscheinlich wollte er Brutus gerade füttern, als er überstürzt los ist. Und niemand bucht, wenige Tage bevor er sich umbringt, eine Reise“, bestätigte Moritz die Vermutung von Olivia.

„Außerdem fehlt ein Abschiedsbrief.“

„Stimmt.“

Moritz wählte die Nummer von Fatihs Handy.

„Wir sind in B 2, 19 bei Beck. Wenn du an der Uni fertig bist, schick ein Team hier rüber. Olivia und ich glauben übrigens nicht mehr an Selbstmord.“

Er wollte auflegen, dann fiel ihm noch etwas ein:

„Ach ja, seid vorsichtig, Beck hatte einen riesigen Schäferhund. Brutus. Und ich glaube, der hat Hunger.“

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Dr. Klose hatte seine beiden Ermittler gleich nach ihrer Rückkehr von Becks Wohnung zur Seite genommen. Er wirkte angespannter als sonst und wollte etwas Abstand zum Tatort und der Leiche bekommen, daher liefen sie durch den Schlosspark hinunter zur Rheinpromenade. Am Flussufer blieb Dr. Klose stehen und blickte über den Rhein. Er atmete zwei Mal tief durch. Mittlerweile war es in Mannheim so kalt geworden, dass sein Hauch deutlich zu sehen war. Der Kriminaldirektor sammelte sich und drehte sich schließlich zu seinen beiden Ermittlern um.

„Was glauben Sie beide, was hier gerade vor sich geht?“, fragte er sie.

Moritz starrte gedankenverloren vor sich auf den Boden. Olivia hatte ein Transportschiff beobachtet, das wie viele andere den Rhein hinauf und wieder hinunter fuhr.

„Die beiden Morde hängen auf jeden Fall zusammen“, stellte Olivia fest. „Das ist kein Zufall. Davon bin ich überzeugt.“

„Regel Nummer eins beim Auftragsmord: Töte den Mörder“, spekulierte Moritz.

„Das würde bedeuten, dass Beck den Mord an Schönburg verübt hat“, nickte Klose. „Es würde passen. Aber wer hätte Beck beauftragt, Schönburg zu töten, und ihn danach selbst beseitigt?“

„Vielleicht stellte Beck Forderungen und wollte mehr Geld von seinem Auftraggeber?“, überlegte Moritz weiter. „Mir sieht das nicht nach Auftragsmord aus. Vielmehr nach Totschlag im Affekt. Und überhaupt: Was wollte Beck dann gestern Abend vor dem Polizeipräsidium?“, gab Olivia zu Bedenken.

„Richtig!“, entfuhr es Klose, „Was wollte er da?“

„Sich stellen und den Mörder anzeigen. Aber das passt nicht, dann hätte er den Auftrag zum Mord gleich ablehnen können“, argumentierte Olivia weiter.

„Was unterm Strich heißt, dass Beck nicht der Mörder sein kann. Und Kugler kann es auch nicht gewesen sein, falls es sich bei beiden Morden um ein und denselben Täter handelt. Sie sitzt ja noch immer in Untersuchungshaft“, schlussfolgerte Klose.

„Vielleicht hat Kugler beide Morde in Auftrag gegeben“, warf Moritz in die Runde. „Und vielleicht hat sie darauf spekuliert, dass sie in U-Haft sitzt, während der zweite Mord geschieht.“

„Sie hat für den zweiten Mord kein Motiv. Wir sind uns noch nicht einmal sicher, ob sie Beck überhaupt kennt. Sobald ich im Polizeipräsidium bin, werde ich sie übrigens freilassen“, sagte Klose.

Die drei gingen einige Schritte weiter am Rhein entlang. Der kalte Wind blies ihnen entgegen. Olivia wickelte ihren Schal erneut fest um ihren Hals, Dr. Klose stellte den Kragen seines Mantels nach oben, nur Moritz schien die Kälte nichts auszumachen.

„Sie frieren nicht, Moritz?“, fragte Klose.

„Nie“, bestätigte der Kommissar.

„Vielleicht hat Beck den Mord an Schönburg beobachtet und war der einzige Zeuge. Wenn es so gewesen ist, hätte er gestern Nacht wahrscheinlich die Polizei informieren wollen“, überlegte Olivia.

„Keine schlechte Idee, aber warum hat er uns dann nichts gesagt, als wir bei ihm waren?“, wunderte sich Moritz.

„Er traut der Polizei nicht. Das habe ich von Anfang an gespürt. Er muss sich erst spät in der Nacht zu diesem Schritt durchgerungen haben. Dann lief er zum Präsidium und –“

„Und hat sich anders entschieden“, vollendete Klose Olivias Satz.

„Das klingt plausibel.“ Moritz nickte.

Ein Skateboardfahrer drängte sich an den Kommissaren vorbei. Olivia und Moritz reagierten schnell und sprangen zur Seite, doch Dr. Klose war zu überrascht, um zu reagieren. Er stieß mit dem Fahrer zusammen und taumelte. Während er sich gerade noch mit den Händen abstützen konnte und nicht ganz zu Boden ging, hatte sich der Skateboardfahrer sofort gefangen und war schon einige Meter entfernt.

Klose schrie hinterher: „Was glaubst du, wer du bist?! Wir sind doch nicht bei den Spastelruther Katzen!!!“

Olivia glaubte nicht, dass er sich dieses Mal versprochen hatte. Das klang nach Absicht. Sie war von dem Satz so fasziniert, dass sie ihn bei nächster Gelegenheit gleich twittern musste.

„Wir checken als Nächstes Becks Kabäuschen an der Uni“, schlug Moritz vor.

Sein Chef nickte.

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Als die drei vom Rhein zurückkamen, lief ihnen Fatih bereits eilig entgegen.

„Wir sind hier fertig und gehen nun nach B 2.“

„Irgendwelche Neuigkeiten?“, fragte Moritz.

„Nun ja, der Schuss wurde aus kurzer Distanz in die rechte Schläfe gefeuert. Dafür spricht die sternenförmige Hautaufplatzung an dieser Stelle. Er war sofort tot, was aber heißt, dass ihm die Waffe aus der Hand gefallen wäre. Er hielt sie jedoch, so gut es mit der Leichenstarre ging, in seiner rechten Hand, als er gefunden wurde. Wir haben zudem an keiner der beiden Hände Schmauchspuren feststellen können. Wenn ihr mich fragt, wollte hier jemand einen Selbstmord vortäuschen.“

„So weit sind wir auch, Fatih“, warf Olivia ein.

Wie könnt ihr so weit sein, ohne das Ergebnis der Kriminaltechnischen Untersuchung zu kennen? Wir liefern doch die Fakten!“, erregte sich Fatih, der wie immer davon überzeugt war, dass nur seine Abteilung die entscheidenden Ergebnisse liefern konnte.

„Wenn du weiterhin so langsam machst, brauchen wir dich gar nicht mehr. Irgendwelche richtigen Neuigkeiten?“, frotzelte Moritz.

Fatih überhörte den ersten Teil des Satzes und überlegte. „Ach ja, wir haben sein Handy untersucht. Er hatte am Vormittag um 9 Uhr einen Termin mit einem Prof. Meerstadt hier an der Uni.“

„Passt das mit der Todeszeit?“, fragte Moritz.

„Den genauen Zeitpunkt des Todes haben wir noch nicht rekonstruieren können. Aber selbst wenn wir das Ergebnis haben, gibt es so viele Abweichungsmöglichkeiten, dass der Termin durchaus mit dem Zeitpunkt des Mordes zusammenfallen könnte, aber nicht zwangsweise muss.“

„Also alles und nichts“, resignierte Moritz.

Olivia dagegen war alarmiert, den Namen Meerstadt hörte sie in Zusammenhang mit diesem Fall immerhin nicht zum ersten Mal.

„Meerstadt? Dem statten wir doch sofort einen Besuch ab!“

Sie zog Moritz am Ärmel weg von den Kollegen.

„Bei Schönburg habe ich einen Artikel über Meerstadts Forschung gefunden. Ich möchte wissen, wie die beiden Männer zueinander standen“, erklärte sie ihrem Kollegen.

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Der Schatten stand an einem Fenster des Mannheimer Schlosses und beobachtete das Geschehen vor der Universität. Gerade kamen die Kommissare zurück zum Tatort und unterhielten sich dort unten. Er konnte die Kommissarin und den Kommissar sehen, die bereits gestern an Schönburgs Leiche gestanden waren und die er auch in Feudenheim gesehen hatte. Der Ältere war wahrscheinlich der Chef, und hinzu kam nun ein vierter, der die drei mit Informationen zu versorgen schien. Wahrscheinlich war er nur ein Handlanger.

Sein Blickt schweifte ab. Er blickte den Gang entlang, auf dem er gerade stand, und stellte fest, dass er nicht alleine war. Rings um ihn herum hatten sich Schaulustige an die Fenster gestellt und gafften in den Hof. Ob sie verstanden, dass sie den Aufklärungsarbeiten eines zweiten Mordes zusahen? Da sich gerade erst herumgesprochen hatte, dass es gestern Abend einen Toten gegeben hatte, brachten viele den Einsatz wahrscheinlich in Verbindung damit. Es gab auch eine Verbindung. Das wusste nur die Schattengestalt, nur sie. Die Studenten und Dozenten um sie herum konnten das unmöglich wissen.

Einer der Studenten zückte sein Handy und filmte das Geschehen. Wie widerlich sensationslüstern die Menschen doch waren. Am liebsten hätte sie ihm das Handy aus der Hand geschlagen. Doch sie musste sich unauffällig verhalten, bis sie in Sicherheit war.

Der Schatten sah wieder hinab in den Hof. Sein Blick fiel auf die Polizistin, die er instinktiv für seine Gegenspielerin hielt.

„Sie ist also diejenige, die mich kriegen soll?“ Er lächelte in sich hinein. „Tut mir leid, das wird nicht gelingen.“ Jemand wie sie konnte ihm nicht das Wasser reichen. Er fürchtete sie nicht.

Sein Blick haftete an Olivia. Sie war ihm sympathisch. Er bedauerte es, dass sie in diesem Spiel Gegner waren. Aber für solche Gefühle war kein Platz mehr in seinem Leben. Er hatte nur einen Auftrag. Er musste sein Geheimnis gut verteidigen. Notfalls gegen sie, die Kommissarin. Ein lautes Seufzen entfuhr ihm. Die Menschen um ihn herum wussten nicht, warum er seufzte, aber er wusste es genau. Denn er hatte sein Geheimnis gestern und heute zweimal verteidigt, sogar verteidigen müssen, und notfalls würde er es auch ein drittes Mal tun.

Wie schade und wie unnötig die Tode doch waren. Schönburg hätte sich sicher gewünscht, anders aus dem Leben zu scheiden. Warum hatte er nicht hören wollen? Er hatte ihn geradezu gezwungen zu handeln. Die Schattengestalt schüttelte innerlich den Kopf. Was hatte sich Schönburg nur eingebildet? Ihm hätte doch klar sein müssen, dass sie niemals ihr Geheimnis offenbaren würde. Und auch dem nassforschen Hausmeister hatte sie die Grenzen aufzeigen müssen. Welche Verschwendung von Leben.

Eine Studentin, die neben ihr stand, lächelte sie an. „Was ist da passiert?“

Die Gestalt zuckte mit den Schultern. Wollte sie wirklich wissen, was da passiert war oder galt ihr Interesse ihrer Person und sie nutzte die Situation im Ehrenhof nur als Vorwand? Die Studentin sah nicht schlecht aus. Sie sah sogar sehr gut aus! Und sie gefiel ihr so sehr, wie ihr jemand gefallen konnte.

Eigentlich interessierte den Schatten weder das eigene noch das andere Geschlecht. Häufig hatte er schon versucht herauszufinden, woran das lag. Mit 16 hatte er sich gefragt, ob ihn nur das eigene Geschlecht anziehe, und es ausprobiert. Ihm war es zwar gelungen, eine Beziehung zu führen, doch letztlich scheiterte diese an seinem Desinteresse. Sexualität war einfach nichts für ihn. Er konnte nicht verstehen, wie sich Menschen dadurch voneinander abhängig machten. Mit Erstaunen beobachtete er andere, die wütend oder traurig wurden, wenn man sie verließ. Ebenso konnte er das Glück in Menschen erkennen, wenn sie sich frisch ineinander verliebt hatten. Doch er, er kannte nichts dergleichen. Weder war er jemals wirklich verliebt gewesen, noch fühlte er Schmerz, wenn eine Beziehung zerbrach. Nächtelang grübelte er über sich. Er empfand auch dabei keinen Schmerz. Er begriff nur einfach, dass ihm zwischenmenschliche Beziehungen nichts bedeuteten. Die Studentin ließ nicht von ihm ab. „Hey, was ist da im Hof passiert?“

Noch ehe die Gestalt antworten konnte, war sie wieder in ihren Gedanken gefangen. Sie erinnerte sich daran, wie sie zum ersten Mal ihren Körper eingesetzt hatte, um an wichtige Informationen zu kommen. Das war ein fairer Deal gewesen. Sie hatte ihre Absicht von vornherein beständig kommuniziert. Als es schließlich so weit gewesen war und sie bekommen hatte, was sie gewollt hatte, war es ihr unmöglich gewesen zu verstehen, dass sie offenbar jemanden verletzt hatte. Heute war ihr das bewusst, sie konnte menschliche Emotionen vom Kopf her verstehen, auch wenn sie sie nicht nachempfinden konnte.

„Sicher nur eine Feuerwehrprobe“, murmelte sie zur Studentin, weil ihr gerade nichts Besseres einfiel. Diese blickte sie trotzdem weiterhin fragend an, und der Schatten überlegte sich, ob er auf sie eingehen sollte oder nicht. Irgendwann würde sie verletzt sein und diesen Moment verfluchen. Also ließ er es. Er drehte sich von ihr weg und blickte wieder in den Ehrenhof. Die Studentin sollte froh über diese Reaktion sein, dem schien aber nicht so zu sein.

„Höflichkeit ist eine Zierde!“, warf sie ihm zu, bevor sie ging.

„Ich schütze dich nur. Das ist viel höflicher, als dein kleines Hirn gerade erkennen kann“, dachte sich der Schatten, und dessen war er sich sicher. Sie war unter seinem Niveau – und sie würde leiden, sobald er von ihr ablassen würde.

Ein letzter Blick in den Hof sagte ihm, dass die Kommissare auf dem Weg in das Universitätsgebäude waren. Er musste los.

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Olivia hatte Meerstadts Büro schnell ausfindig gemacht. Nun schritt sie gemeinsam mit Moritz die endlos wirkenden Gänge des Schlosses entlang, um dem Professor auf den Zahn zu fühlen.

Sie war sich nicht sicher, ob er etwas mit diesem Fall zu tun hatte, doch es war auffällig, dass sich beide Opfer in irgendeiner Weise mit ihm befasst hatten. Auch wenn sie bislang kein Motiv finden konnte, so würde die Theorie passen, dass Beck ihn beim Mord beobachtet haben könnte und deswegen aus dem Weg geräumt werden musste.

Sie gingen in den ersten Stock, bogen einmal um die Ecke und standen schließlich vor dem Büro des Professors. Moritz klopfte, wartete das obligatorische „Herein“ nicht ab und betrat gleich den Raum. Olivia folgte ihm. Allerdings standen sie nicht in Meerstadts Büro, sondern in einem Vorzimmer, in dem eine Sekretärin saß. Sie erschrak.

„Kriminalpolizei Mannheim, keine Sorge, wir sind die Guten“, versuchte Moritz sie zu beruhigen.

„Olivia von Sassen, Moritz Martin. Hallo! Wir möchten zu Herrn Professor Meerstadt“, versuchte es Olivia auf die freundliche Art.

Die Sekretärin hatte sich von ihrem Schreck erholt und war über Moritz’ Verhalten empört.

„Auch die Polizei sollte sich an Anstandsregeln halten!“

„Nein, wir schreiben unsere eigenen Gesetze. Ist der Professor hier drin?“ Er deutete an, in das Nebenzimmer gehen zu wollen, das man nur durch das Sekretariat erreichen konnte.

„Der Professor möchte nicht gestört werden“, verteidigte die Sekretärin das Zimmer ihres Chefs. Sie stürmte um den Tisch herum und wollte sich Moritz in den Weg stellen, doch dieser war schneller. Er machte zwei Schritte auf die Tür zu und griff zur Klinke.

„Wir gehen da jetzt rein!“, reizte Moritz die Sekretärin weiter.

Diese wandte sich an Olivia.

„Bitte sagen Sie ihm nicht, dass ich Sie reingelassen habe. Ich bekomme sonst höllischen Ärger. Sie wissen doch, wie manche Professoren sind.“

Olivia nickte. „Machen Sie sich keine Sorgen.“

Mit einem kurzen Klopfzeichen drückte Moritz die Klinke nach unten und betrat das Büro.

Der Professor saß in einem Chesterfieldsessel, der Olivia unweigerlich an die Bondfilme der Sechzigerjahre erinnerte. Nur war sie weder Bond noch Moneypenny, sondern in den Augen des Professors unerwünscht. Er blickte noch nicht einmal von seinen Texten hoch, die er gerade durchging und an deren Seite er etwas mit einem Füller notierte.

„Ich habe Sie bereits vernommen. Sie stören mich bei der Arbeit, das finde ich unerhört. Aber da Sie sich nun einmal aufdrängen und dem Staate dienen, verweise ich Sie nicht des Raumes.“

Olivia fühlte sich wie eine Grundschülerin. Sie stand neben Moritz und fand sich restlos fehl am Platz. Moritz’ Vorgehen war zwar unhöflich gewesen, doch Meerstadt, das spürte sie deutlich, war darauf aus, eine Machtposition ihnen gegenüber aufzubauen und die mit allen Mitteln auszukosten.

„Danke, dann nehm ich mal Platz!“, hörte sie ihren Kollegen sagen, der sich im selben Augenblick auf das Sofa fallen ließ, das ebenfalls im Chesterfield-Stil gehalten war. Der Professor schaute nur kurz auf. Wahrscheinlich war auf diesem Sofa noch nie zuvor jemand gesessen. „Anstand und gute Manieren sind offenbar nicht Ihre Stärke, Herr –?“

„Martin, Moritz Martin. Das ist meine Kollegin Olivia von Sassen.“

Olivia nickte ihm zu und setzte sich langsam neben Moritz.

„Wir haben ein paar Fragen an Sie, Herr Meerstadt“, begann Olivia. Sie ließ ganz bewusst das „Professor“ weg, nicht weil sie ihn weiter provozieren, sondern weil sie ihm auf gleicher Ebene begegnen wollte. Ob er einen hohen akademischen Rang innehatte oder nicht, spielte weder für ihre Ermittlungen noch für ihre Vorstellung davon, wie Menschen miteinander umgehen sollten, irgendeine Rolle.

Meerstadt seufzte. Er machte noch ein paar Notizen an den Rand des Textes, den er gerade las, was aber auf Olivia so wirkte, als würde er dies nur tun, um beschäftigt zu wirken. Irgendwie traute sie ihm nicht. Endlich legte er Papier und Stift beiseite und wandte sich den beiden Eindringlingen in seinem Revier zu.

„Was kann ich für Sie tun?“ Er blickte Olivia scharf in die Augen und versuchte Moritz, so gut es ging, zu ignorieren.

„Wie Sie wahrscheinlich wissen, gibt es zwei Todesfälle an der Universität, in beiden Ermittlungen sind wir auf Ihren Namen gestoßen.“

„So, sind Sie das?“, war alles, was er trocken zu bemerken hatte.

„Ja, sind wir“, bekräftigte Moritz Olivias Aussage, „Können Sie uns erzählen, wie Sie zu Reinhardt Schönburg standen?“

„Deswegen sind Sie hier?“ Er lachte Moritz geradezu aus. „Sie wollen wissen, wie ich zu ihm stand? Ich würde es Ihnen wohl kaum sagen, falls ich ihn gehasst und aus irgendeinem Grund umgebracht hätte, oder? So naiv können Sie nicht sein. Und ich werde Ihnen genauso wenig irgendwelche Belanglosigkeiten daherplappern, wie etwa: wir waren Kollegen oder wir hatten ähnliche Forschungsfelder. Das wäre eine Zeitverschwendung meinerseits, die ich nicht bereit bin einzugehen. Solche Banalitäten können Sie von jedem zweiten Mitarbeiter dieser Universität erhalten, aber nicht von einem Ordinarius wie mir.“

Moritz fehlte die richtige Antwort. Olivia spürte, dass er sich von dieser Abfuhr angegriffen fühlte, wollte jedoch vermeiden, dass er sich auf einen verbalen Schlagabtausch einließ, und versuchte deshalb, dem Gespräch eine andere Richtung zu geben.

„Sie hatten heute Vormittag einen Termin mit Andreas Beck, einem der Hausmeister der Universität.“

„In der Tat hatte ich diesen Termin. Doch Herr Beck ist nicht zur vereinbarten Zeit hier bei mir erschienen. Man sollte von einem Universitätsangestellten, auch wenn er nur von niedrigem Rang ist, etwas mehr Disziplin erwarten.“

„Kann Ihre Sekretärin das bestätigen?“, forschte Olivia nach.

„Nein, das kann sie nicht. Sie fängt erst später an.“

„Weshalb wollten Sie sich mit ihm treffen?“, fragte Moritz von der Seite.

Meerstadt ignorierte ihn weiterhin und antwortete, in dem er nur Olivia ansah: „Ich wollte, dass er sich meine Heizung anschaut, sie heizt nicht richtig, obwohl das ihre einzige und noch dazu eine wichtige Aufgabe ist.“

„Eine letzte Frage noch, Herr Meerstadt, dann lassen wir Sie in Ruhe. Wo waren Sie vor 9 Uhr an diesem Morgen?“

„Sie verdächtigen mich, gnädige Frau?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich war mit meinem Auto unterwegs von Heidelberg, wo ich wohne, wie sie vielleicht wissen, hierher an die Mannheimer Universität. Und jetzt muss ich Sie bitten, einen ungescholtenen und schwer beschäftigten Mann in Ruhe zu lassen. Ich muss gleich den Zug nach München nehmen. Dort habe ich heute nämlich noch einen Vortrag zu halten. Wenn Sie weitere Fragen haben, wenden Sie sich an meine Sekretärin, die soll Ihnen einen Termin geben. Ich kehre erst morgen Vormittag von meiner Reise zurück. Auf Wiedersehen.“

Mit einer kurzen Geste deutete er in Richtung Tür, dann nahm er seinen Füller und das Manuskript wieder zur Hand und ignorierte die beiden Kommissare, während diese hinausgingen. Olivia verabschiedete sich noch, doch schienen ihre Worte irgendwo im Nichts zu verhallen. Meerstadt war sofort in seinen Text vertieft oder tat zumindest so, als wäre er es.

An der Sekretärin vorbei gingen die beiden Kommissare hinaus auf den Gang. Als sie außer Hörweite waren, fluchte Moritz.

„Was ein Typ!“, dann äffte er ihn nach, „Die Heizung heizt nicht richtig, obwohl das ihre einzige und noch dazu eine wichtige Aufgabe ist. Er soll sich bloß nie dort blicken lassen, wo ich herkomme. Da würde man ihm dieses arrogante Getue schon austreiben!“

„Du hast dich auch nicht gerade benommen, wie Knigge es empfiehlt.“

„Verteidigst du ihn jetzt? Was soll das?“

„Nein, Moritz, ich verteidige ihn nicht. Ich glaube eher, dass er etwas zu verbergen hat. Und allein deshalb würde ich mich auf sein Spiel erstmal einlassen.“

„Bin ich froh, dass ich gleich im Murphy’s ermitteln darf. Das ist eher meine Welt“, seufzte Moritz.

Olivia fiel ein, dass Moritz am Vormittag deutlich gemacht hatte, dort allein hingehen zu wollen. Nur allzu gern hätte sie gewusst, warum er das vorhatte. Wenn er auf die Bedienung stand, brauchte er keine Ermittlung, um dorthin zu gehen. Er konnte jeden Abend ins Murphy’s. Irgendwie hatte sie nicht übel Lust, ihm die Tour zu vermasseln. Andererseits wollte sie gerne noch mit Meerstadts Sekretärin sprechen, und dabei war Moritz vielleicht eher hinderlich. Außerdem fiel ihr Dennis ein. Wenn er sich an der Uni befand, hatte sie eine Chance, ihn zu sehen, und musste nicht warten, bis sie den Fall gelöst hatte. Vielleicht wusste er ja etwas über Meerstadt, was ihr weiterhelfen konnte.

Während Moritz noch immer vor sich hinfluchte, zückte Olivia ihr Smartphone und schaute nach, ob Dennis übers Netz zu erreichen war. Tatsächlich war er online.

„Was weißt du über Professor Meerstadt?“, schrieb sie ihm.

„Das sag ich dir bei einem Kaffee. 18.30 Uhr Cafeteria?“, antwortete er prompt.

„Okay.“

Sie steckte ihr Smartphone wieder ein und folgte ihrem Kollegen nach draußen. Im Freien blickte sie sich um und entschloss sich endgültig, an der Universität zu bleiben.

„Moritz, du wolltest doch alleine ins Murphy’s, stimmt’s? Geh ruhig, ich schau mich hier noch ein wenig um.“

„Okay“, lautete Moritz’ Antwort kurz und knapp.

„Wenn es etwas gibt, meldest du dich, ja? Ich versuche noch etwas mehr über Meerstadt herauszufinden.“

„Ehrensache, Prinzessin“, grinste Moritz und verschwand.

Olivia drehte sich um und ging noch einmal zurück zu Meerstadts Sekretärin. Gerade als sie um die Ecke eilte und in den langen Gang einbog, in dem der Professor sein Büro hatte, sah sie, wie er zum Bahnhof aufbrach. Sie wartete eine Weile, bis er verschwunden war, und betrat schließlich das Sekretariat.

„Sie schon wieder!“, stöhnte die Sekretärin. „Haben Sie eine Ahnung, was mir Professor Meerstadt gerade noch gedrückt hat, bevor er zum Bahnhof ging?“

„Tut mir leid, dies lag nicht in meiner Absicht, Frau –“

„Müller, Carmen Müller.“

„Sie sind die Sekretärin von Professor Meerstadt?“

„Na ja, wie man es nimmt. Ich erledige zusammen mit einer Kollegin die Aufgaben, die im Sekretariat anfallen. Als Sekretärin bin ich allerdings nicht eingestellt.“

„Das heißt, eine Sekretärin gibt es im Grunde nicht?“

„Nein, eine solche Stelle könnte man zwar durchaus schaffen, und sie ist auch im Budget vorgesehen.“

Olivia war neugierig. „Und wieso macht man das dann nicht?“

„Für den Lehrstuhl ist es besser, zwei Hilfskräfte anzustellen, mich und meine Kollegin. Besser und günstiger und auch legitim. So sind wir beispielsweise jederzeit kündbar.“

„Das passiert?“

„Das passiert sogar häufig. Da kriegen wir Hilfskräfte einfach so gesagt, dass man uns ab dem nächsten Monat nicht mehr braucht. Danach können wir dann schauen, wie wir unseren Lebensunterhalt sicherstellen. Einer Freundin von mir erging es so. Die wird jetzt von ihrem Freund unterstützt. Reine Willkür ist das bei manchen. Manche – nicht alle – Professoren nutzen ihre Machtposition schamlos aus. Sobald man bei ihnen eine Bachelor-, Master- oder Doktorarbeit anfertigt, ist man ihren Machtspielchen ausgeliefert. Man macht schweigend lieber die ein oder andere Überstunde mehr, verzichtet auf einen gescheiten Arbeitsvertrag mit Sozialversicherung und Rente, um bei der Abschlussprüfung nicht unangenehm aufzufallen oder als Rebell zu gelten, weil man die Ungerechtigkeiten nicht mehr aushalten kann.“ Carmen Müller sah Olivia lange an.

„Aber warum erzähl ich Ihnen das? Das interessiert Sie doch ohnehin nicht.“

„Oh, mich interessiert das sehr. Immerhin muss ich in diesem Umfeld ermitteln und daher auch verstehen, was hier vor sich geht“, erklärte Olivia. „Und Ihr Chef ist auch so einer, der die finanzielle Lage der Studenten zu seinen Zwecken ausnutzt?“

„Meerstadt ist nicht so einer. Er mag arrogant und anstrengend sein, dennoch halte ich ihn für fair und gerecht, wenn man nach seinen Regeln spielt. Das sagte sogar seine Exfrau vor zwei Jahren nach der Scheidung.“ Olivia fragte sich sogleich, ob Meerstadt aus Gerechtigkeit einen Totschlag verüben hätte können, wenn man nicht nach seinen Regeln spielte.

„Können Sie mir sagen, wann er morgen aus München zurück ist?“, fragte Olivia zum Schluss.

„Er hat eine Sitzplatzreservierung für den ICE, der um 10.30 Uhr am Hauptbahnhof ankommt.

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Moritz hatte das Päckchen, das Olivia bei Schönburg gefunden hatte, unter den Arm geklemmt. Als er das Murphy’s Law betrat, atmete er tief durch. Er mochte den Geruch von Kneipen und verband diesen immer mit Freizeit, Entspannung und einer gemütlichen Runde in vertrautem Kreis. Wenn ihm die Arbeit dazu Zeit ließ, ging er gern mit seinen Freunden ins Murphy’s. Der Pub lag in der Nähe vom Hauptbahnhof. Während des Sommers hatte Moritz viele Abende draußen auf den Bänken verbracht, diese Zeit war nun jedoch vorbei. Dafür war es im Inneren des Murphy’s umso voller. Die meisten Gäste hatten sich für das Pubquiz am heutigen Abend einen Platz gesichert.

Moritz sah sich zunächst etwas um. Niemand sprang auf und rief, dass er die Person sei, auf die er oder sie warte, daher suchte er sich einen der wenigen freien Stühle in der Nähe der Fenster aus. Diese Plätze lagen etwas erhöht, sodass er einen guten Überblick über das Geschehen hatte. Seine Lederjacke behielt er an. Wenn diese Dorothee sich heute hier mit Schönburg treffen wollte, spielte sie wahrscheinlich nicht beim Pubquiz mit, sondern wartete auf ihre Verabredung. Er musste also beobachten, wer an dem Quiz teilnahm und wer nicht.

Moritz bestellte ein Pint und schaute sich um. Allerdings drehten sich seine Gedanken weniger um die Gäste des Pubs als vielmehr um Olivia und vor allem um seinen Cousin Dennis. Es passte ihm überhaupt nicht, dass die beiden sich so gut verstanden. Seine Welten hatten sich berührt und ließen ihn einmal mehr außen vor. Er mochte seinen Cousin, war er doch einer der wenigen Verwandten, die er noch hatte. Außer ihm blieben ihm nicht viele, da waren nur noch seine Großmutter mütterlicherseits sowie die Schwester seiner Mutter, Dennis’ Mutter. Seinen eigenen Vater und dessen Familie kannte er nicht. Die Gedanken an seine Mutter verdrängte er lieber ganz schnell. Das Polizeipräsidium war eine Art Ersatzheimat für ihn. Er ging gerne hin und verbrachte mehr Zeit bei der Arbeit als nötig, weil er sich dort geborgen fühlte. Seit Olivia in Mannheim war, fühlte er sich sogar noch wohler dort. Sie ersetzte seinen alten Partner Fritz Such, mit dem ihn eine Art Vater-Sohn-Verhältnis verbunden hatte, und sie passte einfach wunderbar in sein Leben. Mit ihr konnte er lachen, herumstreiten und gemeinsam Fälle lösen. Überall traten sie als Team auf – und es beruhigte ihn, sie an seiner Seite zu wissen. Er schätzte es, dass sie so unterschiedlich waren. Ja, irgendwie provozierte er ständig Situationen, in denen sich ihre verschiedenen Ansichten zeigten, um Olivia ein wenig herauszufordern. Sie und er gehörten auf gewisse Weise zusammen. Er wollte sie nicht teilen. Erst recht nicht mit seinem Cousin. Das kam für ihn nicht in Frage.

Die Bedienung brachte sein Pint, und er nahm einen großen Schluck. Wenn dieser Fall gelöst war, musste er mit Olivia sprechen. Oder lieber doch nicht. Er verwarf den Gedanken sofort. Was sollte er denn sagen? Das wäre töricht. Er durfte seine Karten keinesfalls offen auf den Tisch legen, das wäre zu verdächtig. Vielmehr musste er einen Weg finden, Olivia und Dennis voneinander fernzuhalten. Vielleicht würde Letzterer ja nach seiner Promotion wegziehen und irgendwo eine Stelle annehmen. Das wäre die beste Variante, denn dann könnte sich nur schwer etwas zwischen den beiden entwickeln. Und wenn er nicht wegziehen würde? Tja, dann musste er sich unbedingt etwas einfallen lassen, um Olivia an sich zu binden und sie von Dennis fernzuhalten.

In diesem Augenblick kam die Mitarbeiterin des Pubs, die für gewöhnlich das Quiz durchführte, an seinen Tisch. Moritz verwarf seine Gedanken und konzentrierte sich auf die Gegenwart. Wie immer lächelte sie ihn an, und wie immer lächelte er freundlich zurück.

„Heute alleine? Wo ist der Rest?“, fragte sie ihn und meinte damit seine Freunde, mit denen er hier bisweilen mitmachte. Mit einem Lächeln legte sie ihm den Bogen, den er für das Quiz ausfüllen musste, wie selbstverständlich auf den Tisch.

„Ist ein eher spontaner Besuch heute“, antwortete er und fügte in Gedanken hinzu: „und ein dienstlicher.“

Sie nickte, kaute auf ihrem Kaugummi und ging zum nächsten Tisch. Moritz bewunderte ihre amerikanische Lässigkeit, obwohl er nicht einmal wusste, ob sie Amerikanerin war. Aber das wusste man in Mannheim und der Region ohnehin nur schwer, weil sehr viele amerikanische Familien mit der US Army gekommen waren, sich hier niedergelassen hatten und über die Jahrzehnte zu einem festen Bestandteil der Gesellschaft geworden waren. Mehrfach hatte er schon darüber nachgedacht, ob er nicht etwas unternehmen sollte, um diese Frau näher kennenzulernen, doch er hatte sich dagegen entschlossen. Ihm gefiel es, dass sie ihn erkannte, wenn er im Murphy’s war, das reichte ihm. Er blickte ihr hinterher, bis sie schließlich alle Gäste mit dem Quizbogen versorgt hatte. Vorsichtig achtete er darauf, ob es jemanden gab, der ablehnte und nicht am Spiel teilnehmen wollte, doch er konnte niemanden ausmachen.

Schließlich begann das Quiz. Das erste Set an Fragen beschäftigte sich mit den Themenbereichen „Geographie“ und „Natur“. Vor allem in „Natur“ war Moritz nicht sonderlich stark. Er schaute auf die Uhr. Es war genau 18 Uhr. Dorothee musste also bereits irgendwo in diesem Raum sein.

„Der größte Vulkan auf dem europäischen Festland ist der Vesuv“, flüsterte ihm ein älterer Mann zu, der ihm am Tisch gegenübersaß. Er hatte einen starken englischen Akzent, doch Moritz konnte nicht ausmachen, ob er Ire, Schotte, Engländer oder Amerikaner war.

„Thank you“, entfuhr es Moritz.

Der Mann lächelte. Moritz nickte ihm freundlich zu, doch dann stellte er fest, dass das Lächeln des Mannes plötzlich schräg wirkte. Offenbar konnte er einen seiner Mundwinkel nicht nach oben ziehen. Fasziniert beobachtete er den Mann weiterhin und bemerkte, wie dessen Kopf rot anlief und danach blass wurde, als hätte jemand einen Schalter umgelegt.

„Wie heißt die kleinste der Kanarischen Inseln?“, hörte er die Frau fragen, als der Mann ihm gegenüber aufstand. Er lief einen Schritt, dann fiel er die kleinen Stufen, die die Plätze an den Fenstern vom Rest des Raumes trennten, hinunter und blieb mit dem Gesicht am Boden einfach liegen. Einige der Gäste an den Nebentischen sprangen auf, andere ignorierten ihn. Wahrscheinlich vermuteten sie, dass er zu viel getrunken hatte. Und für einen Alki hatten sie kein Mitleid übrig. Moritz hingegen war sofort alarmiert. Er sprang auf, schob mehrere Stühle zur Seite, um den Mann umzudrehen. Erst jetzt begriffen einige Gäste, dass es ernst war.

„Krankenwagen!“, brüllte Moritz einem Gast zu, der gerade ein Handy in der Hand hielt und sofort reagierte. Dann schaute er zur Bar und rief: „Wir haben einen Notfall! Ist ein Arzt anwesend?“ Dort verstanden sie zwar sofort, konnten aber nicht weiterhelfen.

Nachdem sich niemand meldete, konzentrierte Moritz sich wieder auf den Mann. Er fühlte seinen Puls und war zunächst erleichtert. Trotzdem musste der Notarzt schnell kommen, da der Mann sein Bewusstsein verloren hatte. Moritz vermutete einen Schlaganfall, lockerte seine Kleidung und brachte ihn in die stabile Seitenlage. Langsam bildete sich ein Kreis um ihn und den Herrn am Boden. Die Frau hatte das Mikrophon zur Seite gelegt, stellte keine weiteren Quizfragen und kam herbeigeeilt.

„Mein Gott, was ist passiert?“, fragte sie entsetzt.

„Ich weiß es nicht genau, hoffentlich nur der Kreislauf und nichts Schlimmeres“, antwortete Moritz laut und deutlich, um die Gäste zu beruhigen. Er sah den Gast fragend an, der den Krankenwagen verständigen sollte. Dieser nickte.

„Notarzt und Krankenwagen sind unterwegs“, erklärte er der Frau, während er sich hinabbeugte, um erneut Atmung und Puls zu kontrollieren.

„Vielen Dank für deine Hilfe“, zwinkerte sie ihm zu.

Wenig später stand der Rettungsdienst neben ihm und versorgte den Erkrankten. Das Blaulicht blinkte geräuschlos vor dem Murphy’s und hüllte den gesamten Bahnhofsvorplatz in Diskolicht.

Nachdem ihn der Notarzt versorgt hatte, war der Mann wieder zu Bewusstsein gekommen. Er hing nun an einer Infusion und wurde von den Sanitätern auf einer Trage zum Einsatzwagen geschoben. So schnell wie der Spuk begonnen hatte, war er auch schon wieder vorbei. Moritz setzte sich an seinen Platz zurück. Was für ein Tag! In diesem Moment stellte jemand schwungvoll ein randvolles, frisch gezapftes Guinness vor ihn hin. Moritz’ Blick wanderte am Bier entlang, über die Hand und den Arm nach oben. Es war die Quizfrau.

„Hier, das ist für dich. Hast du dir verdient.“

„Danke sehr.“

Sie setzte sich zu ihm.

„Ich heiße Mimi“, stellte sie sich vor.

„Moritz Martin, hallo.“

„Schrecklich, oder? Der arme Mann.“

„Ja“, seufzte Moritz, „schrecklich. Ich hoffe, es ist nichts Ernstes.“

„Ich kenne ihn, er kommt häufig zum Pubquiz. Hoffentlich ist er bald wieder da.“

Sie winkte einer der Bedienungen und ließ sich ebenfalls ein Bier bringen. Dann erhob sie ihr Glas.

„Auf seinen Retter, den Helden des Abends!“

Moritz wurde verlegen. Dennoch schmeichelte es ihm, der Held des Abends zu sein. Sie stießen an.

„Kennst du viele der Gäste?“, wollte er wissen. Immerhin hatte er nicht vergessen, dass er rein dienstlich im Pub war.

„Einige schon, wenige mit Namen“, antwortete Mimi.

„Kennst du jemanden, der Dorothee heißt und hier im Raum ist?“

Mimi blickte sich um, dann zuckte sie mit den Schultern.

„Das sagt mir jetzt gar nichts. Warum suchst du sie?“

Moritz deutete auf das Päckchen mit den Büchern.

„Ich soll ihr etwas vorbeibringen, kenne sie aber nicht.“

„Soll ich sie ausrufen lassen?“

„Besser nicht, sonst haut sie noch ab, das kann ich nicht riskieren.“

„O-k-a-y“, antwortete Mimi unsicher, weil sie nicht verstand, was Moritz im Schilde führte und warum er Angst hatte, dass diese Dorothee abhauen könnte.

Einer der Männer hinter der Bar gab Mimi ein Zeichen, damit sie weitermachte. Sie nickte ihm zu.

„Moritz Martin, hau nicht ab, bevor ich wieder da bin. Ich hab eine Idee.“

Sie schnappte sich ihr Bier und ging zurück zu ihrem Mikrophon. Dann startete sie das zweite und dritte Set an Fragen, die sich mit Film und Unterhaltung sowie mit Sport und Musik befassten. Moritz spielte nicht weiter mit. Er trank gemütlich sein Guinness und genoss die Zeit, bis Mimi mit dem Quiz fertig war. Immerhin waren dies seine ersten ruhigen Minuten an diesem Tag.

Nach einer Weile sammelte Mimi die Quizbögen wieder ein und kam mit dem Stapel Blätter an seinen Tisch.

„Wenn du mir hilfst, sie zu korrigieren, findest du vielleicht auch einen Bogen, der von deiner Dorothee ausgefüllt wurde“, schlug sie ihm mit einem Augenzwinkern vor.

„Keine schlechte Idee, Mimi.“

Während sie die ersten Zettel korrigierte, schaute Moritz die Namen der Teilnehmer durch, und tatsächlich wurde er fündig. Dorothee Haber, Tisch 27. Mimi deutete ihm unauffällig an, welcher Tisch die Nummer 27 hatte. Dort saß nur eine Frau, und sie gehörte scheinbar nicht zu der Gruppe aus drei Studenten, die ebenfalls am Tisch saß. Er schnappte sich das Päckchen mit den Büchern und ging auf Dorothee Haber zu. Jetzt musste er nur noch herausfinden, was sie mit Schönburg zu tun hatte.