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Olivia war in der verbleibenden Zeit einfach durch die Universität geschlendert. Sie wollte die Atmosphäre aufnehmen und hoffte, irgendeinen Hinweis zu erhalten, der für ihre Ermittlungen nützlich sein konnte. Als es schließlich kurz vor halb sieben war, ging sie zur Cafeteria im Ostflügel und wartete davor auf Dennis. Dieser kam auf die Minute pünktlich und lief über den Hof genau auf sie zu.

„Du hast den Fall aber noch nicht gelöst, oder? Wir wollten uns ja erst danach wiedersehen“, begrüßte er sie.

Olivia war das sogleich peinlich. Eigentlich hatte sie ihm gesagt, dass sie keine Zeit hatte, und jetzt brauchte sie seine Informationen für ihre Ermittlungen und hatte plötzlich doch Zeit für ihn. Sie hoffte, dass er sich nicht ausgenutzt fühlte.

„Hallo Dennis!“ Aus ihrem schlechten Gewissen heraus klang sie fast zu überschwänglich freundlich. „Kaffee?“

„Ja, Kaffee“, grinste er und ging voran in die Cafeteria. „Solange ich noch als Student eingeschrieben bin, krieg ich hier günstige Preise.“

Dennis bestellte zwei Tassen Kaffee und kam mit einem Tablett an den Tisch, den Olivia in der Zwischenzeit gewählt hatte. Sie mochte Dennis wirklich. Obwohl sie ihn erst am Tag zuvor kennengelernt hatte, überkam sie gerade das Gefühl, Moritz’ Cousin bereits eine Ewigkeit zu kennen. Vielleicht lag es daran, dass er Moritz ein wenig ähnlich sah oder seine tiefe Stimme ihr Vertrauen weckte. „Danke für den Kaffee und danke, dass du so spontan Zeit finden konntest.“

„Keine Ursache. So muss ich wenigstens nicht warten, bis du alle Verbrecher Mannheims geschnappt hast und kann dir ein bisschen bei den Ermittlungen helfen.“

„Du weißt, dass ich dir über den aktuellen Stand der Ermittlungen nichts sagen darf?“

Dennis nickte. „Ich hab ja einen Kriminalbeamten zum Cousin, da lernt man so etwas.“ Er grinste.

Olivia lächelte zurück, wollte sich jetzt aber nicht beirren lassen.

„Gut. Trotzdem muss ich irgendwie mehr über Professor Meerstadt herausfinden. Weißt du etwas über ihn?“

Dennis trank gerade seinen Kaffee und verschluckte sich dabei. Er hustete und brauchte eine Weile, bis er wieder richtig sprechen konnte.

„Meerstadt? Er ist der Mörder?“, kam es aus ihm heraus. Olivia verdrehte die Augen.

„Nein. Ist auch egal. Ich darf dir ja eh nichts sagen. Erzähl einfach mal!“

Dennis nickte abermals.

„Also gut. Meerstadt“, er suchte kurz nach den richtigen Worten, „ist ein angesehener, strenger Professor. Gilt als konservativ. Vor allem weil er sich immer wieder öffentlich gegen all die Neuerungen der letzten Jahre ausgesprochen hat.“

„Du meinst solche, wie zum Beispiel die Einführung von Bachelor und Master?“

„Ja, und auch gegen die Juniorprofessuren, Einwerbung von Drittmitteln und Stiftungsprofessuren. Er sieht darin den Ausverkauf der Wissenschaft. Gerade bei den Drittmitteln und Stiftungsprofessuren bemängelt er, dass sich die Wissenschaft abhängig von der Wirtschaft machen würde.“

„Steht er in irgendeiner Verbindung zu Schönburg?“

„Zu Schönburg? Die beiden kannten sich sicherlich, weil beide schon lange in Mannheim sind. Ähnliche Forschungsgebiete haben sie auch – gehabt.“

„Könnten sie in irgendeiner Form Konkurrenten gewesen sein?“

„Schwer zu sagen. Wenn mir ein Konkurrent zu Meerstadt einfällt, dann eher Anja Kugler mit ihrer neuen Graduiertenschule und Doktoranden wie mir.“

„Aha, wieso?“

„Na ja, erstens hat sie viele Gelder aus der Wirtschaft eingeworben, um diese Graduiertenschule auf die Beine zu stellen. Dann hatten viele von uns ein Stipendium, sodass wir entweder nur kleine Jobs annehmen mussten oder gar keine und uns voll und ganz auf die Promotion konzentrieren konnten. Zudem hat sie eine internationale Werbekampagne gestartet, um Studenten aus aller Herren Länder anzuwerben. Und Werbung und Wissenschaft passen für Meerstadt gar nicht zusammen. Aber deswegen bringt man doch niemanden um, oder? Und schon gar nicht Schönburg, dessen Karriere längst zu Ende war.“

„Es geht nicht nur darum, ob er der Mörder war. Wenn Meerstadt wirklich etwas mit dem Fall zu tun hat, bliebe ja auch noch die Frage, warum er Schönburg ausgerechnet aus dem Bürofenster von Kugler geworfen hätte.“

„Immerhin war Kuglers Büro irgendwann einmal Schönburgs Zimmer“, gab Dennis zu bedenken.

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Dorothee Haber war klein und zierlich. Sie hatte braune, halblange Haare, eine modische Hornbrille und im Sommer wohl Sommersprossen, zumindest stellte sich Moritz das so vor. Er hielt ihren Quizbogen in der Hand und legte ihn ihr auf den Tisch. Verwundert blickte sie ihn an. „Leider nicht gewonnen“, kommentierte Moritz, ohne dass er das Ergebnis überhaupt kannte.

„Entschuldigung, bitte was?“, krächzte Dorothee, die eine sehr hohe und dünne Stimme hatte.

„Leider nicht gewonnen“, wiederholte Moritz und legte ihr dafür das Päckchen mit den Büchern auf den Tisch. „Die soll ich Ihnen von Dr. Schönburg vorbeibringen.“

Dorothee Haber blickte ihn erstaunt an. Sie nahm das Päckchen an sich, betrachtete es genau und öffnete es schließlich. Verwundert sah sie die drei Bücher an.

„Die sollen Sie mir bringen? Die hab ich ihm gerade gestern zurückgebracht!“, protestierte sie.

„Sie haben sich gestern mit ihm getroffen?“

„Moment mal. Wer sind Sie überhaupt, und warum möchten Sie das wissen?“, empörte sie sich nun.

„Moritz Martin. Kriminalpolizei Mannheim.“

Dorothee Haber wollte die Flucht ergreifen, doch Moritz packte sie am Ärmel.

„Es bringt nichts, abzuhauen. Glauben Sie mir das. Das Einzige, was Ihnen und mir hilft, ist die Wahrheit.“

Sie setzte sich wieder. Unsicher blickte sie Moritz an.

„Haben Sie von den Todesfällen an der Universität gehört?“, forschte er nach.

„Ich weiß nur vage, dass da etwas vorgefallen ist. Ich hab im Moment andere Probleme“, antwortete Dorothee trotzig.

„Gestern Nacht wurde Dr. Reinhardt Schönburg ermordet. Heute früh kam es zu einem weiteren Mord!“

Dorothee stand der Schreck ins Gesicht geschrieben.

„Schönburg ist tot? Das wusste ich nicht. Ich hab nur gehört, dass ein Professor aus dem Fenster gefallen sein soll.“

„Schönburg ist tot. Genau. Und er hat sich scheinbar gestern mit Ihnen getroffen und hatte heute schon wieder einen Termin mit Ihnen. Warum?“

Dorothee Haber begann zu zittern. Ihre Augen wurden so schnell glasig, als wäre sie gerade beim Zwiebelschälen.

„Das –“, sie schluckte und fuhr stotternd fort. „das kann ich Ihnen nicht sagen.“

„Okay, dann kommen Sie jetzt mit auf die Wache.“

Moritz packte sie rigoros am Arm und zog sie in Richtung Ausgang. Beim Verlassen des Pubs traf sein Blick noch einmal den von Mimi. Er nickte und hoffte, dass sie sein Zeichen verstehen würde, denn er hatte vor, sie bald wiederzusehen.

Vor der Tür fuhr er Dorothee an: „Zwei Menschen haben bislang ihr Leben lassen müssen. Das was Sie wissen, hilft uns vielleicht, den Täter zu finden. Und es hilft uns vielleicht, einen dritten Mord zu verhindern. Da spielt es keine Rolle, ob Sie uns etwas sagen können oder nicht. Ganz gleich, warum Sie nichts sagen wollen, Sie müssen es uns sagen, und zwar alles!“

Dann ließ er seinen Griff locker und schaute Dorothee fordernd an. Sie atmete tief durch, ihr Atemhauch war deutlich zu sehen.

„Ich habe Schönburg gestern am Spätnachmittag kurz am Paradeplatz getroffen. Dort habe ich ihm sein Honorar bezahlt. 10.000 Euro. Wie besprochen“, kam es ihr langsam über die Lippen.

„10.000 Euro?“ Moritz war überrascht. „Für was nimmt der denn 10.000 Euro?“

Als sie nicht gleich antwortete, bat er sie mit freundlicher Stimme: „Erzählen Sie weiter“, und begann in Richtung Wasserturm zu laufen. Dorothee Haber schloss sich seinem Schritt an.

„Schönburg wurde mir von einem Bekannten empfohlen, der die gleichen Schwierigkeiten mit seiner Promotion hatte wie ich. Er sagte, Schönburg sei der Beste in seinem Fach. Jetzt, nachdem Schönburg sein Geld hatte, wollte er sich heute mit mir treffen, um mir meine Datei zu bringen. Das ist alles, was ich weiß.“

„Welche Datei?“, forschte Moritz nach.

„Das wissen Sie nicht?“

„Nein. Welche Datei also?“

„Meine Doktorarbeit.“

Diese Aussage traf Moritz wie ein Schlag in die Magengrube. Er war vollkommen überrascht und zugleich erschlossen sich ihm in Sekundenschnelle die Zusammenhänge.

„Schönburg schrieb Doktorarbeiten für andere?“, hakte er nach, um seine Vermutung zu bestätigen.

Dorothee nickte. „Er war ein Ghostwriter und steckte hinter vielen Forschungsarbeiten. Studenten und Doktoranden gingen zu ihm, wenn sie Hilfe brauchten. Vom Korrekturlesen bis zum Anfertigen einer ganzen Arbeit hat er alles angeboten. Sein Rat und seine Betreuung waren viel besser als die mancher Professoren.“

„Er hatte wahrscheinlich auch mehr Zeit als die meisten Professoren, zumindest seit er nicht mehr an der Uni gearbeitet hat.“

Nun begann Dorothee Haber zu schluchzen.

„Bitte erzählen Sie der Universität nichts von meinem Fall. Meine Promotion wäre erledigt.“

„Aber ihre Promotion ist doch sowieso erledigt, wenn Sie sie noch nicht einmal selber schreiben können“, antwortete Moritz.

„Wenn ich die Doktorarbeit nicht nächste Woche abgebe, war alles umsonst. Dann habe ich keinen Studienabschluss, weil ich noch auf grundständige Promotion eingeschrieben bin. Ich bin zu Schönburg, weil mir die Zeit durch die Finger rannte. Was meinen Abgabetermin betrifft, ließ mein Doktorvater aber nicht mit sich verhandeln.“

„Hm.“ Mehr sagte Moritz nicht. Sie liefen schweigend ein paar Schritte weiter, bis sie die Unterführung zur Borelli-Grotte erreicht hatten, angeblich Mannheims gefährlichste Quadratmeter. Sie gingen hinunter, durchkreuzten die Unterführung, die mit ihren Geschäften und Kiosken wie eine Krake unter dem Bahnhofsvorplatz und der anschließenden Verkehrskreuzung lag, und kamen auf der anderen Seite wieder an die Oberfläche.

„Warum konnten Sie Ihre Arbeit nicht selbst fertigstellen?“

„Ich hab nie ein Stipendium bekommen, sondern musste von Beginn an am Lehrstuhl arbeiten. Auf einer halben Stelle.“

„Das ist doch gut, dann bekamen sie wenigstens Berufserfahrung“, kommentierte Moritz.

„Berufserfahrung? Ja, das schon, aber an der Universität wird man für eine halbe Stelle angestellt und arbeitet trotzdem voll, wenn nicht sogar noch mehr als voll. Überstunden abschreiben gibt es nicht. Wenn Sie abends nach Hause kommen und zehn Stunden malocht haben, ist Ihnen nur sehr selten danach, sich hinzusetzen und an einer Doktorarbeit zu schreiben. Dazu kommt die ganze Gremienarbeit, das Korrigieren von Klausuren und Hausarbeiten, nebenbei soll man auch noch unterrichten – und das alles für einen Witz an Gehalt. Ich hab gemerkt, wie mir mehr und mehr die Zeit davonrannte, und wollte dieser Lebenssituation einfach ein Ende bereiten. Raus aus dem Druck. Raus aus der Situation, in der man mich und meine Arbeitskraft für einen Hungerlohn ausquetschte.“ Sie blickte Moritz mit großen, feuchten Augen an, bevor sie fortfuhr: „Das war mir das Honorar für Schönburg wert. 10.000 Euro für meine Freiheit.“

„Schönburg hat Ihnen Ihre Arbeit aber nie gegeben?“

„Nein, das wollte er heute Abend tun.“

„Da muss ich Sie leider enttäuschen, denn die Festplatte seines Computers ist verschwunden – und damit auch Ihre Arbeit. Haben Sie eine Idee, wer sich diese Festplatte einverleibt haben könnte?“

Dorothee Haber war stehen geblieben. Zunächst stand sie einfach nur da, blass und verloren, nach einer Weile schüttelte sie den Kopf. Sie wusste es nicht, das war Moritz nun klar.

„Bei wem promovieren Sie?“, war Moritz letzte Frage.

„Professor Meerstadt“, antwortete die Doktorandin.

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Olivia und Dennis hatten die Cafeteria verlassen.

„Musst du gleich wieder zu einem Einsatz oder ist noch ein Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt am Wasserturm drin?“

Er lächelte sie an.

„Ein Glühwein ist noch drin.“ Sie zwinkerte zurück.

„Mein Auto steht im Hof. Wir fahren zum Wasserturm, danach bring ich dich heim und halte dich nicht länger von deinem Fall ab.“

Olivia stimmte dem Plan zu. Sie liefen zur Rückseite des Schlosses, wo einige Parkmöglichkeiten geschaffen worden waren. Dennis drückte auf seinen Türöffner und ein eleganter schwarzer Wagen begrüßte die beiden mit blinkenden Scheinwerfern. Er ging um den Wagen herum und öffnete die Beifahrertür.

Olivia stellte sich neben ihn, um einzusteigen, und als er sich ihr zuwandte, trafen sich ihre Blicke. Sie spürte, dass sie dieser Situation schnell ausweichen sollte, und wollte sich einfach auf den Beifahrersitz des Wagens fallen lassen, doch irgendetwas faszinierte sie an Dennis. Sie blieb unsicher stehen, schweigend sahen sie sich in die Augen. Olivias Gedanken überschlugen sich. Sie sagte sich, dass sie noch nicht bereit sei für eine neue Beziehung. Aber war sie das tatsächlich nicht? Gab es überhaupt den richtigen Zeitpunkt, an dem man eine Beziehung beginnen konnte, oder sollte man nicht vielmehr die Gelegenheiten nutzen, die einem das Leben boten? Ihre letzte Beziehung lag noch nicht lang zurück. Sie war vor etwas mehr als einem halben Jahr in Berlin zu Ende gegangen. Auch damals hatte sie sich tief innerlich gegen diese Beziehung gewehrt. In die denkbar ungünstigste Person hatte sie sich verliebt, und ausgerechnet diese Person hatte ihre Liebe erwidert. So war sie in eine für sie höchst gefährliche Situation geschleudert worden, aus der sie nur schwer wieder herausgekommen war. Damals hatte sie sich geschworen, sich mit einer erneuten Beziehung Zeit zu lassen. Nichts musste sofort geschehen, und wenn der Zeitpunkt ungelegen war, dann war er dies eben. Man muss nicht jede Gelegenheit dieser Welt nutzen, und frau erst recht nicht!

„Du machst dir zu viele Gedanken.“ Dennis holte sie mit dieser Bemerkung in die Gegenwart zurück. Sein Blick schien tief in ihr Inneres einzudringen, woher sonst hätte er ahnen können, was in ihr vorging? Olivia erwiderte seinen Blick, doch wohin sollte das führen? Sie kannte ihn doch kaum. Dennis’ Kopf bewegte sich langsam auf sie zu. Noch einmal überlegte sie, sich einfach auf den Beifahrersitz fallen zu lassen, schaffte es aber nicht. Dennis faszinierte sie.

Plötzlich klingelte ihr Handy, ihr Diensthandy. Sie musste den Anruf entgegennehmen. Es war Moritz’ Nummer.

„Hallo?“, meldete sich Olivia kurz und knapp.

„Pass auf, was ich herausgefunden hab.“ Moritz’ Begeisterung war nur schwer zu überhören. „Schönburg muss 10.000 Euro bei sich getragen haben, als er gestorben ist. Die sind verschwunden.“

„Okay.“ Olivia hatte Mühe, sich zu sammeln und auf das Gespräch zu konzentrieren. „Ja, und? Hältst du den Mord jetzt für Raubmord, oder was?“

„Wie? Nein. Schönburg hat das Geld erhalten, weil er im Auftrag von anderen Doktorarbeiten und sonstige Forschungsarbeiten gefälscht hat!“, platzte es aus Moritz heraus.

„Was?“, Olivia war so erstaunt, dass sie sich nun doch auf den Beifahrersitz fallen ließ. Dennis lief sichtlich enttäuscht um das Auto herum und setzte sich auf die Fahrerseite. Er versuchte seinen Arm um sie zu legen, doch Olivia war mit den Gedanken bereits woanders. Sie war so aufgeregt, dass sie sogleich wieder vom Sitz aufsprang und ausstieg. Dennis folgte ihr erneut.

„Wie hast du das herausgefunden?“, wollte sie wissen.

„Das Päckchen mit den Büchern stammte von einer Doktorandin, die Schönburg beauftragt hatte, ihre Arbeit zu Ende zu schreiben. Sie hat ihm gestern Nachtmittag sein Honorar von 10.000 Euro zugesteckt.“

„Wahnsinn!“

„Ja, Wahnsinn“, bekräftigte Moritz, „Wo bist du?“

„Ähm, ich bin zu Hause“, log Olivia schnell, weil sie nichts von Dennis erzählen wollte.

„Ich komm vorbei“, sagte Moritz und beendete das Gespräch.

„Mist!“

Olivia setzte sich wieder in Dennis’ Auto.

„Wir müssen schnell zu mir. Das mit dem Weihnachtsmarkt holen wir nach.“

Dennis seufzte, lächelte dann aber. „Versprochen?“

„Ja, versprochen. Mach schnell, bitte!“

Dennis gab ordentlich Gas und lenkte den Wagen in Richtung Schwetzingerstadt zu Olivias Wohnung.

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Olivia wollte auf keinen Fall, dass Moritz sie mit seinem Cousin sah, weil sie befürchtete, dass ihr Kollege sauer werden und ihr gutes Verhältnis zueinander deutlichen Schaden nehmen würde. Sie ließ sich von Dennis an der Straßenecke zur Mollstraße absetzen und rannte die letzten Meter zu ihrem Haus. All der Stress war umsonst. Moritz wartete bereits ungeduldig vor der Tür. Er zog gerade sein Handy aus der Tasche. Außer Atem kam sie bei ihm an.

„Hi.“

Moritz war verwirrt.

„Ich dachte, du wärst schon zu Hause.“

Olivia haderte mit sich selbst. Schließlich entschied sie sich, Moritz reinen Wein einzuschenken. Sie wollte ihn weder anlügen, noch zwischen die Fronten geraten. Moritz war schließlich erwachsen und musste mit dieser Situation wie ein Erwachsener zurechtkommen.

„Ich war noch mit Dennis einen Kaffee trinken. Dachte mir, er könnte mir Informationen über Meerstadt geben.“

„Mit Dennis, so?“

Sie konnte Moritz ansehen, dass ihm diese Information mehr als unrecht war. Er wandte seinen Blick ab und schaute an ihr vorbei in die Ferne.

„Bist du jetzt sauer?“

„Gibt es einen Grund dafür?“, raunzte er sie an.

Sein Ton war scharf und hart. Vielleicht hätte sie ihm die Wahrheit doch besser verschweigen sollen. Aber wünschte man sich denn nicht Leute um sich, die immer geradeheraus waren? Oder waren die kleinen Notlügen des Alltags wesentlicher Bestandteil eines Lebens, in dem sich Menschen miteinander verstanden? Olivia war sich da nicht mehr so sicher. Wenn sie es vom beruflichen Standpunkt aus betrachtete, hätte sie ihn wohl anlügen sollen, weil sie sich dadurch besser auf den Fall hätten konzentrieren können.

„Komm schon, Moritz! Da ist nichts dabei.“

„Natürlich nicht“, hörte sie ihn in einem Ton sagen, der alles andere bedeutete als das, was er tatsächlich von sich gab. Sie schwiegen einen Moment, dann begann Moritz mit einer Stimme, die so gefühlvoll klang wie der Schlag auf einen Granitfelsen: „Und?“

„Und was?“, fragte Olivia.

„Und, konnte dir Dennis etwas über Meerstadt erzählen?“

„Ja, er hat mir seinen Charakter beschrieben. Meerstadt ist eher konservativ und gegen den Ausverkauf der Wissenschaft. Ganz gleich, ob der stattfindet oder nicht.“

„Wow, richtig ergiebige Ermittlungsarbeit“, bemerkte Moritz zynisch.

„Dafür warst du ja offenbar erfolgreicher.“

„Ja, und ob.“

Olivia hoffte, Moritz von dem Thema Dennis ablenken zu können und gleichzeitig Neues in den Fällen Schönburg und Beck zu erfahren.

„Erzähl mal genau. Hast du eine Theorie?“, forschte sie weiter.

„Klar habe ich eine. Also, Schönburg arbeitet unter anderem als Ghostwriter für Meerstadts Doktoranden. Erinnerst du dich an den Zeitungsartikel über dessen Forschungsleistungen, den du bei Schönburg gefunden hast?“

Olivia nickte.

Moritz fuhr fort: „Meerstadt setzt die Doktoranden, die bei ihm als Hiwis angestellt sind, so unter Druck und lädt sie so voll mit Arbeit, dass sie irgendwann nicht mehr weiterwissen und ihre Dissertation nicht fertig schreiben können. Letzter Ausweg ist für viele ein Ghostwriter. Irgendwie erhalten sie den Hinweis, dass es zufälligerweise einen solchen in ihrem Fachbereich gibt, nämlich Schönburg, und holen sich Hilfe bei ihm.“

„Meinst du, dass die beiden unter einer Decke stecken und gemeinsame Sache machen?“, vergewisserte sich Olivia.

„Das könnte ich mir sehr gut vorstellen. Der eine schafft die Doktoranden an, der andere nimmt sie gewissermaßen aus. Und alle schweigen aus Angst.“

„Keine schlechte Theorie, Herr Kollege! Aber warum ist Schönburg nun tot?“

„Vielleicht wollte er aus irgendeinem Grund alles auffliegen lassen? Vielleicht wollte er aussteigen? Angenommen es kommt zum Zwist zwischen den beiden. Schönburg fordert mehr Geld, oder Meerstadt will den Ghostwriter mundtot machen. Irgendetwas. Es kommt zum Streit, Schönburg fällt aus dem vierten Stock.“

„Aus dem Büro von Anja Kugler? Das passt irgendwie nicht“, warf Olivia ein.

„Doch es passt. Meerstadt hat Schönburg in Kuglers Büro gelockt, um ihr hinterher den Mord in die Schuhe zu schieben. Hierfür hat er den Schlüssel des Hausmeisters geklaut und –“

„Und Andreas Beck hat es beobachtet. Um den Mord an Schönburg zu decken, musste der Hausmeister sterben.“

„Genau!“, bestätigte Moritz.

„Und wie überführen wir ihn?“

Moritz überlegte.

„Im Moment ist er in München und hält einen Vortrag“, überlegte er.

„Richtig.“

„Ich hoffe, er ist morgen wirklich wieder zurück, wie er gesagt hat, und setzt sich nicht irgendwo ins Ausland ab.“

„Das würde den Verdacht doch nur bestätigen. Meerstadt ist viel klüger“, entgegnete Olivia.

Für Moritz lag die Lösung auf der Hand.

„Wir fahren zu ihm nach Hause und kopieren die Festplatte in der Hoffnung, dass wir weitere Hinweise finden. Die Festplatte können wir nach gefälschten Dissertationen oder nach dem E-Mail-Verkehr zwischen ihm und Schönburg analysieren. Mit etwas Glück finden wir einen handfesten Beweis für meine Theorie. Auf nach Heidelberg! Wir brechen bei Meerstadt ein!“

„Spinnst du, Moritz? Wenn das rauskommt!“

„Das kommt nicht raus. Aber überleg doch mal, einen Durchsuchungsbefehl kriegen wir bei der Beweislage nicht. Und falls doch, wird es sehr lange dauern. Wenn wir heute Nacht auch nur einen Beweis für einen der Morde finden, können wir Meerstadt quasi direkt am Bahnhof verhaften“, argumentierte er.

„Du schlägst einen Einbruch vor, Moritz? In welcher Polizeischule hast du das denn gelernt?“

„In der Schule des Lebens. Außergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Maßnahmen“, bemerkte Moritz, der von seiner Idee begeistert war. Olivia kannte diese Begeisterungsfähigkeit mittlerweile. Sie trat bevorzugt dann auf, wenn Moritz das Gesetz brechen wollte, sich aber im Recht fühlte oder sich zumindest für jemanden damit einsetzen konnte, der im Unrecht war.

Moritz bemerkte Olivias Zögern.

„Bist du dabei?“

Sie schaute ihn zweifelnd an, doch dann fiel ihr ein, wie Moritz bei ihrem ersten gemeinsamen Fall ebenfalls die Regeln von Dr. Klose gebrochen hatte, um ihr zu helfen. Er hatte die Ermittlungen aufgenommen, obwohl es weder eine Leiche noch einen Mörder, sondern nur Olivias Aussage gegeben hatte, dass sie einen Mord beobachtet habe, was niemand hatte glauben wollen.

Sie nickte. „Dabei.“

Nun überkamen Moritz Zweifel. „Weißt du, ob er verheiratet ist und Familie hat?“

„Er wohnt alleine. Ist geschieden“, beruhigte ihn Olivia und verfluchte sich sogleich. Was um alles in der Welt tat sie? Sie sollte Moritz entmutigen und nicht ermutigen! Egal, es mussten zwei Morde aufgeklärt werden.

Wenige Minuten später saßen beide in ihrem Dienstwagen und brausten nach Heidelberg. Olivia hatte Moritz fahren lassen, was sich schnell rächte. Auf der Autobahn zwischen Mannheim und Heidelberg waren gerade einmal 120 Stundenkilometer erlaubt, Moritz brachte es auf 190. Er fuhr nicht gern im Stadtverkehr, das wusste Olivia, das war ihm zu langsam, er raste einfach gerne. Die Geschwindigkeit gab ihm einen Kick wie sonst kaum etwas.

„Was ist, wenn du geblitzt wirst, Moritz?“, wagte Olivia kurz seine euphorische Stimmung zu unterbrechen.

„Ich kenn die Leute von der Strafzettelabteilung. Auch die in Heidelberg. Kein Problem. Das wird intern geregelt“, antwortete er, während er gerade einen Porsche alt aussehen ließ.

„Ich glaube nicht, dass sich Polizisten so etwas herausnehmen sollten“, beschwerte sich Olivia, aber es war umsonst.

Unweigerlich musste sie an den Strafzettel denken, den sie am Tag zuvor erhalten hatte. Sie öffnete das Handschuhfach und sah ihn noch immer dort liegen. Morgen würde sie das Geld überweisen. Auf Moritz’ Methode wollte sie nicht zurückgreifen.

Kurz vor Heidelberg gab es einen Blitzer. Das wusste Olivia. Allerdings warnte sie Moritz nicht, sondern blickte stattdessen gespannt nach vorne und wartete, ob er abbremsen würde. Natürlich tat er es – im letzten Augenblick. Olivia wäre auch zu überrascht gewesen, wenn er das Gerät nicht gekannt hätte. Er lenkte den Dienstwagen durch das nächtliche Heidelberg die Bergheimer Straße entlang in Richtung Altstadt, wo der Professor wohnte. Moritz kannte die Adresse, doch kurvte er auf der Suche nach einem Parkplatz mehrere Male vergebens rund um die Altstadt.

„Früher hab ich ein paar Mal direkt vor der Universitätsbibliothek geparkt. Bis ich Nachahmer gefunden hatte und die Sache überhandnahm. Heute haben sie da so einen hässlichen Fahrradabstellplatz draus gebaut“, plauderte Moritz aus dem Nähkästchen.

„Und du hast nie einen Strafzettel bekommen?“

„Doch, aber nur selten. Und wenn, dann hab ich den Kollegen Bescheid gesagt. Die haben sich drum gekümmert“, antwortete Moritz und bog kurz vor dem Geißbergtunnel in die Altstadt ab.

„Hier war es.“

Er zeigte auf den Fahrradabstellplatz. Olivia zog die Stirn kraus, besonders schön war der Abstellplatz in der Tat nicht. Er ruinierte den Blick auf die Bibliothek, die mit ihren zahllosen Türmchen und ihrem roten Sandstein wundervoll aussah.

„Ach, weißt du was?“

Moritz erwartete keine Antwort auf seine rhetorische Frage, und Olivia reagierte erst gar nicht, ihr war klar, dass er entschieden hatte, wo er parken wollte. Er steuerte das Auto an der Universität und einem Taxistand vorbei, auf den Universitätsplatz zu, wo gerade der Heidelberger Weihnachtsmarkt aufgebaut worden war. Ohne Scham stellte er das Auto einfach neben einer der Buden ab.

„So, da wären wir“, sagte er sichtlich zufrieden und öffnete die Tür.

„Moritz, wir stehen hier wie auf dem Präsentierteller“, maulte Olivia, die überhaupt kein Verständnis dafür hatte, wie Moritz parkte.

„Was soll schon passieren, Prinzessin. Es ist Nacht. Selbst die Heidelberger Kollegen verteilen jetzt keine Tickets mehr. Und wenn schon. Taxi passt auch durch. Das stört keinen, außerdem sind wir gleich wieder zurück.“

Er stieg aus. Olivia seufzte, stieg ebenfalls aus und betrachtete sich die Szene von außen. Moritz öffnete den Kofferraum und kramte einen alten, blauschwarzen Hoodie heraus, der ihm gehörte.

„Hier, zieh den an. Ist besser so!“

Er warf Olivia den Pulli zu, sie schlüpfte hinein und schlug die Ärmel um. Ihre Lockenpracht verbarg sie unter der Kapuze, die sie vorne zusammenzog.

„Also gut, gehen wir.“

Meerstadt wohnte tief in der Heidelberger Altstadt, in der Ingrimstraße, die parallel zur langgezogenen Hauptstraße verlief. Im Gegensatz zu Letzterer hatte man aus ihr keine Fußgängerzone gemacht, allerdings war sie genau wie die anliegenden Straßen und Gassen so eng und verwinkelt, dass sich nur waghalsige Autofahrer hineintrauten, und die waren zumeist Anwohner.

Feuchtigkeit lag in der Luft, Olivias und Moritz’ Atemhauch war deutlich zu sehen, auch wenn es finstere Nacht war. Olivia kannte die Heidelberger Altstadt nur von verschiedenen Einkaufsbummeln, die sie hin und wieder in den letzten Monaten unternommen hatte. Dabei war die Altstadt voller Menschen gewesen, Studenten, Touristen und Anwohner, doch nun war sie wie leergefegt. Die letzten Kneipen wurden gerade geschlossen. Auf der Hauptstraße tummelten sich noch ein paar Nachtschwärmer, doch abseits davon war es erschreckend ruhig. Einzig ein angetrunkener Student lief ihnen torkelnd über den Weg, sonst sahen sie keine Menschenseele.

Moritz prüfte die Hausnummern, bis er endlich vor einem Torbogen stand, der durch eine Holztür verschlossen war, die allerdings nur bis zur Rundung reichte.

„Hier im Hinterhof müsste es sein.“

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Moritz drückte die Klinke der Holztür nach unten. Sie war abgeschlossen. Im Grunde hatte er dies nicht anders erwartet und ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, während Olivia starke Zweifel überkamen. Ihre Hände wurden feucht und ihr Puls raste.

„Lass uns wieder gehen, Moritz. Ist abgesperrt.“

Moritz reagierte nicht auf ihre Aufforderung, sondern betrachtete das Tor. Die Holztür reichte nur bis zum Beginn des Bogens, über ihr war etwa ein halber Meter Platz.

„Los, komm, Moritz“, lautete Olivias letzter Versuch.

Moritz schien sie überhaupt nicht mehr wahrzunehmen. Er stieg auf die Klinke und zog sich oben am Tor in die Höhe. Dann schwang er eines seiner Beine darüber, zog das zweite nach und ließ sich auf der anderen Seite zu Boden. Sosehr er sich Mühe gab, leise zu sein, misslang ihm dies jedoch. Tagsüber hätte niemand seine Landung hören können, doch in der stillen Nachtruhe, klang sie wie ein lauter Schritt. Er wartete einen Moment und lauschte, ob sich irgendwo in der Nachbarschaft etwas rührte. Glücklicherweise passierte nichts.

„Bin durch!“, flüsterte er Olivia zu.

Sie warf noch einmal einen forschenden Blick in beide Richtungen der Straße. Niemand war zu sehen.

„Also gut!“

Jetzt folgte sie Moritz, stieg ebenfalls auf die Klinke und erreichte schließlich die andere Seite. Dabei wurde sie das dumpfe Gefühl nicht los, dass sie beobachtet wurde.

Auf der anderen Seite des Tores befand sich ein kleiner, überwiegend gepflasterter Innenhof, der von Wohnhäusern umschlossen war. Wahrscheinlich sah er nur selten Licht. In der Mitte befanden sich, soweit Olivia sehen konnte, mehrere Bäume und eine Bank. Gemeinsam schlichen sie in Richtung des Hauses, in dem Meerstadt wohnte, es stand in der linken Ecke. Obwohl es weder regnete noch schneite, nahm die Luftfeuchtigkeit stark zu, was zur Folge hatte, dass die einzelnen Pflastersteine rutschig waren. Moritz legte es beinahe hin. Olivia trat vorsichtiger auf, brauchte dafür aber etwas länger, bis sie bei Moritz und damit an Meerstadts Haus angekommen war.

Der Stil des Hauses gefiel ihr, wahrscheinlich war es vor über hundert Jahren einmal ein Stall oder etwas Ähnliches gewesen. Einzelne Holzbalken waren noch in der renovierten und sehr modern gehaltenen Architektur zu erkennen.

Moritz zückte seine altbewährte Scheckkarte, doch musste er schnell feststellen, dass die Tür mehrfach abgeschlossen war.

„Er ist verreist. Da schließt man schon mal die Türen ab“, belehrte ihn Olivia.

Notgedrungen prüfte Moritz vorsichtig jedes Fenster im Erdgeschoss. Auch sie waren alle verschlossen.

„Du schlägst aber keines ein!“, ermahnte ihn Olivia.

„Nein, nein.“

Während sich Moritz die Fenster genauer ansah, schlich Olivia an der Hausfront entlang. Etwas weiter vom Eingang entfernt gab es zwei Gitterschächte, unter denen sich eine Aussparung sowie Kellerfenster befanden. Vorsichtig griff sie in eines der leicht vermoosten Gitter und konnte es anheben. Nahezu lautlos legte sie es beiseite und glitt in den freien Raum vor einem der Kellerfenster hinab. Das Fenster selbst war schräggestellt, wahrscheinlich sollte dadurch dem Keller genügend Luft gegeben werden, um Schimmelbildung zu vermeiden, vermutete Olivia. Sie schaffte es, mit ihrer Hand um den Rahmen des Fensters zu greifen und den Griff waagerecht zu stellen. Nun ließ es sich vollständig öffnen.

„Moritz“, flüsterte sie leise, aber bestimmt. Als keine Reaktion kam, wiederholte sie ihr Flüstern. Aber ihr Kollege hörte sie nicht. Vorsichtig zog sie das Fenster wieder zu und ging zurück zur Frontseite des Hauses, wo Moritz gerade seine Hand in den Briefkastenschlitz der Haustür gesteckt hatte.

„Wir sind drin, Moritz, komm!“

„Ah, gut!“, hauchte Moritz zurück. Scheinbar hatte er einige Probleme mit seiner Hand im Briefkasten, nur mit Mühe konnte er sich befreien. Schließlich folgte er Olivia, die bereits dabei war, durch den Keller in das Haus einzusteigen.

Obwohl es auch draußen dunkel gewesen war, dauerte es eine Weile, bis sich Olivias Augen an die massive Finsternis im Keller gewöhnt hatten. Offenbar waren sie in Meerstadts Weinkeller gelandet. Die Wände schienen von oben bis unten von Flaschenregalen eingenommen zu werden. Vorsichtig öffneten sie die Tür zum Nebenraum. Dort befand sich die riesige Anlage einer elektrischen Eisenbahn.

„Wenn der Herr Professor Wein trinkt, lässt er danach noch die E-Lok raus“, lästerte Moritz.

An der Anlage vorbei schlichen sie die Kellertreppe nach oben ins Erdgeschoss. Vorsichtig durchsuchten sie in der Dunkelheit die Räumlichkeiten, doch sie wurden nicht fündig. Küche, kleines Bad, Wohnzimmer. In keinem davon stand ein Computer. Sie mussten ein Stockwerk weiter nach oben, bis sie schließlich Meerstadts Arbeitszimmer fanden. Vorsichtshalber durchsuchten sie noch die anderen Räume und stellten erleichtert fest, dass sie definitiv allein im Haus waren. Soweit Olivia im Dunkeln sehen konnte, war das Arbeitszimmer ähnlich ausgestattet wie das Büro an der Universität. Neben der Sitzecke aus Chesterfieldmöbeln fiel ihr in der Dunkelheit sofort der riesige Holzschreibtisch auf. Auf ihm stand ein vorsintflutlicher Monitor, unter ihm ein klappriger PC.

„Das hatte ich vermutet, der steht nicht so auf Computer“, kommentierte Moritz die veraltete technische Ausstattung.

„Genau wie du“, gab Olivia zurück.

Moritz kramte aus seiner Jacke eine externe Festplatte hervor, während Olivia zum Schreibtisch eilte, um den Computer einzuschalten. Kaum hatte der Rechner gestartet, begann er auch schon laut zu surren. Beide Kommissare erschraken. Sie hielten kurz die Luft an.

„Den müsste man mal entstauben oder ihm einen neuen Ventilator einbauen“, bemerkte Olivia fachmännisch.

Der Computer surrte derart laut, dass er alles dominierte. Hätten sie noch andere Geräusche wahrnehmen wollen, hätten diese richtig auffällig sein müssen. Wieder beschlich Olivia ein ungutes Gefühl und das schlechte Gewissen, weil sie einfach so in dieses Haus eingedrungen waren. Ungeduldig wartete sie, bis der Rechner endlich hochgefahren war.

„Wir müssen schnell machen, ich hab Bauchweh dabei.“ Moritz nickte. Sobald der Rechner lief, drückte er Olivia die Festplatte in die Hand.

„Du machst das besser.“

Sie schloss die Platte an und kopierte alle Daten vom Rechner darauf, ohne eine Vorauswahl zu treffen, was viel zu zeitaufwendig gewesen wäre. Ohnehin zeigte der Fortschrittsbalken an, dass es 15 Minuten dauern würde, bis alle Dateien kopiert sein würden. Olivia und Moritz hockten nebeneinander am Boden und warteten.

„Wo bin ich da nur hineingeraten“, fragte sich Olivia im Stillen. Die 15 Minuten waren ihr viel zu lang. Sie wurde immer unruhiger.

„Wir hätten das nicht tun sollen, Moritz“, versuchte sie ihrem Unmut laut Luft zu machen.

„Zu spät“, entgegnete er kurz und knapp.

Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander. Als der Kopiervorgang nur noch fünf Minuten dauerte, wurde Moritz umtriebig.

„Ich schau mich schnell mal um“, warf er Olivia zu und verschwand aus dem Zimmer, ohne ihre Antwort abzuwarten.

Jetzt war sie richtig angefressen, und zwar nicht nur, weil Moritz sie in diese Situation gebracht hatte und nun auch noch alleine ließ, sondern vor allem, weil sie der Aktion nicht hatte widerstehen können. Die letzten 60 Sekunden erschienen ihr besonders lang. Der Forschrittsbalken zählte langsam auf 0. Olivia hatte das Gefühl, dass dabei noch einmal eine Ewigkeit verging. Wo blieb außerdem Moritz? Wo steckte er?

So lange konnte es doch nicht dauern, einen Blick in die anderen Zimmer zu werfen.

Als sie alle Dateien auf der externen Festplatte hatte, meldete sie diese ab, zog das Kabel heraus und fuhr den krächzenden Computer herunter. Endlich war es wieder mucksmäuschenstill.

Vorsichtig erhob sich Olivia und verstaute die Festplatte in der Bauchtasche ihres Hoodies. Sie verließ Meerstadts Büro und warf einen Blick in die anderen Räume des Stockwerks.

„Moritz? Bist du da?“, flüsterte sie, doch nichts rührte sich. Was für ein Idiot! Warum musste ihr Herr Kollege ausgerechnet jetzt verschwinden, wo die Mission fast glücklich über die Bühne war? Sie hatten die Daten von Meerstadt auf ihrer Festplatte und mussten nur noch verschwinden. Wo war Moritz? Fast befürchtete sie, dass er sich im Weinkeller aufhielt, doch verwarf sie diesen Gedanken schnell wieder. So dreist würde selbst er sich nicht verhalten. Sie suchte das obere Stockwerk genau ab. Als sie ihn nicht fand, ging sie vorsichtig die Holztreppe nach unten. Eine Stufe knarrte leicht, als sie darauftrat. Olivia erschrak über ihr eigenes Geräusch. Unten angekommen, bog sie in die Küche ab – und schaute in den Lauf einer Pistole.

„Stehen geblieben!“

Das Licht zweier Taschenlampen leuchtete ihr direkt in die Augen und blendete sie.

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Nach einem langen Tag saß Fatih Üstbas noch immer über dem Datenmaterial, das seine Spurensicherer gesammelt hatten. Er hatte inzwischen die Obduktion an der zweiten Leiche durchgeführt, doch keine neuen Erkenntnisse erhalten. Nach wie vor war er nicht davon überzeugt, dass es sich um Selbstmord handelte. Nach der Obduktion war er schnell einkaufen gewesen, weil seine Frau die Kinder versorgen musste. Sein jüngster und sein mittlerer Sohn hatten die Windpocken. Ausgerechnet an so arbeitsintensiven Tagen wurden die Kleinen immer krank. Vor allem deshalb wollte er sich so wenig wie möglich zu Hause aufhalten.

Im Büro hatte er sich alle Fotos durchgesehen, die die japanischen Touristen von der Leiche des Hausmeisters geschossen hatten. Auf keinem davon konnte er einen Hinweis erkennen, der ihm weitergeholfen hätte. Anschließend ging er die Fotos und Handy-Videos durch, die die Kollegen von der Graduierungsfeier gespeichert hatten. Vielleicht ließ sich ja feststellen, ob eine Person die Veranstaltung vorzeitig verlassen hatte.

Fatih betrachtete die Bilder. Es waren immer wieder dieselben Gesichter darauf zu sehen. Die Doktoranden grinsten um die Wette und nutzten die Gelegenheit, einmal in ihrem Leben in Talaren abgelichtet zu werden. Er klickte die Dateien durch. Schließlich landete er bei den Handy-Filmen. Gleich der erste Film zeigte den Einzug der Doktoranden und wie sie vorne in den ersten Stuhlreihen Platz nahmen. Fatih war restlos fasziniert. Die Veranstaltung war wirklich durchritualisiert. Jeder wusste genau, was er zu tun hatte, jeder kannte seinen Platz. Auf den ordnungsliebenden Deutsch-Türken machte das großen Eindruck. Den Studenten folgten die Professoren, die sich hinter ihnen niederließen. Nur Professor Anja Kugler, die Initiatorin und Sprecherin der Graduiertenschule, ging nach vorne ans Pult, um ihre Begrüßungsworte zu sprechen.

Fatih hielt den Film kurz an. Was fummelte die Professorin an ihrem Talar herum? Er war irritiert, bislang hatte alles würdig und sehr geordnet auf ihn gewirkt, doch das passte nicht ins Schema. Er spielte die Stelle noch einmal ab und vergrößerte den Ausschnitt auf seinem Monitor. Es sah so aus, als hätte sie einen Gegenstand unter ihrem Talar verborgen gehabt, den sie nun in das Fach unter dem Pult legte.

Der Leiter der Kriminaltechnischen Untersuchung erinnerte sich an seine Ausbilder, vor allem an seinen alten Mentor, der ihm immer wieder eingetrichtert hatte, dass er das Unmögliche denken und annehmen solle, um hinter die Geheimnisse seiner Fälle zu kommen. Er grübelte. Was wäre, wenn Anja Kugler hier den Gegenstand versteckte, nach dem er die ganze Zeit suchen ließ. Den goldüberzogenen Gegenstand, mit dem Schönburg schwer verwundet worden war. Er war überzeugt, dass sie ihn damit verletzt und anschließend den Gegenstand eingesteckt und ihn im Pult deponiert hatte.

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Olivia wusste nicht, wie ihr geschah. Noch während sie in den Pistolenlauf schaute, kam ein Mann auf sie zu, drückte sie gegen die Wand und legte ihr Handschellen an. Sie versuchte sich zu wehren, hatte jedoch keine Chance.

„Kriminalpolizei Mannheim! Bitte lassen Sie mich los!“, schrie sie den Mann an.

Der lachte nur.

„Ja, und wir sind von der Kriminalpolizei Heidelberg!“

Olivia wusste nicht, ob es sich hierbei um einen Scherz handelte oder wirklich um die Kollegen aus der Nachbarstadt. Erst als der Mann sie in Richtung Tür führte und etwas Licht auf sie und ihn fiel, erkannte sie seine Uniform.

„Kommt schon! Wir sind Kollegen. Kriminalhauptkommissarin Olivia von Sassen aus Mannheim. Wir haben hier in einem Fall ermittelt!“, beschwerte sie sich.

„Das kann jeder behaupten. Haben Sie eine Dienstmarke? Nein? Also.“

„Sehr witzig!“, ärgerte sich Olivia, deren Hände hinter ihrem Rücken überkreuzt waren. Sie kam unmöglich an ihren Dienstausweis.

„Hawwe Sie de Oibrescher?“, fragte auf einmal eine Stimme, die sie vorher noch nicht gehört hatte.

„Ja, wir haben sie. Dank wachsamen Menschen wie Ihnen!“

„Ich bin keine Einbrecherin. Wenn Sie mir bitte die Handschellen abnehmen würden, könnte ich mich ausweisen.“ Doch dem Heidelberger Kollegen war das egal. Er und sein Begleiter mit der Pistole bedankten sich bei dem älteren Herrn, der offensichtlich als eine Art Concierge auf die Häuser des Hofes aufpasste. Sie gaben ihm den Generalschlüssel für das Haus zurück und schoben Olivia in Richtung Tor, vor dem ein Einsatzwagen stand.

Wahrscheinlich haben sie Moritz auch erwischt. Oder hat er sich irgendwo im Haus versteckt? Der Einsatzwagen versperrte die gesamte Ingrimstraße. Zum Glück war niemand unterwegs, sonst hätte der Einsatz wahrscheinlich ein Verkehrschaos in der Altstadt und gewaltige Aufmerksamkeit ausgelöst. Einer der Polizisten schob Olivia an den Wagen, öffnete die Tür und setzte sie hinein. Zu ihrer Überraschung fand sie Moritz in bester Laune auf dem Rücksitz vor.

„Olivia!“, rief er aus. Scheinbar war es ihm peinlich, sie vor den Heidelberger Kollegen „Prinzessin“ zu nennen, obwohl ihm das sonst nie peinlich war.

„Moritz!“, entgegnete sie im gleichen Tonfall, weil sie nicht wusste, was sein Aufruf zu bedeuten hatte. Die beiden Polizisten stiegen vorne ein. Neben Moritz saß ein weiterer Beamter.

„Das ist meine Kollegin“, sagte er zu diesem und fuchtelte dabei mit den Händen herum. Ihm waren die Handschellen entweder erst gar nicht angelegt oder schon wieder abgenommen worden.

„Kannst du dir vorstellen, dass das der alte Partner meines alten Partners Fritz Such ist? Wenn ich Euch bekanntmachen darf: Günther Stachowski, Olivia von Sassen.“

„Ihr seid tatsächlich keine Einbrecher?“, bemerkte der Polizist auf dem Beifahrersitz.

„Nein, das ist Moritz Martin aus Mannheim. Die beiden ermitteln hier undercover in einem Mordfall“, erklärte Stachowski.

„Verstehe“, gab der Beifahrer zu.

„Schön für Euch. Jetzt wo wir das geklärt haben, könnte mir vielleicht jemand die Handschellen abnehmen?“

„Selbstverständlich!“

Stachowski griff über Moritz hinweg zu Olivia, die den beiden den Rücken zudrehte, damit der Heidelberger Kollege gut an die Handschellen herankommen konnte. Schließlich war sie befreit.

„Danke!“

„Keine Ursache!“

Sie atmete tief durch und blickte aus dem Fenster. Welche Folgen die Aktion zeitigen würde, war ihr völlig schleierhaft. Immerhin waren sie im Besitz von Meerstadts Daten und konnten diese nach Spuren abgleichen. Gleichzeitig hatten sie gegen mehrere Gesetze verstoßen, an die sich auch die Kriminalpolizei halten musste und das machte Olivia ein bisschen nervös.

„Stachowski, ich muss dich noch um einen Gefallen bitten.“

„Schieß los, Kumpel!“

Olivia befürchtete, dass Moritz ihn nun überreden wollte, den Vorfall zu verschweigen. Es wäre typisch für ihn. Doch auch wenn sie sich wünschte, dass keiner von diesem Einbruch erfahren würde, verlangte sie ihren Moralvorstellungen entsprechend, dass man für Vergehen, die man begangen hatte, auch bestraft wurde. Das galt für Moritz genauso, wie es für sie selbst und für jeden anderen galt.

„Stachowski“, fing Moritz an, „du weißt doch wie die Sachlage ist. Wir haben unsere Information, die wir dringend benötigten. Das war genau genommen kein Einbruch. Wir haben auch nichts zerstört.“

„Du willst, dass wir den Vorfall unter den Teppich kehren?“

„Du sagst es.“

Günther Stachowski schaute nach vorn, um festzustellen, ob seine beiden Kollegen irgendetwas sagen wollten.

„Wir hören nichts, Stachowski, der Motor ist so laut. Is was?“, bemerkte der Fahrer.

Ihr Kollege nickte zufrieden.

„Ich trag dann Fehlalarm ein“, sagte er zu Moritz.

Olivia konnte es nicht fassen. Da regten sich alle über die Korruption in Griechenland und anderen Ländern auf, dabei war es hier in ihrem eigenen Revier auch nicht viel anders.

„Wir sollten das nicht tun!“, beschwerte sie sich bei Stachowski und Moritz.

Die Antwort der beiden kam wie aus einem Mund: „Wir hören nichts, der Motor ist so laut. Is was?“

Olivia wandte sich an den Fahrer.

„Bitte, so können wir das nicht machen!“

Doch auch der Fahrer schien seine Meinung nicht ändern zu wollen.

„Motor … laut … Was?“, brüllte er, „Wo darf ich die Mannheimer Kollegen rauslassen?“

„Nähe Uniplatz“, schoss Moritz heraus.

Olivia gab auf. Sie war zu müde und zu angestrengt, als dass sie noch etwas gegen die vier Kollegen erwidern konnte. Vielleicht war die Vertuschung der Aktion tatsächlich besser. Wenn herauskommen würde, dass zwei Mannheimer Polizisten in Heidelberg einen Einbruch verübt hatten, würde sicher ein Disziplinarverfahren gegen sie eingeleitet werden. Sie würden das Verfahren verlieren und wahrscheinlich auch ihre Position, der Aufklärung der Uni-Morde würde es extrem schaden. Wer weiß, was dort noch alles passierte, wenn sie nicht zügig weiterermitteln konnten. Also schwieg sie schweren Herzens und schaute aus dem Fenster.

Der Fahrer lenkte den Wagen über den Oberen Faulen Pelz, wo sich auch das Heidelberger Gefängnis befand. Komisch, mitten in der Stadt gefangen zu sein, wo all die Touristen hinströmten und sich Studenten und Kneipengänger die Nächte um die Ohren schlugen. Plötzlich fiel ihr der alte Mann wieder ein.

„Und was machen wir mit dem alten Mann, der Euch verständigt hat?“

Günther Stachowski drehte ihr langsam sein Gesicht zu. „Das kriegen wir schon hin. Ich erzähl ihm morgen etwas von einem Ermittlungsfehler in geheimer Mission und absolutem Stillschweigen oder so. Irgendetwas fällt uns schon ein.“

„Aha“, war alles, was Olivia über die Lippen kam.

Der Fahrer stoppte an der Bushaltestelle Peterskirche und ließ die Mannheimer Kollegen aussteigen.

„Danke, Männer!“, verabschiedete sich Moritz. „Wenn Ihr mal in der großen, bösen Stadt Probleme habt, sagt Bescheid!“

„Wo?“, fragte Stachowski augenzwinkernd.

„In Monnem.“

Sie lachten und fuhren grüßend davon.

Olivia hatte nicht übel Lust, mit Moritz zu streiten. Er hatte sie in diese ganze Sache hineingeritten. Und sie? Sie war so blöd gewesen, ihm einfach zu folgen. Das wollte sie sich für das nächste Mal merken. Nein, es sollte kein nächstes Mal mit einer solchen Aktion geben!

Schweigend liefen sie zum Auto. Beide waren tief in Gedanken versunken. Erst als sie den Dienstwagen erreichten, unterbrach Olivia die Stille.

„Schau mal, Moritz, du hast einen Strafzettel!“

Entsetzt rannte er um das Auto herum und griff nach dem Ticket.

„30 Euro? Die Heidelberger haben sie doch nicht alle.“

Olivia lächelte. Wenigstens bekam Moritz eine kleine Strafe ab. Sie beschloss noch etwas Öl ins Feuer zu gießen.

„Ähm, Moritz? Ich glaube, dass die Heidelberger das Ticket nicht einfach so verschwinden lassen können. Die haben dir bereits einen großen Gefallen getan, einen zweiten werden sie dir nicht gönnen.“

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Es war spät in der Nacht, als Olivia und Moritz nach Mannheim zurückkehrten. Sie waren kaputt und müde. Moritz hatte das Steuer des Wagens wieder Olivia überlassen. Sie hatte die Maxi-Version von Kraftwerks „Fahrn, fahrn, fahrn auf der Autobahn aufgelegt“ und genoss die Ruhe um sich herum. Moritz schien zu schlafen, auf der Autobahn war kein Verkehr. Sie hielt sich mit Gedanken an den Fall wach. Mit der einen Hand fasste sie an die Bauchtasche des Hoodie. Die Festplatte war noch da und wartete auf die Auswertung.

„Wir gehen zu mir!“, beschloss sie laut, als sie auf der Höhe des Planetariums am Ende der Autobahn und am Anfang der Stadt angelangt waren. Moritz wurde wach.

„Was? Das ist aber mal eine äußerst direkte Anmache!“, kommentierte er. „Früher wurde man immerhin noch gefragt, ob man einen Kaffee trinken möchte.“

„Du Idiot! Wir müssen die Festplatte auswerten!“

„Lass uns das lieber morgen früh machen. Treffen wir uns gegen 8 Uhr im Polizeipräsidium, dann können wir Klose die Ergebnisse um 9 Uhr präsentieren, wenn er ins Büro kommt.“

„Wenn wir uns um 8 Uhr verabreden, erscheinst du um 8.55 Uhr. Nein, wir machen das jetzt!“

Von der Augustaanlage bog sie links in die Schwetzingerstadt ab, wo ihre Wohnung lag. Sie parkte den Dienstwagen und achtete darauf, dass sie nicht wieder auf einem Privatparkplatz stand. Dann ging sie mit Moritz in ihre Wohnung. Als wäre die Festplatte der Heilige Gral, stellte Olivia sie vorsichtig auf ihren Schreibtisch und schloss sie an ihren Rechner an.

„Ich mach uns beiden Kaffee, während der Rechner hochfährt. Wenn er schneller ist als die Kaffeemaschine, durchsuch schon einmal die Dateien“, bat sie Moritz, der gerade seine Lederjacke vorsichtig über den Schreibtischstuhl legte. Olivia verschwand in die Küche.

Nach fünf Minuten kehrte sie mit zwei Tassen Kaffee zurück und musste feststellen, dass Moritz schlief. Er hatte sich auf ihre alte Couch gelegt und zur Seite gedreht. Sein gleichmäßiges Atmen verriet Olivia, dass er schon tief in Morpheus’ Armen ruhte. Sie nahm eine Decke und legte sie über ihn.

Tja, dann musste sie eben den Kaffee ganz allein trinken. Sie stellte die beiden Tassen auf den Schreibtisch und begann die Dateien durchzuschauen. Nach einer Weile beschloss sie, es sich lieber mit dem Notebook im Bett bequem zu machen und dort weiterzusuchen, immerhin war sie verdammt lange auf den Beinen gewesen. Sobald sie sich in die weichen Kissen sinken ließ, fiel die ganze Last des schweren Tages von ihr ab und sie begann allmählich, sich zu entspannen. Obwohl sie merkte, dass ihr Körper schlafen wollte, zwang sie sich, die Dateien weiter zu durchsuchen. Es war ein mechanisches Suchen, eigentlich nahm sie schon gar nicht mehr richtig wahr, was da auf dem Bildschirm auftauchte. Als sie tatsächlich irgendwann auf einen Dateiordner stieß, der „Schönburg“ hieß, war sie froh, hatte aber keine Kraft mehr weiterzumachen und schlief tief und fest ein.

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Auch der Schatten war noch wach. Er grübelte, ob es notwendig sein würde, noch einen dritten Menschen zu töten, um sein Geheimnis zu bewahren. Unruhig war er deshalb den ganzen Abend auf und ab gegangen. Schließlich fasste er den Entschluss, zu warten und herauszufinden, was dieser dritte Mensch wusste. Wenn er sein Geheimnis nicht kannte, würde er ihn am Leben lassen. Nicht, weil er Angst vor dem Töten hatte oder jemanden verschonen wollte, er mochte nur keinen Fehler machen, der die Polizistin und ihren Kollegen auf seine Spur brachte.

Die Schattengestalt leerte den Rest ihres Weinglases in einem Zug. Als sie schließlich so müde war, dass sie sich hinlegen musste, ging sie zu Bett und schlief sofort ein. Doch auch im Traum beschäftigte sie sich mit den Ereignissen der letzten Tage. Ihr kamen immer wieder die Bilder der vergangenen Stunden hoch. Sie sah, wie hilflos Schönburg vor ihr gelegen und wie er ihr in die Augen geschaut hatte, als sie ihn aus dem vierten Stock stieß. Dann sah sie den gierigen Hausmeister neben sich auf der Kirchenbank sitzen. Er wollte Geld vom ihr. 10.000 Euro. Das war zwar viel Geld, aber es war keine Summe, für die man sein Leben riskieren sollte. Der Hausmeister tat es trotzdem. Und er verlor nicht nur das Geld, sondern auch sein Leben. Wie töricht von ihm.

Der Hausmeister hatte wohl keine Ahnung, auf wen und was er gestoßen war. Er hatte auch keine Ahnung, wie entschlossen sie war, sein Geheimnis auch vor ihm zu verteidigen. Die Gier hatte den Hausmeister blind gemacht. Erst als sie deutlich machte, dass sie ihm keinesfalls das Geld geben werde und es ihr todernst damit war, ihr Geheimnis zu hüten, hatte Beck scheinbar gemerkt, auf welches Spiel er sich eingelassen hatte. Er hatte sich ganz gewaltig verspekuliert.

Seinem Blick nach zu urteilen, waren die zwei Sekunden vor seinem Tod die zwei klarsten Sekunden im Leben des Hausmeisters gewesen. Beck musste schließlich erkannt haben, mit wem er sich angelegt hatte. Er musste gewusst haben, was der Schatten tun würde und dass ihm keine Zeit mehr blieb, sich dagegen zu wehren. Er hatte sich dem Schatten und seinem eigenen Schicksal hingegeben.

Die Schattengestalt wachte wieder auf und lag eine Weile wach. Nein, es war noch nicht zu spät, sie konnte noch herausfinden, ob ihr Geheimnis der dritten Person bekannt war.